»Und doch haben sie nur noch eine Nacht zu leben. Sie sollen an den Galgen.«
Ein Schrei des Entsetzens erklang aus aller Munde. Im selben Moment stiegen prasselnd die ersten Raketen des Feuerwerks über die dunkeln Baumwipfel empor. – »Meine Herren,« sprach Fouquet in dumpfem Tone, »Colbert hat meine beiden Freunde verhaften und zum Tode verurteilen lasten. Eben stellt man die Galgen auf dem Grèveplatze auf. Was soll ich tun?« – »Wir hauen Colbert in Stücke!« rief der Abbé. – »Sie müssen mit Seiner Majestät reden,« sagte Pelisson. – »Die Hinrichtung darf nicht stattfinden,« ließ sich Chanost, der Schwiegersohn des Ministers, vernehmen. – »Man muß den Gouverneur der Bastille bestechen,« meinte Gourville. »Er kann in dieser Nacht noch die Gefangenen entkommen lassen.«
Fouquet drehte sich um. »Laß wieder anspannen, Gourville!« rief er. »Wir fahren nach Paris. Pelisson kommt mit. Erwarten Sie mich hier, meine Herren!« Und mit Gourville und Pelisson hinwegeilend, murmelte er: »Für eine Million wird er zu haben sein.« – »Und sind die Gefangenen entkommen,« setzte Pelisson hinzu, »so versammeln wir alle Feinde Colberts und beweisen dem König, daß diese geheime Justizkammer eine Uebertreibung ist, die ihm selbst ebenso gefährlich werden kann wie uns.« – Im selben Augenblick fiel ein Funkenregen des Feuerwerks auf einen nahen Wald, und ein paar Bäume gerieten in Brand. Geigenspiel unterbrach die nächtliche Stille.
Die Pferde brausten wie ein Sturmwind davon. Kein Hindernis stellte sich ihnen entgegen. Sie fuhren in die Stadt und brauchten auf den zu so später Stunde menschenleeren Straßen kaum ihre Geschwindigkeit zu verringern. Vor der Conciergerie machten sie halt. Denn da es bis zur Hinrichtung, die am frühen Morgen stattzufinden hatte, nur noch wenige Stunden waren, so mußten die Verurteilten inzwischen schon von der Bastille nach der Conciergerie, dem letzten Aufenthaltsort aller Delinquenten, geschafft worden sein. Man traf den Gouverneur der Conciergerie noch wach, er schritt im Hofe auf und ab und begrüßte den Minister mit dem Hut in der Hand. – »Welche Ehre für mich, gnädigster Herr!« sagte er, sich verbeugend. – »Ein Wort, Herr Gouverneur. Ich komme, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten,« begann Fouquet ohne Umschweife, wie ein Mann, der gewohnt ist, gerade aus sein Ziel loszugehen, weil er sich im Besitz sicherer Mittel weiß, es zu erreichen. »Um eine Gefälligkeit, die kompromittierend ist, von mir aber mit Gold aufgewogen wird. Ich biete Ihnen für zwei Ihrer Gefangenen eine Million. Lasten Sie in dieser Nacht die Herren Lyodot und d'Eymeris entweichen.«
Der Beamte zuckte die Achseln. »Die sind nicht mehr hier,« antwortete er. – Fouquet wurde totenbleich. – »Was sagen Sie?« – »Die beiden Gefangenen sind seit einer Viertelstunde fort. Man hat sie auf Befehl des Königs in den Schloßturm von Vincennes gebracht.« – Fouquet sprach kein Wort weiter. Er rannte zum Wagen zurück und warf sich stöhnend in die Polster. »Unsere Freunde sind verloren,« rief er. »Colbert hat sie in den Turm von Vincennes gesperrt.« – Pelisson war wie vom Donner gerührt. »Wohin nun?« fragte er. – »Sie fahren nach Saint-Mandé zurück und schicken mir meinen Bruder her. Er soll so rasch wie möglich in meinen Pariser Palast kommen,« antwortete Fouquet.
Es war schon späte Nacht, als der Abbé zu seinem Bruder kam. Fouquet ging in rasender Ungeduld auf und nieder, Gourville versuchte umsonst ihn zu beruhigen. »Abbé,« rief der Oberintendant seinem Bruder entgegen, »du sprachst von gewissen Leuten, die in deinem Solde stehen. Kannst du auf sie zählen?« – »Sie stecken Paris für mich in Brand,« antwortete der Abbé. – »Höre, was ich verlange,« fuhr Fouquet fort, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »versammle deine 120 Mann, Abbé, und halte sie morgen, Punkt zwei Uhr, auf der nach Vincennes führenden Straße kampfbereit.« – »Ich errate es,« unterbrach ihn der Bruder. »Lyodot und d'Eymeris sollen entführt werden. Es wäre aber wirklich besser, man ließe dem König diese kleine Genugtuung und verhielte sich ruhig.« – »Das geht nicht. Der Tod dieser beiden wäre ein Vorspiel meines Ruins,« versetzte der Oberintendant. »Wenn ich aber falle, so fällst du, so fallt ihr alle. Sie müssen gerettet werden. Und du sollst sie dem Feinde entreißen, wird sich's machen lassen?« – »Selbstverständlich,« antwortete der andere. »Es ist ja ganz einfach. Die Wache bei Hinrichtungen besteht gewöhnlich aus 12 Mann. – »Sie wird morgen aus 100 bestehen,« warf der Minister ein. – »Darauf bin ich gefaßt,« fuhr der kriegerische Pfaffe fort. »Ich nehme sogar an, zweihundert. Allein unter einer Menge von Zuschauern sind immer 10 000 Banditen, die auf eine Gelegenheit zum Losschlagen und Plündern warten, die sich nur nicht getrauen, den Anfang zu machen. Meine 120 Mann werden also morgen auf dem Grèveplatz Hilfstruppen finden. Die Gefangenen bringen wir in ein Haus. Einige der Häuser haben zwei Ausgänge, und ich kenne im besondern eins ganz genau, das einen zweiten Ausgang nach dem Baudoyerplatze hat. Es ist ein gut besuchtes Gasthaus. »Notre-Dame« nennt es sich. Nun, die Gefangenen gehen zur einen Tür hinein, zur andern hinaus.« – »Das ist eine gute Idee. Gourville, zahlen Sie dem Abbé 100 000 Livres, damit er seine Leute in die nötige Stimmung versetzen kann. Gilt es doch, gegen den König zu kämpfen, und in einem solchen Kampfe will man auch siegen.« – »Gnädigster Herr,« antwortete Gourville. »wenn es herauskommt, legt man uns den Kopf vor die Füße.« – »Mein Kopf sitzt noch fest auf den Schultern,« rief Fouquet stolz. – »Man wird den wahren Zusammenhang nicht durchschauen,« sagte der Abbé. »Ich lasse meine Leute rufen: ›Es lebe Colbert‹, und dann sollen sie über die Verurteilten herfallen, als wenn sie sie in Stücke zerreißen wollten.« – »Das läßt sich hören,« stimmte Gourville bei. »Sie haben eine reiche Phantasie, Herr Abbé.« – »Wenn es gilt, die Familienehre zu retten,« versetzte der Abbé, sich in die Brust werfend.
5. Kapitel. Der Kampf auf dem Grèveplatze
D'Artagnan hatte sich reisefertig gemacht und von seinem Freunde Athos Abschied genommen. Gemäß der Einteilung, die er sich für die ihm bis zum Aufbruch noch übrigen Stunden zurechtgelegt hatte, begab er sich nun, begleitet von Rudolf, mit dem er ein paar Tagereisen zusammen machen wollte, nach dem Wirtshause ›Notre-Dame‹, um von seinem Pächter den fälligen Mietszins einzukassieren. Er hatte gehört – denn die Ausrufer hatten es in der ganzen Stadt verkündet – daß zwei betrügerische Finanzpächter, zwei Erzdiebe und Halsabschneider, am frühen Morgen dieses Tages auf dem Grèveplatz vom Leben zum Tode befördert werden sollten, und wollte nun diese günstige Gelegenheit, die sicherlich seinem Pächter eine volle Gaststube verschaffen würde, benützen, sich sein Geld von ihm zahlen zu lassen. Als der Chevalier und Rudolf auf dem Grèveplatz anlangten – es war gegen halb 2 Uhr nachts – wimmelte es dort schon von Menschen, und es war schwer vorwärtszukommen. Sie bahnten sich mit Ellbogen und Degengefäß mühsam einen Weg durch die Kopf an Kopf gedrängte Menge und erreichten endlich den Eingang zu dem Wirtshaus ›Notre-Dame‹.
Der Chevalier musterte mit Befriedigung die vollen Bänke. »Da hat der Wirt keinen Vorwand,« sagte er zu Rudolf, »mir die Pacht nicht zu zahlen. Volles Haus, volle Börse.« – »Und all dieses Volk ist nur da, um zwei arme Kerle baumeln zu sehen. Pfui Teufel!« murmelte Rudolf. – D'Artagnan hielt den Wirt, der geschäftseifrig hin und her lief, am Schürzenzipfel fest. – »Ah, Sie sind's, Herr Chevalier!« rief der Mann. »Nur einen Augenblick! Hier sind hundert durstige Seelen – ich kann nicht genug herbeischaffen. Ihr Pachtgeld liegt oben, aber in dem Zimmer sitzen auch dreißig Kumpane, die seit heute früh ein Fäßchen Portwein ausgetrunken haben. Eine Minute, Herr Chevalier!« – »Ich gehe fort,« sagte Rudolf, »das alles ist mir zuwider.« – »Du bleibst, Junge,« versetzte d'Artagnan. »Ein Soldat muß sich an alles gewöhnen. Ein jugendliches Auge muß sich abhärten. Wir treten dort in den Hof unter den hohen Baum, da haben wir frische Luft.«
Hätte der Chevalier sich als Vorposten aufstellen wollen, so hätte er keinen günstigeren Platz wählen können. Von hier aus entging ihnen nichts – ja, sie hörten jeden Ausruf, sahen jede Gebärde der Zecher im Gasthause. – »Die Delinquenten werden gleich kommen,« sagte Rudolf. »Sie haben den Wirt wieder laufen lassen, und wir werden nun doch warten müssen, bis die Hinrichtung vorüber ist. Das ist mir gar nicht lieb. Ich sehe so etwas nun einmal nicht gern.« – »So schau nach der andern Seite,« sagte d'Artagnan und betrachtete mit argwöhnischem Blick einen kriegerisch aussehenden Mann, der eben an ihnen vorbeischritt und in das Gasthaus trat. Das Schreien und Toben drinnen hörte auf, die Zechenden scharten sich