waren ja in London, wie ich annehmen konnte, und mein Vater würde sich wohl mit der Zeit haben erweichen lassen. Wenn es so gewesen wäre, dann würde ich erst einen deutlichen Begriff von meiner verlassenen Lage bekommen haben. Daß ich aber das Glück hatte, mit so liebenswürdigen Leuten wie Doktor Vimpany und seiner Gattin zusammenzutreffen, war es für ein so verlassenes, freundloses Wesen, wie ich bin, eine wahre Wohlthat – gar nicht zu reden von dem großen Vorteil, den diese Liebenswürdigkeit Rhoda bot, welche von Tag zu Tag sich zusehends erholte. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Mrs. Vimpany sehen könnten; vielleicht ist sie zu Hause. Sie ist ein wenig förmlich und altmodisch in ihren Manieren – aber ich glaube bestimmt, daß sie Ihnen gefallen würde. O, sehen Sie sich nur einmal hier im Zimmer um! Sie sind arm, fürchterlich arm für Leute in ihrer Stellung, meine würdigen, braven Freunde. Ich habe die größte Schwierigkeit gehabt, bis sie mir nur gestatteten, meinen Teil zu den Haushaltungskosten beizusteuern. Sie willigten erst dann ein, als ich drohte, ich würde in den Gasthof gehen. Sie sehen aber so ernst aus, Hugh. Ist es denn möglich, daß Sie irgend etwas Unrechtes darin finden, daß ich mich hier in diesem Hause aufhalte?«
Die Thüre des Empfangszimmers wurde leise geöffnet, gerade in dem Moment, als Iris diese Frage stellte. Eine Dame erschien auf der Schwelle. Als sie den Fremden erblickte, wendete sie sich an Iris.
»Ich wußte nicht, meine liebe Miß Henley, daß Sie Besuch hatten. Entschuldigen Sie daher mein Eintreten.«
Die Stimme war tief; die Aussprache war deutlich; ihr Lächeln zeigte eine bescheidene Würde, welche ihr ein gewisses Selbstbewußtsein verlieh. Iris hielt sie zurück, als sie eben im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.
»Ich habe soeben den Wunsch ausgesprochen, daß Sie zu Hause sein möchten,« sagte Miß Henley. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen alten Freund, Mr. Mountjoy, vorstelle. Hugh, das ist die Dame, welche so außerordentlich liebenswürdig gegen mich gewesen ist – Mrs. Vimpany.«
Hugh beabsichtigte, unter diesen Umständen eine Verbeugung zu machen und der Dame des Hauses die Hand zu geben. Mrs. Vimpany begegnete diesem freundlichen Entgegenkommen mit einer außerordentlichen Zierlichkeit in ihren Bewegungen, wie sie nicht oft in unseren Tagen, die so wenig auf Zeremonien geben, gesehen wird. Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren, aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen, heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen Zustand zu erkennen. Ein dünner Spitzenkragen umschloß ihren Hals und fiel in dürftigen Falten über ihre Schultern herab.
Sie ließ sich in einen Stuhl an Iris' Seite nieder.
»Es gereichte mir zum großen Vergnügen, Mr. Mountjoy, meine geringfügigen Dienste Miß Henley anbieten zu können,« sagte sie; »ich vermag gar nicht auszudrücken, wie glücklich mich ihre Gegenwart in unserem kleinen Hause macht.«
Das Kompliment war an Iris gerichtet in einem äußerst liebenswürdigen Ton und mit einem Lächeln in dem Gesicht, so freundlich sie es hervorzubringen vermochte. So wunderlich und gekünstelt, wie es unzweifelhaft war, machte das Benehmen der Mrs. Vimpany nichtsdestoweniger einen angenehmen Eindruck. Mountjoy war zuerst geneigt gewesen, ihr mit Mißtrauen zu begegnen, fand aber während des Gespräches, daß sie es verstanden hatte, eine günstige Aenderung seiner Meinung betreffs ihrer Person herbeizuführen. Sie interessirte ihn jetzt so, daß er begann, neugierig zu werden, wie ihr Leben wohl gewesen sei, als sie noch jung und hübsch war. Er betrachtete wieder die Bilder der Schauspielerinnen an den Wänden und die Bücher auf dem Bücherbrett, und dann warf er, während sie mit Iris sprach, verstohlen einen listigen Blick auf die Dame des Hauses. War es denn möglich, daß diese merkwürdige Frau einstmals eine Schauspielerin gewesen war? Er versuchte, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, indem er eine liebenswürdige Bemerkung über die Bilder machte.
»Meine Erinnerungen als Theaterbesucher reichen nicht weit zurück,« begann er, »aber Ihre schönen Bilder erregen in mir ein historisches Interesse.«
Mrs. Vimpany machte eine graziöse Verbeugung, sagte aber nichts. Hugh Mountjoy versuchte daher zum zweitenmale sein Glück.
»Man sieht nicht oft die berühmten Schauspielerinnen vergangener Tage,« fuhr er fort, »in so guten Darstellungen und Bildern an den Wänden eines englischen Hauses.«
Diesmal hatte er mit seinen Worten einen besseren Erfolg, denn Mrs. Vimpany antwortete ihm: »Ich stehe in vielerlei angenehmen Verbindungen mit dem Theater, die schon aus meinen Mädchenjahren herrühren.«
Mountjoy erwartete, nun noch mehr zu hören, aber es wurde nichts weiter gesagt. Vielleicht blickte die verschwiegene Dame nicht gern auf jene Zeit zurück nach einer so langen Reihe von dazwischenliegenden Jahren, oder sie hatte vielleicht auch ihre Gründe, Mr. Mountjoys Verlangen nach der Wahrheit nicht zu befriedigen. Auf jeden Fall ließ sie mit Absicht dieses Gesprächsthema fallen; Iris nahm es jedoch wieder auf. Sie saß an dem einzigen Tisch in dem Zimmer und befand sich so gerade gegenüber einem der Bilder – dem ausgezeichneten Porträt der Mrs. Siddons als tragische Muse.
»Ich möchte wohl wissen, ob Mrs. Siddons wirklich so schön gewesen ist wie auf diesem Bild,« sagte sie, indem sie auf das Gemälde zeigte. »Sir Josua Reynolds soll, wie man sich erzählt, seinen Originalen sehr geschmeichelt haben.«
Mrs. Vimpanys große, selbstbewußte Augen erstrahlten plötzlich in höherem Glanz; der Name dieser großen Schauspielerin schien ihr Interesse zu wecken, aber im Begriff, wie es schien, zu sprechen, ließ sie den Gegenstand ebenso fallen wie vorher bei dem allgemeineren Gespräch über das Theater. Mountjoy konnte nicht umhin, selbst Iris zu antworten.
»Keines von uns ist alt genug,« erinnerte er sie, »um zu entscheiden, ob Sir Josua Reynolds' Pinsel sich der Schmeichelei schuldig gemacht hat oder nicht.«
Darauf wendete er sich wieder an Mrs. Vimpany und versuchte es nun auf einem andern Weg, einen Einblick in ihr früheres Leben zu gewinnen.
»Als Miß Henley so glücklich war, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er, »waren Sie auf einer Reise in Irland begriffen. War dies Ihr erster Besuch in diesem unglücklichen Lande?«
»Ich bin mehr als einmal in Irland gewesen.«
Nachdem sie so wiederum mit voller Ueberlegung die Erwartungen Hugh Mountjoys getäuscht hatte, wurde sie jetzt durch eine rechtzeitige Unterbrechung von der Weiterfortsetzung des Gespräches befreit. Es war die Stunde, wo die Nachmittagspost abgeliefert zu werden pflegte. Das Dienstmädchen trat in das Zimmer mit einem kleinen versiegelten Paket und hatte außerdem noch ein bedrucktes Papier in der Hand.
»Es ist eingeschrieben, Frau Doktor,« sagte das Mädchen. »Der Postbote bittet Sie, den Zettel zu unterschreiben. Er scheint Eile zu haben.«
Sie legte das Paket und das Blatt Papier auf den Tisch in die Nähe des Tintenfasses. Nachdem Mrs. Vimpany den Schein unterzeichnet hatte, nahm sie das Paket in die Hand und sah nach der Adresse. Sofort blickte sie zu Iris hin und wendete dann ebenso schnell ihre Augen wieder weg.
»Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« sagte sie und verließ rasch das Zimmer, ohne das Paket zu öffnen.
In dem Moment, als sich die Thür hinter ihr schloß, sprang Iris auf und eilte zu Mountjoy hin.
»O Hugh,« sagte sie, »ich sah die Adresse auf dem Paket, als das Dienstmädchen es auf den Tisch legte.«
»Was kann Sie denn an dieser Adresse so erregen, liebe Iris?«
»Bitte, sprechen Sie nicht so laut! Sie horcht vielleicht vor der Thür.«
Nicht nur die Worte, sondern auch