Thomas Chius

Der Corona-Tote Nr. 9.243


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oder eine Grippe. Eine Erkältung habe ich sicher nicht, denn ich habe keinen Schnupfen. Früher hätte ich es sicher für eine Grippe gehalten. Auch gut, oder eher, auch schlecht. Und dagegen hat immer eine Aspirintablette mit Vitamin C geholfen oder auch ein paar mehr.

      Das kennen Sie bestimmt: die löst man in einem Glas Wasser auf, es sprudelt, und man trinkt das Zeug in einem Zug weg. Bei Grippe wirkt das super, morgens eine und mittags noch mal eine; dann geht es einem schon am Nachmittag deutlich besser und die folgende Nacht kann man schon wieder durchschlafen; noch ein, zwei Tage und das Fieber ist weg, und man fühlte sich wieder einigermaßen auf dem Damm.

      Also das, was ich jetzt habe, fühlt sich zwar genau wie Grippe an, aber die gibt es ja zurzeit nicht, glaube ich, ist ja gar nicht die Jahreszeit dafür; also muss es wohl Corona sein. Ich habe mich vielleicht bei Harry angesteckt, der war wegen des Begräbnisses vor kurzem hier. Schließlich wurde ja nicht nur sein Vater, sondern auch er positiv getestet. Komischerweise traf es weder die Frau von meinem Bruder noch seine anderen Kinder, und auch das Dienstpersonal nicht.

      Hm, gegen Corona hilft wahrscheinlich kein Aspirin; das brauche ich gar nicht erst auszuprobieren. Aber sagen Sie mal, war da nicht was mit Zink? Und Vitamin D? Ich habe da mal was gelesen, oder lief das im Fernsehen? Wenn die Svetlana später kommt, muss ich ihr sagen, dass sie mir das besorgt.

      Was meinen Sie, das bekomme ich doch ohne Rezept, oder? Na, ich glaube schon. Und wenn nicht? Dann muss ich wohl doch zum Arzt. Erst natürlich anrufen und um einen Termin bitten; da kann man ja jetzt nicht mehr einfach so hin, ist ja klar, die wollen sich nicht alle anstecken. Wäre ja auch blöd, wenn sich der Albers, das ist mein Arzt, also mein Hausarzt, wenn der sich bei mir anstecken würde, und seine Arzthelferin auch; wie heißt sie noch mal, das ist so eine kleine rundliche, ein bisschen so, wie meine Svetlana. Ach, na ja, ist ja auch egal.

      Vielleicht hat diese Ansteckerei ja auch etwas Gutes, und ich brauche da gar nicht hin. Und überhaupt, so wie ich mich fühle, kann ich sowieso nicht länger aufbleiben, also in gar keinem Fall kann ich das Haus verlassen. Ich sage dem Dr. Albers am Telefon meine Symptome, also, dass ich das Virus habe und dass er mir das Zink und das Vitamin D verschreiben soll. Und dann kann die Svetlana das Rezept abholen, zur Apotheke gehen und mir die Sachen vorbeibringen, bevor sie zu ihrem nächsten Fall muss.

      Na ja, Fall; gut, dass sie das jetzt nicht gehört hat. Sie betitelt uns nämlich nicht als Fälle, sie spricht von uns als ihren Kunden, da versteht sie auch keinen Spaß. Aber ich habe einmal ihre Formulare gesehen, die sie immer bei jedem ausfüllen muss, und da steht was von Fällen. Na ja, ob da Fälle oder Kunden draufsteht, das macht für mich keinen Unterschied; bei Svetlana fühlt man sich wie ein Kunde, und zwar wie ein sehr guter Kunde.

      Hoffentlich hat sie überhaupt Zeit, die Sachen abzuholen. Erst zum Arzt, dann zur Apotheke und wieder hierher, das dauert ja schon ein bisschen. Ach, könnten Sie das vielleicht für mich tun, also wenn die Svetlana keine Zeit hat? Nein, Sie würden gern helfen, haben aber leider Termine? Das verstehe ich, war ja auch nur so ein Gedanke; die Svetlana macht das schon, bestimmt.

      Ich sage ihr einfach, sie braucht heute nichts zu putzen, ich bleibe ja im Bett, da kann das Wohnzimmer auch mal ein paar Tage warten, bis wieder Staub gewischt wird. Dann braucht sie nur das Essen auf den Herd zu stellen, einfach auf Stufe 1 zum Anwärmen und dann kann sie gleich los; das müsste gehen, also zeitlich meine ich.

      Ich habe gehört, dass man nichts mehr riechen und schmecken können soll, wenn man Corona hat; also das wäre ja auch mal eine interessante Erfahrung, meinen Sie nicht? Doch, das muss ich gleich mal ausprobieren. Sobald die Svetlana da ist, sage ich ihr, dass sie mir nicht sagen soll, was es heute gibt. Sie soll das Essen einfach auf den Herd stellen und ihn anmachen. Ich werde dann nach ein paar Minuten in die Küche gehen und mal schauen, ob ich etwas rieche. Und dann stecke ich mir bei geschlossenen Augen einen Löffel in den Mund und versuche zu erraten, was es ist. Das wird ein Spaß.

      Allerdings, wenn ich es recht überlege, wird das gar keine einfache Sache werden, fürchte ich. Es ist ja schon nicht einfach zu erraten, was sie so kocht, wenn der Geschmackssinn voll funktionstüchtig ist. Also schmecken tut es bei ihr immer; das kann ich Ihnen sagen. Nur, was sie kocht, das weiß man eben nicht. Klar, wenn man sie fragt, dann sagt sie einem den Namen, aber es sind Gerichte aus ihrer Heimat, und diese fremd-ländischen Namen sagen einem ja nichts, die vergesse ich auch sofort wieder.

      Tja, die Svetlana. Moment, kommt sie heute überhaupt? War da nicht was mit einem Arzt? Aber warum musste sie nochmal zum Arzt? Was haben wir heute für einen Tag? Dienstag? Nein, Mittwoch; also, normalerweise kommt sie da. Wie komme ich darauf, dass sie zum Arzt muss? Hatte sie selbst was vom Arzt gesagt? Nein, ich glaube nicht. Wenn sie zum Arzt muss, dann könnte sie mir ja meine … ach Quatsch, ich Dämlack.

      Ich wollte sie doch selbst zum Arzt schicken. Junge Junge, jetzt bloß nicht tüdelig werden auf deine alten Tage. Bloß nicht tüdelig werden, das war immer die größte Sorge von meinem Bruder Jercy. Alt und dabei tüdelig werden, so dass er nichts mehr mitbekommt und den anderen nur zur Last fällt, das wollte er nie; na ja, wer sollte das auch schon wollen; aber so ein Ende wie jetzt, das hat er sicher auch nicht gewollt.

      Sie haben meinen Bruder nicht gekannt, nicht wahr? Er war ja selten hier. Ich glaube, seit Sie hier eingezogen sind, überhaupt nicht mehr. Er war fast 5 Jahre älter als ich und immer viel robuster, schon als wir noch Jungs waren; ich habe alle Kinderkrankheiten durchgemacht, er hatte lediglich die Masern, oder waren es die Windpocken? Ich weiß es nicht mehr so genau.

      Auch im Sport war er besser, auf der Uni im Ruderclub, und Zehnkampf hat er auch gemacht. Das ist allerdings schon lange her. Aber er war auch eigentlich später immer gesund, hat sich nicht mal mit `ner Grippe bei einem seiner vier Kinder oder bei einem seiner wer weiß wie vielen Enkeln angesteckt. Tja, und nun ist er tot, und alles wegen Corona.

      Die reden ja immer von Vorschädigungen. Seine Familie wusste nicht, ob er da irgendwas gehabt hat. Er hat nicht mal geraucht; also als Jugendlicher natürlich schon, das haben wir doch alle, aber als dann die Kinder kamen, eins nach dem anderen, da hat er das aufgegeben, wohl auch Bärbel wegen, also das ist, das war seine Frau. Die hat sich früher immer schon beschwert. Ha, ganz früher, also in der Clique, da hat sie immer gescherzt, seine Küsse schmeckten nach einem halbvollen Aschenbecher, in den es hineingeregnet hätte. Aber das war ja nur Spaß.

      Später dann kamen schon mal Vorwürfe wegen der gelben Gardinen, und natürlich wegen der Kinder. Das war dann schon nicht mehr unbedingt spaßig gemeint, aber gestritten haben sie nie wirklich über so was. Hauptsächlich hat er es wohl aufge-geben, weil Rauchen einfach aus der Mode gekommen ist; draußen auf dem Balkon stehen oder unten vor dem Klinik-eingang, das war ganz und gar nicht sein Ding; das hätte er nie gemacht. Und dasselbe mit dem Trinken. Als Student natürlich ordentlich, aber später als Arzt? Ein paar Bierchen samstags bei der Sportschau, das wars so ziemlich.

      Eigentlich habe ich ihn immer beneidet. Ich bin nicht verheiratet, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon. Also schon mal keine Familie; na gut, ich bin Patenonkel von Harry, also seinem Jüngsten, ein Nachzügler; der ist übrigens auch noch nicht verheiratet. Die Patenonkel seiner älteren Geschwister waren Kollegen von Jercy, also auch Doktoren oder Professoren an seiner Klinik.

      Das war überhaupt sein gesellschaftliches Umfeld, PPP hat er immer im Scherz gesagt: Professoren, Politiker, Promis. Mich hat er nie spüren lassen, dass ich nicht dazugehöre; na ja, das spürt man natürlich auch ganz automatisch von allein, ist ja eine ganz andere Welt. Aber bei einigen seiner Feiern war ich trotzdem dabei. Eingeladen hat er mich viel öfter; aber mir war es unangenehm, wenn man so gefragt wurde, was man denn so mache und ich sagen musste, dass ich in einer Spedition für die Bearbeitung von Reklamationen zuständig sei. Ah, das sei aber interessant, und ob es da auch um Millionenschäden ginge. Nein, ging es nicht, nur ein paar Tausender, wenn es hochkam. Die dachten wohl, ich manage verlorene Schiffsladungen, aber ich kümmerte mich um auf der Fahrt vergammelte Butter, also wenn da mal die Kühlung ausgefallen war. In der Regel ging es eh um unpünktliche Lieferungen. Und das war dann natürlich als Party-Gespräch nicht so der Kracher.

      Bei seiner Familie fühle ich mich aber immer wohl; in seinem riesigen Haus, liebevoll von Bärbel eingerichtet und in Schuss