Thomas Chius

Der Corona-Tote Nr. 9.243


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Zeit genommen. Er hat seine Kinder rumkutschiert als sie noch klein waren, zur Musikschule, zum Reiten oder zum Fußball; selbst in der Schule ist er mal Elternsprecher gewesen; ja, ich glaube, so hieß das. Hat er mir stolz von erzählt, wie er mal mitgeholfen hat, dass die Schule eine bessere Mensa bekommen hat.

      Und später dann, als seine Kleinen geheiratet haben, da hätten Sie ihn mal sehen sollen. Stolz wie Oskar hat er alles ausgerichtet; selbst bei seinen Söhnen, obwohl er das doch nur bei seiner Tochter gemusst hätte; aber da kannte er nichts. Riesenfeste waren das; und das ging so weiter, als sein ältester Enkel Kommunion feierte, oder war es Konfirmation? Ich weiß nicht mehr so genau, aber für die Kleinen war er auch immer da. Familienmensch eben.

      Ganz anders bei mir. Natürlich hatte ich Freundinnen, sogar bis vor gar nicht so langer Zeit noch; klar, da war schon auch was Ernstes darunter, aber letztlich habe ich nie geheiratet, und ich habe auch keine Kinder. Gefühlt wohne ich immer schon in dieser Wohnung hier. Sie ist nicht übermäßig groß, wie Sie ja sehen, also außer der Küche gibt es das Wohnzimmer und zwei kleine Zimmer, eins ist das Schlafzimmer und das andere nutze ich als Arbeitszimmer.

      Eigentlich sollte man es eher als Lesezimmer bezeichnen. Die Wände bestehen praktisch nur aus Bücherregalen, ein paar Sessel, ein kleiner Tisch und als Krönung hat es einen Kamin. Alles sehr schön, mit den hohen Decken, dem Stuck und dem kleinen Balkon; dazu der Blick auf den Park. Na ja, und Sie merken ja selbst, wie ruhig es hier ist. Früher wäre ich trotzdem gern mal in eine schönere Gegend umgezogen.

      Da sah das hier nämlich noch nicht so schnieke aus; viel verwahrloster; da waren viele Häuser ziemlich herunter-gekommen, es war ausgesprochen dreckig auf den Straßen rings rum hier, und komischerweise auch lauter; wohl wegen der Kneipen und der Leute, die sich hier so rumgetrieben haben. Aber letztlich bin ich hier hängen geblieben. Und das war im Rückblick ja auch gut so.

      Heute sehen Sie hier keine verfallenen Häuser mehr, nicht wahr? Alles im Umkreis hier wurde aufgepäppelt, modernisiert und aufgehübscht. Jetzt wohnen hier wohlhabende Familien mit großen Autos und hohen Ansprüchen. Die Mieten sind hier mittlerweile durch die Decke gegangen, und ich kann froh sein, dass Jercy damals die Wohnung gekauft hat und mich hier für kleines Geld wohnen lässt. Bin mal gespannt, ob sich das jetzt eigentlich ändert, jetzt, wo er tot ist. Ob Bärbel mir die Miete anhebt oder mich sogar rausschmeißt? Nein, das macht sie nicht, sie ist ja mindestens eine so gute Seele wie mein Bruder, also wie mein Bruder gewesen ist.

      Er war immer schon großzügig, ein wahrer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, kann ich Ihnen sagen; erstklassige Manieren, immer gepflegt, und was seine Kleidung anbetraf, nur das Beste. Ich kann das beurteilen; schließlich hat er mir so manches gute Stück vermacht, wenn er sich etwas Neues kaufen wollte und Bärbel ihn vor die Wahl gestellt hatte: entweder nichts Neues oder was Altes weg. Und Sie müssen nicht glauben, dass die Sachen abgetragen waren, die sahen aus wie neu, und so fühlten sie sich auch an.

      Leider hat er später dann schon einiges an Gewicht zugelegt, und irgendwann waren mir die Sachen zu groß und viel Geld, sie umzuarbeiten, wollte ich nicht ausgeben. Das lohnt sich doch nicht. Einmal habe ich eine seiner Flanellhosen umnähen lassen. Flanell mit Kaschmir, so was von weich und angenehm zu tragen. Aber für das Geld hätte ich mir zwei oder drei neue Hosen kaufen können, also von der Qualität, die ich mir normalerweise leiste.

      Ich werde ihn sehr vermissen. Wann war ich eigentlich das letzte Mal mit ihm allein zusammen? Das muss bei unserem Segeltörn in den Schären gewesen sein. Darum hat er mich immer beneidet, wissen Sie, um das Segeln. Klar, er ist feudal in schicken Resorts am Meer oder in den Bergen in irgendwelchen Ländern abgestiegen, mit Kindervollverpflegung und allem Drum und Dran, aber manchmal waren wir auch zusammen segeln, nur wir beide und das war immer etwas Besonderes für ihn, also sagte er, nicht ich.

      Beim letzten Mal haben wir Sternschnuppen bewundert. Da waren wir ganz allein mitten in der Ostsee auf dem Weg nach Rügen und kein Land in Sicht. Wir haben am späten Abend bei einem Gläschen auf dem Deck gelegen und in den Sternen erleuchteten Nachthimmel geschaut. Das war aber auch ein atemberaubender Anblick, ist es immer wieder. Man muss Neumond haben und sich mitten auf dem Wasser befinden, also komplett ohne diese Lichtverschmutzung, wie das genannt wird. Hm, komischer Ausdruck, trifft es aber genau. Jedenfalls bekommt man eine Ahnung von der Großartigkeit der Welt und wie man sich selbst als kleiner Erdenmensch da einordnen sollte.

      Tja und damals hat er mir gesagt, ich wisse gar nicht, wie gut ich es hätte, solche Unternehmungen praktische jedes Jahr machen zu können, während er immer in Abhängigkeiten gefangen sei, durch die Familie, den Beruf und so weiter. Mich hat das gewundert, weil er doch so ein Familienmensch war; das habe ich ihm dann auch gesagt.

      Und das hat er auch nicht abgestritten. Also das wolle er auf gar keinen Fall missen, seine Familie und alles andere auch nicht, aber man könne eben nicht beides haben, und das sei doch eigentlich schade. Aber dann hat er auch gesagt, dass das eigentlich auch richtig sei. Alles hätte eben seine zwei Seiten. Und so blieben die Segeltrips mit mir für ihn etwas Besonderes.

      Im gleichen Jahr hat er seinen 75igsten Geburtstag gefeiert, und ich kann Ihnen sagen, das war eine Feier mit genau 75 Personen, und da hat er inmitten all dieser Menschen genauso glücklich gewirkt, wie damals ganz allein auf meinem Boot.

      Ich habe meinen siebzigsten Geburtstag im gleichen Jahr allein gefeiert, und feiern ist da eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Jercy wollte etwas für mich ausrichten, aber Rike hatte sich gerade von mir getrennt. Rike, Sie erinnern sich, mit der hatten Sie sich auch ein paarmal unterhalten. Eigentlich hatten wir, also Rike und ich, vor, auf der Müritzer Seenplatte herum zu schippern. Wissen Sie, ich habe am 3. September Geburtstag, das ist eigentlich ideal für so eine Fahrt. Wir haben sogar noch zusammen das Schiff ausgesucht, das wir chartern wollten, und dann, quasi von jetzt auf gleich, hat sie mir erzählt, dass sie einen anderen hätte und deshalb doch nicht mitkommen könne. Jedenfalls als ich von meinem Trip wiederkam, da waren ihre paar Sachen, die sie bei mir hatte, weg und der Schlüssel lag auf dem Tisch; nicht mal ein Abschiedsgruß. Das war schon ganz schön trostlos.

      Hm, wie bin ich jetzt eigentlich auf Rike gekommen? Sie war eine tolle Frau, zugegebenermaßen war sie ja 10 Jahre jünger als ich, und ihr Neuer wohl noch etwas jünger als sie selbst; da konnte ich alter Knacker wohl nicht mehr mithalten. Das hat mich schon echt mitgenommen damals, als sie mich verlassen hat; aber so ist das Leben. Nun ja, auch sie ist mittlerweile gestorben, das war Anfang des Jahres. Ach ja: mein Bruder Jercy, so sind wir auf sie gekommen. Er hatte nie eine andere Frau als Bärbel; sie haben sich auf der Uni kennengelernt, haben schnell geheiratet und er ist ihr treu geblieben bis zuletzt.

      Sie hat natürlich einiges aufgegeben für ihn; schließlich wollte auch sie Ärztin werden. Nun ja, das Auslandsjahr, das haben sie ja noch gemeinsam gemacht, nachdem sie ihre Examina hatten und Doktoren waren. Sie haben dann beide noch an einer Amerikanischen Uni weitergemacht, an einer ganz berühmten; Jercy war ganz stolz, dass damals alles so gut geklappt hat. Aber letztlich hat natürlich hauptsächlich er etwas davon gehabt; das hat er auch zugegeben. `So eine post-Doc Geschichte an einer renommierten Uni mit dann noch einer durchaus aufsehenerregenden Veröffentlichung´, hat er gesagt, `das hat mir hier schon die richtigen Türen geöffnet`. So konnte er Kariere machen, während sie sich um Kinder, Haushalt und so weiter kümmern musste. Sie sagt ja immer, dass sie das gern gemacht hat, aber wer weiß das schon so genau. Trotzdem, eine glückliche Familie waren sie wohl, das konnte man sehen. Und nun ist Jercy tot.

      Noch vor einem Monat fühlte er sich pudelwohl; gut, er hatte immer etwas hohen Blutdruck, schließlich war er etwas überge-wichtig und dadurch ein bisschen kurzatmig, aber das war alles, also soweit ich weiß.

      Und dann ging es ganz schnell; am Nachmittag hatte er noch den Rasen gemäht, das war in der Hitze vielleicht auch nicht gerade das geschickteste, jedenfalls fühlte er sich am Abend schwummrig, und er hatte Atembeschwerden. Er ist dann in seine Klinik gefahren, und da hat man natürlich den Herrn Professor sofort dabehalten. Noch in der gleichen Stunde wurde er getestet und schon am nächsten Morgen hatten sie das Ergebnis. Da brauchte er gar keine Hebel in Bewegung zu setzen, wie er es zum Beispiel für mich jetzt tun würde, wenn ich die beste Behandlung bräuchte. So wie bekannt war, dass er sich das Virus irgendwie eingefangen hatte, kam er