Helga Henschel

Tödlicher Glitzer


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Arbeiten ab. Er konnte immer auf sie zählen.

      „Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.“

      Diese nichtssagenden Sätze und Phrasen klangen abgedroschen und hohl. Er fühlte sich unwohl dabei. Doch dafür musste er sich in den nächsten Wochen höflich bedanken. Das kam ihm irgendwie unecht vor. Aus diesem Dilemma fand er aber kein Schlupfloch. Wollte er seinen mittrauernden Freunden und Bekannten nicht vor den Kopf stoßen, musste er einfach mitmachen. Seine Umwelt verlangte es von ihm.

      „Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte Frau Hempel in seine Überlegungen hinein.

      „Das können Sie. Sagen Sie bitte die Termine für morgen ab. Am besten für die ganze nächste Woche. Ich bleibe zu Hause und kümmere mich um die Beerdigung. Damit habe ich genug zu tun. Ich könnte sowieso nicht mit Kunden sprechen“, bat er Frau Hempel.

      „Aber natürlich. Ich mache Ihnen die nächste Woche frei“, erwiderte sie. „Ich bin hier im Büro, wenn etwas sein sollte.“

      „Danke, Frau Hempel. Auf Wiederhören.“

      „Auf Wiederhören, Herr Pielhop.“

      Den ersten Punkt konnte er von seiner umfassenden Liste streichen. Und nun kam das Familienbuch an die Reihe. Wo hatte Elvira das hingelegt? Er dachte angestrengt nach. Wo liegen unsere wichtigen Unterlagen? Hatte sie dafür einen bestimmten Platz? Lag es vielleicht im Wohnzimmerschrank? In ihrem Schreibtisch? In der Kiste mit Dingen, die nicht verloren gehen durften, aber im Haus keinen richtigen Platz fanden? Elvira hatte immer „Schurrimurri“ dazu gesagt, wie er sich schmunzelnd erinnerte.

      Doch bevor Georg die Suche startete, stand er auf, holte sich ein kleines Glas und die Sherry Flasche aus der Bar. Alkohol als Problemlöser am Nachmittag war gegen seine sonstigen Gewohnheiten, aber er brauchte etwas Starkes. Er schenkte das Glas bis an den Rand voll, sodass es fast überschwappte und nahm einen großen Schluck. Der trockene Sherry rann in seiner Kehle hinunter und verursachte im Magen ein angenehmes Gefühl. Er spürte der wohltuenden Wärme des Sherrys nach und lehnte sich zurück.

      Das Telefon klingelte. Sollte er das Gespräch annehmen? Eigentlich wollte er mit keinem Menschen reden. Er ließ es klingeln und der Anrufbeantworter sprang zuverlässig an. Seine Schwiegermutter war in der Leitung und sie machte ihm arge Vorwürfe, dass er sie einfach so in der Klinik hatte sitzen lassen.

      „Ich will dir doch helfen, Georg.“

      Piep. Das Band war zu Ende. Sie konnte ihm keine weiteren Vorhaltungen mehr machen. Wie liebte er diesen harmlosen Piep. Ein simpler Ton auf dem Anrufbeantworter hielt ihm Unangenehmes vom Leib. Georg war froh, dass er nicht abgehoben hatte und seine Schwiegermutter nur vom Band hören musste. Er wusste genau, dass sie sich wohl kaum in ihren Wagen setzen und zu ihm fahren würde. Elvira war nicht mehr hier. Der Weg war ihr von Anfang an zu weit gewesen. Mehr als einmal hatte sie sich darüber beklagt, dass er sein Haus soweit außerhalb, geradezu auf dem Dorf in der Einöde, gebaut hatte. Das war völlig übertrieben. Er hatte sich ein Haus am Rande von Worpswede gebaut. Ihm dagegen gefiel es hier, Bushaltestelle vor der Tür, sein Büro in der Nähe und Geschäfte lagen nahe. Und eine direkte Straße führte nach Bremen. Und wenn es seiner Schwiegermutter zu mühsam war, umso besser. Dann blieb sie ihm vom Hals.

      Wo war er stehen geblieben? Das Familienbuch musste er für den Bestatter suchen. Georg sah an den infrage kommenden Stellen nach. Wie er feststellte, war die Suche für sein neues Leben ohne Elvira gut. Denn er entdeckte so manche wichtige Unterlage, die er vermutlich irgendwann dringend brauchen würde. Endlich fand er das Familienbuch. Ohne dieses Buch war ein Mensch nicht existent. Auch nach dem Tod eines Erdenbürgers waren die Urkunden noch erforderlich. Befremdlich. Georg entdeckte das Buch in einer Schublade im Wohnzimmerschrank. Elvira war ordentlich und korrekt gewesen, dass musste er ihr posthum lassen. Ob das bei ihm ebenso der Fall wäre? Eher nicht, denn er musste sich immer zusammenreißen, um seine Sachen ordentlich abzuheften. Im Büro übernahm das seine gewissenhafte Frau Hempel, aber hier in seinem Haus musste er nun dafür Sorge tragen.

      Nun fehlte nur noch der Personalausweis und der war bestimmt in ihrer Handtasche. Vielleicht in der Geldbörse? Aber wo war ihre Handtasche? Wegen ihrer Krankheit verlor Elvira zuletzt das Interesse an ihrem Äußeren. Dabei liebte sie Handtaschen in allen Formen und Farben. Früher wäre sie nie ohne passende Tasche vor die Haustür gegangen. Krankheit veränderte eben die Eigenheiten eines Menschen. Georg ging in ihr hübsch eingerichtetes Zimmer und schaute sich sorgsam um. Dort lag eine Handtasche. Das Wintermodell wie sie ihr liebstes Stück von einer Berliner Designerin immer genannt hatte, in Braun passend zu ihrem Wintermantel. Er schüttelte den Inhalt der Tasche kurzerhand auf das schon lange nicht mehr benutzte Bett und langte nach der Geldbörse. Er hatte Glück, der Ausweis steckte in einem Fach. Nun waren alle wichtigen Unterlagen für den Bestattungsunternehmer zusammen.

      Elviras Zimmer wird zukünftig unbewohnt sein. Der Gedanke schoss ihm schlagartig durch den Kopf. Sollte er ihr Zimmer ausräumen, alles weg, Möbel und Kleidung? Nicht sofort. Dafür fehlte ihm aktuell die nötige Energie. Später. Er spürte Sehnsucht nach seiner Frau. Sollte er das Haus verkaufen oder vermieten? Es war schon zu groß für sie beide gewesen. Und nun sollte er alleine darin wohnen? Entscheide ich später und schlurfte mit den Unterlagen in den Händen aus dem Zimmer und schloss die Tür.

      Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer kam er an seinem Schlafzimmer vorbei und spürte plötzlich eine unsägliche Müdigkeit aufkommen.

      Was soll es, ich kann machen, was ich will, dachte er. Ich kann schlafen, wann und wie lange ich möchte.

      Georg schleppte sich in seinen Schlafraum und ließ sich auf sein ungemachtes Bett fallen. Das Bettenmachen am Morgen entfiel schon lange und er empfand es als reine Zeitverschwendung. Er wurschtelte die Bettdecke unter sich heraus und deckte sich damit zu. Schlafen, entspannen, kein Grübeln, kein Nachdenken - die Krankheit Elviras hatte ein Ende gefunden.

      In der Nacht wachte er abrupt auf und spürte in seiner Kehle Trockenheit. Er musste fürchterlich geschnarcht haben, richtig ausgedörrt. Verwundert rieb er sich die Augen, Dunkelheit umgab ihn. Er pellte sich aus der Bettdecke und knipste die Lampe auf dem Nachtschrank an. Wie lange hatte er geschlafen? Er schaute auf den Wecker. Der Zeiger ging auf Mitternacht zu. Erstaunt stand er auf und blickte an sich hinunter. Er trug noch die müffelnden Sachen vom Tag. Elvira war tot, kam die Erinnerung. Er sackte zusammen und blieb apathisch sitzen.

      Ich muss loslassen, mein Leben verändert sich gerade abrupt. Nichts ist mehr so wie gestern, dachte er.

      Bei aller Trauer über seinen Verlust fühlte er dennoch ein Hungergefühl in der Magengegend. Er zog seine bequemen Hausschuhe unter dem Bett hervor und machte sich auf den Weg zur Küche. Hoffnungsvoll öffnete er den Kühlschrank. Enttäuscht schloss er wieder die Tür. Mehr als kümmerliche Reste hatte der nicht zu bieten. Also bereitete er sich wieder seine zwei Scheiben Schwarzbrot mit Wurst und Käse zu. Appetit verspürte er auf Bier und holte sich eine Flasche Pils aus dem Vorratsraum. Im Stehen öffnete er den Verschluss und setzte die Flasche an die Lippen. In einem Zug trank er die Hälfte aus und setzte sich zufrieden an den Tisch. Im Wohnzimmer zu essen, erschien ihm zu umständlich. Er würde sowieso gleich wieder in seinem warmen Bett verschwinden. Ob er weiterschlafen konnte? Oder sollte er den Fernseher einschalten? Keine Lust. Er mümmelte sein Brot und trank das würzige Bier aus. Dabei sah er sich in der Küche um und blickte auf herumstehendes benutztes Geschirr, der Mülleimer quoll über und aus der unteren Schublade schaute Altpapier. Für Ordnung gesorgt hatte sonst immer Elvira oder seine Schwiegermutter. Nun musste er sich um solche Haushaltsdinge kümmern.

      „Aber nicht sofort“, sagte er. „Erst schlafe ich.“

      Satt wankte er ans Bett, zog seine Kleidung aus und schlüpfte in den Schlafanzug. Er schlief tief und fest, bis der Wecker um sieben Uhr am Morgen klingelte.

      Dienstagmorgen 7. April

      Georg saß im Schlafanzug und Morgenmantel am Küchentisch und aß genüsslich Toast mit Butter und Marmelade. Dazu trank er eine Kanne Ostfriesen-Tee. Die Tageszeitung lag auf dem Tisch und er blätterte wahllos, ohne einen Artikel richtig zu lesen. Georg fühlte