Lucia Bolsani

Tosh - La Famiglia


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so aussah, dass der künftige Chef einem die Selbstmordabsichten ausredet, ist das eben kein normales Arbeitsverhältnis mehr.

      Vielleicht sind wir im Laufe Zeit sogar so etwas wie Freunde geworden. Sicher kann ich das nicht sagen, ich habe keine Erfahrung mit Freunden. Und Georg auch nicht.

      »Ich dachte, ich schau mir das noch mal genauer an mit den EU-Subventionen«, versucht der nun, das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken.

      Ich winke ab. »Lass mal, ich muss den Deal eh erst mit Carlo besprechen, bevor wir loslegen. Aber ich könnte deine Hilfe in einer anderen Sache brauchen.«

      »Dann kannst du dich ja jetzt bedanken, dass ich immer noch hier bin, anstatt mir den Schwanz lutschen zu lassen.«

      Sieh an, Georg kann ja richtig frech werden. Anderseits ist mir gerade nicht nach weiteren Scherzen zumute. »Minnie ist weg«, sage ich düster.

      »Wie, weg?« Georg guckt mich verblüfft an.

      »Sie ist Wladimir abgehauen. Keine Ahnung, wie die Schlampe das geschafft hat. Und ihr Timing ist natürlich wieder einmal perfekt. Gerade heute konnte ich es echt nicht brauchen, dass diese blöde Nutte hier den Aufstand probt - das Treffen mit dem Gieseke stand an und es musste reibungslos über die Bühne gehen.«

      »Soll das heißen, sie war hier, im Blue Parrot? Aber die Türsteher haben doch klare Anweisungen, was Minnie angeht?«

      Ich frage mich, ob Georg sich heute vielleicht doch schon das Hirn rausgevögelt hat, so begriffsstutzig, wie er ist. »So schlau war die Bitch selber. Deswegen ist sie hintenrum rein.«

      Es gab schließlich eine Zeit, da ist Minnie hier ein- und ausgegangen. Nicht alle unsere Besucher möchten beim Betreten des Blue Parrot gesehen werden. Weswegen sowohl ein diskreter Hintereingang als auch eine verborgene Kellertreppe existieren. Daran hatte sich ihr drogenumnebeltes Gehirn wohl noch erinnern können.

      »Zum Glück ist sie direkt Hugo in die Arme gelaufen. Der sollte sie eigentlich hübsch verschnürt wieder an Wladimir übergeben und es dem überlassen, ihr Manieren beizubringen. Stattdessen haut sie Hugo ebenfalls ab und rennt im dichtesten Feierabendverkehr quer über den Mittleren Ring davon.«

      Was man halt so macht, wenn sich das letzte bisschen Verstand längst verabschiedet hat.

      »Jedenfalls dachte ich, du könntest mal nachsehen, ob die Bullen was über ein Unfallopfer oder eine Drogentote haben.«

      Denn wenn sie den Sprint über die stark befahrene Straße überstanden hat, wird Minnie bald einen Schuss wollen. Und wenn da kein Wladimir ist, der aufpasst, was und wie viel sie sich spritzt, kann das schnell schiefgehen.

      »Klar, das haben wir gleich«, sagt Georg zuversichtlich.

      Seit Neuestem setzt er sich gar nicht mehr an einen Computer, sondern erledigt solche Anfragen mit seinem Tablet, auf dem er auch diesmal eifrig herumwischt und tippt, während seine Blicke über den kleinen Bildschirm huschen.

      Solange Georg beschäftigt ist, denke ich an das letzte Mal, als Minnie Zicken gemacht hat. Da durften ein paar Jungs ihre versauten Fantasien an ihr ausleben. Dann war für eine Weile Ruhe, bis jetzt. Was muss ich mir eigentlich noch einfallen lassen, damit sie endlich spurt?

      »In den Krankenhäusern ist sie nicht«, gibt Georg den Zwischenstand seiner Suche bekannt.

      Ich nicke. Minnie sieht ziemlich auffällig aus und ist deshalb leicht aufzuspüren. Georg hämmert weiter auf sein Tablet ein, während ich gedankenverloren den breiten Silberring an meinem linken Zeigefinger drehe und mir vorstelle, was dieser in Minnies Gesicht anrichten würde.

      »Sie ist bei der Polizei«, meldet sich Georg wieder.

      »Wie bitte?«

      Nicht, dass Minnie irgendetwas weiß, was mir oder dem Boss schaden könnte, aber gerade jetzt kann ich keine Bullen brauchen, die hier herumschnüffeln.

      »In Polizeigewahrsam«, erklärt Georg. »Sie hat offenbar am Gärtnerplatz Theaterbesucher belästigt …«

      Angeschnorrt, vermute ich.

      »Die Beamten haben ihr einen Platzverweis erteilt. Als sie dem nicht nachkommen wollte, wurde sie in Gewahrsam genommen. Polizeistation 11. Ausweisen konnte sie sich nicht, allerdings hat sie ihren Namen genannt und die Beschreibung passt auch.«

      »Sehr gut!« Ich klopfe Georg auf die Schulter, was ihn zusammenzucken lässt. »Jetzt aber raus hier und lass es dir von deiner Anna ordentlich besorgen!«

      »Was?« Er sieht mich an, als spräche ich chinesisch. »Ach so, ja, klar, mach ich.«

      Kopfschüttelnd verlasse ich den kühlen Raum, mein Handy bereits in der Hand. »Hugo? Minnie ist in Polizeigewahrsam, Altstadtrevier. Sieh zu, dass du sie da schleunigst rausholst, bevor sie anfängt, Unsinn zu reden. Nimm den Hinrich mit.«

      Alexander Hinrich ist der Anwalt, der sowohl für Carlo als auch für mich tätig ist.

      »Ich treffe mich später noch mit dem Boss. Steck sie so lange irgendwo in den Keller, und sperr in Gottes Namen die Tür ab!«

      Ich warte nicht auf Hugos Antwort, sondern lege auf und mache mich auf die Suche nach Marco, damit der mich nachher zum Treffen mit Carlo fährt. Seit ich das Blue Parrot übernommen habe, finden die monatlichen Zusammenkünfte nicht mehr in dessen Hinterzimmern statt. Carlo schätzt es, wenn wir zu ihm kommen und nicht umgekehrt.

      Natürlich könnte ich selber fahren, aber als Contabile des Bosses darf ich nicht den Eindruck erwecken, ich hielte mich für zu unbedeutend, um nicht mindestens einen Leibwächter zu benötigen.

      Wenigstens kann ich die Fahrt dazu nutzen, um mit dem in Padolfi aufgewachsenen Marco an meinem Akzent zu feilen. Carlo zieht mich ständig damit auf, dass mein Italienisch immer noch so klingt, als spräche ich durch ein schepperndes Megafon. Seine wenig schmeichelhafte Art, mich hin und wieder daran zu erinnern, dass ich mich zwar um die Finanzen kümmern darf, aber nie ein vollwertiges Mitglied der Famiglia sein werde, da ich nicht in sie hineingeboren wurde.

      Doch als ich eine Stunde später im Wagen sitze, kommt es nicht mehr zum Sprachunterricht, denn ein Anruf von Hugo lässt mich meinen mangelhaften Akzent sofort vergessen.

      »Was soll das heißen, dir ist jemand bei Minnie zuvorgekommen? Willst du mich verarschen?«

      Kapitel 2

      München-Altstadt, 23. Mai 2019, abends

      Unvermittelt tritt eine gedrungene Gestalt in einem abgerissenen Mantel, einer Wollmütze und mit einem mottenzerfressenen Bart aus der überdachten Nische des Eingangsbereichs eines Delikatessengeschäfts und streckt mir ihre offene Hand entgegen. Ich zucke zusammen. »Kruzinesen, bleib bloß weg von mir!«

      Angst habe ich keine vor dem verlausten Gesellen. Er ist auch nicht der Grund für meine miese Laune. Eher der Tropfen, der das Fass gleich zum Überlaufen bringt.

      »Hau ab!«, fahre ich ihn an, und tatsächlich dreht er sich um und schlurft davon.

      Normalerweise habe ich kein Problem damit, solche Typen loszuwerden, indem ich ihnen freundlich, aber bestimmt die Gemeinverfügung erkläre, die das Kreisverwaltungsreferat München für das Betteln erlassen hat. Aber nach diesem durch und durch beschissenen Tag habe sogar ich Schwierigkeiten, die Contenance zu bewahren.

      Ich eile weiter, begleitet von dem Stakkato meiner Absätze auf dem Asphalt. Das ist doch wirklich zum Kotzen, da hat man endlich das Referendariat geschafft, das 2. Staatsexamen – mit Bestnote! – in der Tasche, ergattert einen Job in einer renommierten Kanzlei, und was darf man machen? Den Mist, den die lieben Kolleginnen nicht selbst erledigen wollen. Oder Mandate, auf die keiner Bock hat, weil es sich um Kleinigkeiten handelt, die entweder gähnend langweilig oder völlig aussichtslos sind.

      Wenn ein Tag schon damit beginnt, dass ein Klient