Thomas Chius

Der Corona-Tote Nr. 9.243


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Horn zu stoßen: „Wie kannst du nur so etwas sagen, die armen Kleinen. Wenn schon welche abtreten müssen, dann doch wohl eher die alten, die uns doch nur auf der Tasche liegen.“

      „Sieh es mal nicht so negativ“, nimmt Fred den Faden auf, „die sorgen immerhin für jede Menge Arbeitsplätze, zum Beispiel in den Pflegeberufen, den Altersheimen und die rüstigen sogar in der Touristikbranche.“

      Damit ist die Frotzelei durch und Gitta, nun wieder ernsthaft geworden, hat beschlossen, sich auf die Seite der Mutter zu schlagen: „Also, ich kann die Mutter verstehen. Wenn sich der Kleine da nicht so schnell berappelt und sich vielleicht sogar ernsthaft verletzt hätte, dann wäre er vielleicht aus Angst die nächste Zeit nicht mehr aufs Rad gestiegen, und der Nachmittag wäre für die ganze Familie gelaufen gewesen“.

      „Ja, schon“, gibt ihr Fryco recht. „Aber wie soll denn der Kleine lernen, was er sich zutrauen kann und was nicht, wenn das immer die Mutter für ihn entscheidet; und die traut ihm ja offensichtlich wenig zu.“

      „Bei der Mutter überwiegt halt die Sorge, dass ihren Kindern etwas passiert, wenn sie ihnen zu viel Freiheiten lässt“, lässt sich Gitta nicht beirren.

      „Aber was soll schon groß passieren?“, schaltet sich Ula wieder ein. „Sie können von ihren Rädchen umfallen oder in jemanden hineinfahren; das wär´s aber doch. Und die Gefahr, dass sie sich hierbei ernsthaft weh tun, ist doch ganz gering. Ich erwarte ja nicht, dass die Mutter sie allein über eine breite Straße gehen oder sie durch den kleinen Tümpel da drüben schwimmen lässt. Aber loszulassen ist doch notwendig, damit Kinder lernen, eigenverantwortlich zu handeln.“

      „Vielleicht müssen wir erst selbst Kinder haben, um uns in eine Mutter hineinversetzen zu können“, sinniert Gitta, „ich könnte mir vorstellen, dass es mir das Herz zerreißen würde, wenn so einem kleinen Menschen nur deshalb etwas passiert, weil ich die falsche Entscheidung getroffen und zu viel Freiheiten gewährt habe.“

      „Das ist jetzt aber sehr theoretisch“, schaltet sich Claus in die Diskussion ein, „man entscheidet doch immer situations-abhängig, und man möchte keinem Kind schaden, und zwar völlig unabhängig davon, in welcher Beziehung man zu ihm steht. Also ist man eher vorsichtig und entscheidet im Zweifel für das Wohl des Kindes und gegen seine Freiheit. Also, ich meine, man versucht, so einem kleinen Erdenbürger zu erklären, dass die Maßnahmen, die man trifft, da sind, um ihn zu beschützen und nicht, um ihn schadend einzuschränken.

      Das ist doch ganz normal, wir alle können doch auch nicht jede x-beliebige Entscheidung treffen, wie es uns gefällt. Auch wir müssen uns an Regeln halten, die ja auch zu unserem besten da sind. Ohne Regeln kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, und wir befolgen sie, obwohl wir oft gar nicht beurteilen können, warum sie so und nicht anders entwickelt wurden. Da sind wir ganz in der Situation der Kinder, die auch nicht verstehen, warum sie den abschüssigen Weg nicht benutzen dürfen.“

      „Na, das ist mal ein schöner Vergleich“, Ula schüttelt mit ironischem Gesichtsausdruck den Kopf. „ich wäre lieber das Kind, dem erlaubt würde, den abschüssigen Weg zu fahren; das kann ein Heidenspaß sein, nicht so langweilig, wie den ebenen Weg zu fahren, meinst du nicht? Dafür würde ich gern schon mal abgeschürfte Knie oder einen verpatzten Nachmittag in Kauf nehmen.“

      Claus gibt sich nicht geschlagen: „du meinst also, du möchtest lieber ein paar Regeln brechen, wenn du dabei Spaß hast, auch wenn andere davon negativ betroffen sind.“ Er mag eigentlich nicht gegen Ula argumentieren, findet aber ihre Ansichten nicht zum ersten Mal ein bisschen egoistisch.

      Ula schenkt ihm ein reizendes Lächeln und sagt „Ich mag Regeln brechen, die ich als unsinnig empfinde, und ich glaube nicht, dass das Brechen unsinniger Regeln anderen unbedingt schaden muss. Der verpatzte Nachmittag zum Beispiel hätte den Eltern die schöne Erkenntnis beschert, dass ihr Kind sich etwas zutraut, sich glücklich dabei fühlt und auf dem besten Weg ist, sich zu einem selbstbestimmten Menschen zu entwickeln. Das nenne ich einen erfolgreichen Nachmittag trotz blutender Knie.“ Und damit schiebt sie Claus den letzten Happen ihres Wraps in den Mund, der dadurch erstmal außer Gefecht gesetzt ist.

      „Also, ich möchte lieber von lauter Menschen umgeben sein, die nie richtig gelernt haben, eigene Entscheidungen zu fallen“, beginnt Fred.

      „Du meinst, die immer jemanden brauchen, der ihnen sagt, was sie zu ihrem Besten zu tun und zu lassen haben, und die dann auch alles glauben, was man ihnen so erzählt?“ fragt Fryco ein wenig provokativ.

      „Du hast es erfasst“, nickt Fred, „die stellen keine blöden Fragen, und solange man selbst nicht aus der Reihe tanzt, kommt man hervorragend mit ihnen aus. Umgibst du dich dagegen mit Leuten, die eigene Ideen entwickeln, die vielleicht sogar die herrschende Moral und die auf ihr basierenden Regeln in Zweifel ziehen, dann bist du konfrontiert mit endlosen Diskussionen und musst vielleicht sogar selbst denken; und das muss doch nun wirklich nicht sein.“

      Gitta verdreht die Augen und während sie ihm zuruft: „Mann, Fred, geht´s auch ein bisschen weniger plakativ ironisch?“ hechtet Fred hinter den nächsten Baum, ist aber nicht schnell genug, um dem Joghurtbecher zu entgehen, den Ula nach ihm geworfen hat.

      In der Ferne wirft ihnen besagte Mutter einen miss-billigenden Blick zu. Obwohl der kleine Bursche seinen Sturz nahezu unbeschadet überstanden hat und dieser bei ihm wahrscheinlich schon längst wieder in Vergessenheit geraten ist, so waghalsig wie er versucht hat, seinen Bruder einzuholen, kann die Mutter nicht anders, als ihn doch noch einmal auf den Arm zu nehmen, nachdem sie ihn eingeholt hat. Sie bepustet das leicht aufgeschürfte Knie und kitzelt den kleinen Jungen, der lachend sich windend versucht, sich zu befreien.

      „Die jungen Leute da drüben“, sagt sie jetzt zu ihrem Mann, „das ist doch bestimmt nicht nur ein Hausstand. Wie die sich aufführen, keinen Abstand, keine Masken; die trinken doch alle aus der gleichen Flasche. Ich fasse es nicht. Ich kann nicht verstehen, warum da die Polizei nicht stärker durchgreift“, und damit blickt sie sich um, ob sie zufällig eines Polizisten gewahr wird, kann aber keinen erblicken. `Natürlich nicht! Immer, wenn man sie mal braucht, ist keiner da´, denkt sie enttäuscht fährt fort: „Diese Super-Spreader sind schuld, wenn morgen wieder die Schulen und Kindergärten schließen müssen, unverantwortlich ist das. Aber demonstrieren gehen, sich ein schönes Leben machen und unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen, das können die, einfach ekelhaft. Heinz, sag du doch auch mal was!“

      Doch Heinz hat gedankenverloren einer hübschen Joggerin nachgeblickt und ihr gar nicht richtig zugehört.

      NICHT ALLEINGELASSEN

      Ach Sie sind´s, Herr Nachbar; tut mir leid, ich hatte Sie gar nicht erkannt. Einen schönen guten Morgen auch. Was kann ich für Sie tun? Wie? Sie kommen wegen der Fahrräder der Kinder und des Lärms bei der Familie über uns? Ich soll was unterschreiben? Ach, kommen Sie doch erst mal herein. Sie müssen entschuldigen, dass ich noch im Morgenmantel bin, aber ich fühle mich nicht besonders. Schon als ich aufgewacht bin heute Morgen, ahnte ich: jetzt hat es mich erwischt. Ich schwitzte fürchterlich, und als ich mich im Bett nur aufsetzte, bekam ich einen Schwindelanfall.

      Sofort folgte dann auch wieder dieser Schüttelfrost, den ich schon heute Nacht hatte, als ich mal rausmusste. Mir dröhnt jetzt noch der Kopf, und, nun Sie hören es ja selbst, ich huste, gut, nur ein bisschen, aber trotzdem. Ich lege mich später auch wieder ins Bett, sobald die Svetlana da gewesen ist; die schüttelt mir das Bett immer auf, macht ein bisschen sauber und so weiter.

      Möchten Sie vielleicht einen Tee? Svetlana muss gleich da sein, die macht uns einen. Setzen Sie sich vielleicht solange auf den Stuhl da, nein, diesen da drüben, der ist bequemer und da sind Sie auch weit genug von mir entfernt und können Ihre Maske abnehmen. Sie wollen nicht? Dann lassen Sie sie einfach auf, vielleicht haben Sie Recht, ich bin ja sicher sehr ansteckend; da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Ich ziehe mir keine Maske auf, wenn Sie gestatten, ich bekomme schwer Luft durch diese Dinger und schwitze wahrscheinlich noch mehr als ohnehin schon.

      Ach je, Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in den 72 Jahren, die ich nun auf dem