nur wer die beiden Pole, Abhängigkeit und Selbständigkeit, vor Augen behält, kann wenigstens ahnen, was es mit dem Menschen und unserm Wissen von ihm auf sich hat. Lange Reihen entsagungsvoller Arbeit haben es jetzt ermöglicht, das selbständige Leben der Zellen, getrennt von dem Zusammenhang mit dem Menschen, im Experiment deutlich zu machen. Man kann dieses Leben bei geeigneten Maßnahmen unter dem Mikroskop beobachten, kann sehn, wie ein herausgeschnittenes Stück Mensch, ein paar Zellen, nun genau so sich nährt, wächst, sich fortpflanzt, wie man es von dem befruchteten Ei her kennt.
Dieses Experiment führt ja auch nur vor Augen, was ohnehin sich gedanklich feststellen ließ. Jede Zelle hat ihr eignes Leben. Sie sucht sich aus der Masse des Nahrungsmaterials das aus, was ihr paßt, das heißt, sie ißt und trinkt selbständig, sie sondert selbständig ab, was für ihr Leben unnütz oder gefährlich ist; sie führt ihren Kampf mit der Umwelt, gegen mechanische Gewalten oder Gifte, selbständig, bildet Gegengifte, paßt sich psychischen Einwirkungen an, sie bildet und formt die Gerüste der Organe, die festen Substanzen der Knochen und Knorpel, sie füllt die Substanzverluste aus und fügt zerrißne Zusammenhänge wieder aneinander. Das alles tut sie genau so selbständig oder unselbständig, wie der Mensch als Ganzes selbständig oder unselbständig ist. Denn bei dieser Frage der Selbständigkeit muß man sich immer gegenwärtig halten, daß von einer wahren Selbständigkeit in keinem Geschehnis des Lebens die Rede sein kann. Jeder Teil ist vom Ganzen abhängig und das Ganze von seinen Teilen. Nur durch einen Gewaltakt des menschlichen Denkens, nur durch einen subjektiven, ganz persönlichen Willensakt gelingt es, irgendeinen Vorgang aus der unendlichen Kette des Zusammenhangs herauszureißen; es bleibt immer dem Belieben jedes einzelnen überlassen, was er selbständig und was er abhängig nennen will.
Das Dritte, was man unbedingt im Gedächtnis behalten muß, wenn man sich mit dem Menschen, dem gesunden oder kranken, beschäftigen will, ist die Tatsache, daß die beiden Geschlechter, Mann und Weib, nicht so scharf voneinander getrennt sind, wie es der Augenschein vortäuscht, daß vielmehr jede einzelne Persönlichkeit in sich männliche und weibliche Bestandteile unvermischt trägt. Beim Manne überwiegen nur die männlichen Bestandteile, beim Weibe die weiblichen. Es existiert aber auf Gottes Erdboden nicht ein Mann, der nur Mann, und nicht ein Weib, das nur Weib wäre.
Man vergegenwärtige sich den Vorgang der Befruchtung: Der Beischlaf hat stattgefunden. Mit der männlichen Samenflüssigkeit sind zahllose Samentierchen in die weiblichen Geschlechtsorgane eingedrungen und eins von ihnen findet in der Gebärmutterhöhle des Weibes ein Ei liegen, das sanft in die Schleimhaut gebettet der Befruchtung harrt. Im wesentlichen hat dieses Ei dieselbe Form wie jede andre Zelle, das heißt, es besteht aus einem Zellkern und einem Zelleib. Der Kopf des Samentierchens, der Kern der männlichen Zelle, dringt in das Ei ein, und nun beginnt ein seltsamer Figurentanz im Innern des befruchteten Eis, den allenfalls zu verstehn jahrzehntelange Arbeit der Forscher gebraucht hat; es teilt sich der weibliche Eikern und der männliche Samenkern, je eine männliche Hälfte lagert sich neben eine weibliche, jedoch ohne ineinander überzufließen, sich zu vermischen Weibliches und Männliches bleibt immer getrennt, das ganze Menschenleben hindurch, denn nun entwickelt sich aus dieser Zelle mit den zwei Mannweibkernen der sogenannte Mensch, der Zelleib spaltet sich zwischen den beiden Kernen, die sich wieder teilen und so fort und fort, jedoch stets so, daß in jeder Zelle weibliche und männliche Kernteile unvermischt liegen.
Hat man die drei Bedingungen des Verstehens sich unvergeßlich eingeprägt, daß der Mensch nie fertig ist, sondern immer wird und immer von außen bedingt ist, daß er nicht eine Einheit, sondern eine Genossenschaft darstellt, daß er in sich männliche und weibliche Bestandteile trägt, dann kann man ohne allzu große Gefahr eines Irrwegs der Erforschung menschlicher Zustände weiter nachgehn.
Knochen
Zunächst ist es angebracht, die Körperteile ein wenig zu betrachten, die dem Menschen den Halt geben, das, was man das Knochengerüst nennt.
Ich erinnere hier gleich wieder daran, daß auch der Knochen, diese scheinbar so starre steinerne Masse, aus Zellen zusammengesetzt ist, die allerdings die merkwürdige Eigenschaft besitzen, sich aus dem im Blut kreisenden Nahrungsmaterial bestimmte Salze, im wesentlichen Kalksalze, herauszusuchen, sich damit zu umpanzern und so das feste Gerüst herzustellen, mit dessen Hilfe wir erst existieren können, und ohne das wir wie ein Kuchenteig zusammensinken würden.
Jeder weiß oder sollte wissen, wenigstens die Frauen sollten es wissen, daß unter Umständen schon in der frühsten Kindheit dieser Aufbau von Kalksalzen nicht richtig stattfindet, daß Zustände entstehn, bei denen die Knochen zu lange weich bleiben und die man unter dem Namen: Englische Krankheit, Rachitis zusammenfaßt. Es ist ohne weiteres klar, daß eine Bedingung zur Genesung bei diesem Leiden eine genügende Zufuhr von Kalksalzen ist. Dafür reicht im allgemeinen die natürliche Ernährung des Säuglings an der Mutterbrust aus. Dagegen ist die künstliche Ernährung mit Kuhmilch, falls eine Anlage zur englischen Krankheit vorhanden ist, nicht genügend. Sie genügt kaum für das gesunde Kind, ist sozusagen eine Hungerdiät, aus der wohl ein starker Organismus sich aufbauen kann, bei der der schwache oder vernachlässigte aber häufig versagt. Da empfiehlt es sich denn, so bald wie möglich mit andern Nahrungsmitteln nachzuhelfen, vor allem mit Vegetabilien, mit Salaten, Rüben, Spinat, Radieschen und so weiter. Auch weißer Käse ist recht zweckmäßig. Daß gerade diese Art der Ernährung auch von der Mutter während der Schwangerschaft bevorzugt werden sollte, leuchtet ein. Wird doch das Knochengerüst zum großen Teil schon im Mutterleib aufgebaut.
Im allgemeinen ist es Vorschrift, die schwangre Frau und erst recht die Wöchnerin kräftig zu nähren. Mit andern Worten, man stopft in sie hinein, was hineingehn will. Das ist verkehrt; an und für sich verändert ja die Schwangerschaft die Lage und den gegenseitigen Druck der Bauchorgane erheblich. Es lassen sich Stockungen in dem Kreislauf der Säfte kaum vermeiden. Da nun durch große Mahlzeiten die Stockungen, speziell die Verstopfungen noch zu vergrößern, durch maßloses Milchschlampen künstlich Krampfadern, Hämorrhoiden, Ödeme herbeizuführen, ist doch eine seltsame Behandlung. Der Haupterfolg ist immer der, daß die Schönheit des Weibes dabei zerstört wird. Statt einer Frau mit festen Formen und schönen Linien, erhebt sich ein verunstaltetes Wesen mit dickem Bauch, fetten Hüften und hängenden Brüsten aus dem Wochenbett, so daß bei dieser Betätigung liebevoller Pflege entscheidende Werte für die Ehe verlorengehn. Und schließlich beruht diese ganze Milchfütterung nur auf der uralten Vorstellung, daß die Kuhmilch bei der Wöchnerin zum Munde hereinfließt, um dann in den Brüsten wieder zum Vorschein zu kommen. Man sollte denken, allmählich hätten Verwandte, Freunde, Hebammen, zum mindesten alle Mütter sich eine ungefähre Vorstellung von Kreislauf machen können, das scheint aber nicht der Fall zu sein. Man weiß wohl, daß Blut in den Andern kreist, aber man handelt, als ob Milch darin flösse. Es ist derselbe Gedankengang, der Blutarmen Rotwein anrät, weil das Blut rot gefärbt ist. Des Herrn Mühlen mahlen langsam.
Schwangre nicht allzureichlich zu ernähren, besonders die Flüssigkeitszufuhr knapp zu halten, hat einen besondern Grund. Der leichte oder schwere Verlauf einer Geburt hängt in erster Linie von der Größe des kindlichen Kopfs ab. Wer sich einmal recht deutlich vorstellt, wie stark Gebärmutter und Scheide gedehnt werden müssen, damit ein Kindskopf hindurchgeht, der wird sich hüten, mutwillig diesen Kopf noch zu vergrößern. Tatsächlich ist aber der Kindskopf um so umfangreicher, je reichlicher die Ernährung der Mutter in den letzten Monaten war. Für das Gedeihen des Kindes ist die Größe des Kopfes im Moment der Geburt ohne jede Bedeutung, ja das Gewicht des Kindes sollte überhaupt in den mittleren Grenzen bleiben. Zu große Kinder sind dem Verderben ebensoleicht ausgesetzt wie zu kleine.
Dasselbe was hier von den Müttern gesagt wurde, gilt auch von den Kindern. Der Wettstreit der Frauen, welches Kind die meiste Milch vertilgen kann, ist weder edel noch vernünftig. Ganz abgesehn davon, daß die Fresser und Säufer unter uns, an denen unsre Nation gewiß keinen Mangel leidet, zu diesem ihrem Beruf schon als Säuglinge abgerichtet werden, sind auch die meisten der gefürchteten Brechdurchfälle auf die Überfütterung der Kinder zurückzuführen. Alle soziale Tätigkeit scheitert vorderhand an der Unkenntnis der Menschen. Es gibt immer noch genug Mütter, die Milch in ihr Kind hineintrichtern, bis es überläuft wie ein allzu volles Faß.
Ein Mittel