Jede Mutter hält ihr Kind für eine Art Weltwunder, und daß sie dieses wunderbare Kind so bald wie möglich laufen sehn will, ist begreiflich. Sie wollen den Beweis des Genies leibhaftig herumschwanken sehn. Aber diese Mütter sollten bedenken, daß selbst die Knochen eines gesunden Kindes erst sehr spät stark genug werden, um die Last des Körpers zu tragen, daß aber ein weicher Knochen krumm wird, wenn man ihn belastet. Sie sollten einmal auf der Straße die Schar krummbeiniger Menschen zählen, die ihnen begegnen, ja sie haben vielleicht nichts andres nötig, als sich im Spiegel zu betrachten. Wir geben ja dank unsrer unerhörten Kulturfortschritte nicht mehr viel darauf, wie die Gestalt des Menschen aussieht; wenn nur das Gesicht glatt ist, mögen die Füße verkrüppelt sein, der Kopf kahl und die Schultern schief. Ja, nicht einmal der Leib des Mädchens gilt mehr etwas, eine jede läßt ihn sich ohne Sorge zerschneiden, da es ja gefahrlos ist; und die Narbe sieht doch nur der Liebste, und auch er erst, wenn er unlösbar gefesselt ist. Aber damit wird Krummes nicht gerade. Gesellen sich zu den krummen Beinen dann noch schiefe Hüften und ein leidlicher Buckel, wie es bei der Gewohnheit, die jungen Menschen täglich 6-10 Stunden lang während der Entwicklung auf die Schulbank zu nageln, kaum anders sein kann, dann ist allerdings ein Wunder von Kind da, und man segnet die Erfindung der Kleider, unter denen alle Greuel verborgen bleiben. Das Wachstum der Kinder zu überwachen, für das Ebenmaß ihrer Gestalt zu sorgen, ist eine dringende Aufgabe der Erziehung. Es wird von den Eltern so viel am Charakter herumerzogen und verdorben, warum geschieht es dann nicht in den äußern Dingen, die doch viel leichter zu regeln sind?
Der Natur die Bildung gerader Glieder zu überlassen, ist ebenso falsch, wie ihr die Heilung zerbrochner Knochen anzuvertrauen. Das fällt ja niemandem ein, wenn er es vermeiden kann. Es fällt selbst denen nicht ein, die die Natur gepachtet haben, unsern Naturheilkünstlern.
Ich habe schon oft versucht, hinter den Sinn des Wortes Naturheilverfahren – ein schönes Wort ist es ja – zu kommen. Er liegt, wenn ich es recht verstehe, darin, daß es im Gegensatz zu diesem Naturheilverfahren ein Kunstheilverfahren gibt. Nun, wenn man unser ärztliches Handeln eine Kunst nennt, so können wir es zufrieden sein und wollen gern unsern Gegner den Ruhm lassen, daß sie keine Künstler sind. Mir scheint jedoch in dem Anlegen eines feuchten Wickels, in einem Überguß- oder Sitzreibebade nicht mehr Natur zu sein als in dem Abnehmen eines Beins oder in dem Trinken von einem Fingerhutaufguß. Ich habe noch keinen Menschen gesehn, der sich mit einem feuchten Wickel um den Leib natürlich vorgekommen wäre. Es ist sehr freundlich von den Leuten, uns Ärzte außerhalb der Natur zu stellen, so, als ob wir deren Meister wären. Wir beanspruchen das aber nicht. Wir sind stolz darauf, Diener der Natur zu sein, nur ist das Gebiet der Natur für uns nicht gar so eng wie in jenen Köpfen. Außerhalb der Natur wirkt niemand, und jedes Heilverfahren ist ein Naturheilverfahren. Freilich Narren sind nicht zu belehren. So soll man Narren Narren sein lassen. Aber die arzneilose, operationslose Behandlung? Das klingt schon besser, wenigstens wird nicht die Mutter Natur als Reklame benutzt. Nur darf man nicht näher zusehn. Denn dann stellt sich heraus, daß das vornehmste und wichtigste Medikament, das Wasser, von diesen Leutchen nicht Arznei genannt wird, daß sie das Kochsalz, die Kohlensäure, die Zitronensäure, die Elektrizität, das Radium, die Chemie des Sonnenlichts, die Mineralquellen, ja sogar allerhand Tees zum sogenannten Blutreinigen nicht zu den Arzneimitteln zählen. Bequem ist das, aber nicht ganz ehrlich. Und nun gar operationslos. Ich bin gewiß kein Freund vom Operieren, habe in meiner zweiundzwanzigjährigen Tätigkeit vielleicht ein halbes Dutzend größerer Operationen angeraten. Aber so dumm bin ich denn doch nicht, anzunehmen, es ginge auf dem Schlachtfelde, bei den Unglücksfällen in Fabriken und anderwärts ohne das Messer. Und wie, wenn ich fragen darf, denken sich denn die Jünger der Naturheilkunde die Behandlung eines Knochenbruchs? Wollen sie den auch der Natur überlassen, operationslos behandeln? Oder ist etwa das Einrichten der Knochen keine Operation? Das ist sie wohl und unter Umständen eine recht schwierige, langwierige und blutige. Ohne Operation, das weiß jedes Kind, heilt der Knochen schief, abgesehn von ein paar Ausnahmefällen, muß schief heilen. Da ist es doch besser, man greift zur Kunst.
Man vergegenwärtige sich nur die Lage oder mache sie sich durch einen Vergleich deutlich. Nehmen wir einen Oberarmbruch. Man kann sich den Knochen etwa als einen Stock vorstellen, zu dessen Seiten die Muskeln wie stark angespannte Gummibänder entlanglaufen. Bricht nun der Stock entzwei, so ziehn sich die Bänder sofort zusammen, und die Bruchenden des Stockes lassen sich nur dann wieder gerade aneinanderfügen, wenn die Bänder gedehnt werden. Genauso geht es mit dem Knochenbruch. Die Knochenenden werden durch den Zug der Muskeln gegeneinander verschoben, und ohne Kunsthilfe, ohne Operation heilt der Knochen schief.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich nochmals auf die Selbständigkeit der Zellen hinweisen. Der Knochen besteht, wie jeder Teil des Körpers, aus kleinen Zellgebilden, die hier eine gewisse Ähnlichkeit mit Spinnen haben und sich rings mit den Knochensalzen umgeben haben. Bricht nun der Knochen an irgendeiner Stelle, so bauen diese kleinen Wesen ein neues, hartes Gerüst an der Bruchstelle auf, ohne irgendwie zu dieser Arbeit von dem Verstande oder Willen des Menschen bewogen zu werden. Sie handeln aus eigner Machtvollkommenheit, mit eignem Willen und Verstande, im höchsten Grade zweckmäßig. Freilich stehn sie dabei durch Nerveneinflüsse, Zirkulation, elektrische Spannungen und so weiter im Zusammenhang des Ganzen, ihre besondere Tätigkeit aber vollführen sie nach eignen Gesetzen.
Sehr nachdenklich stimmt es, wenn man sich den Bau solch eines Knochens ansieht. Man bemerkt dann, daß er genau nach denselben Regeln gebaut ist wie etwa unsere Eisenbrücken. Es haben sich einzelne Teile zu Strebepfeilern zusammengefügt, die nebeneinander herlaufen, sich verflechten, gegenseitig stützen und dem ganzen Gebilde den wunderbaren Halt und eine außerordentliche Elastizität geben. Dem gleichen Phänomen, daß sich technische Wunder, zu denen wir Menschen mühsam im Laufe jahrtausendlanger Entwicklung gelangen, in den Schöpfungen der Natur finden, begegnet man häufig. So kann das Auge mit dem Apparat der Fotografie verglichen werden, das Fernrohr, das Mikroskop, vor allem die Brille ist in ihm vorgebildet, im Innern des Ohrs treffen wir auf eine Klaviatur, der Kreislauf im Körper ist ein unerreichbares Vorbild einer Wasserleitung und Kanalisation. Noch auffallender sind die Analogien bei einigen kleinen Lebewesen, die in ihrer Gestalt dem Ordenssterne gleichen oder gar den künstlich geschnitzten, durchbrochenen und ineinandergeschachtelten Elfenbeinkugeln, wie sie von China aus in den Handel gebracht worden sind. Greifbar deutlich tritt einem da der Satz entgegen, daß unsre Kunstwerke Werke der Natur sind, und wir erblicken mit eignen Augen vor uns das Symbol der Einheit aller Welt und alles Geschehens, daß jedes Einzelwesen, auch der Mensch, auch sein Auge, ein Teil des Ganzen ist, daß aber dieses Ganze sich im Teil erschauen läßt.
Auf diesen Zusammenhang aller Dinge und allen Geschehns möchte ich bei Gelegenheit des Knochenbruchs nochmals hinweisen. Man geht gewöhnlich rasch über die Ereignisse, die zum Knochenbruch führen, hinweg, denkt sich: der Mensch ist gefallen, und dabei ist der Knochen zerknickt. Aber selbst wenn man eine Reihe von Knochenbrüchen ausschaltet, bei denen das zerbrochne Glied zufällig unglücklich zu liegen kam, bleibt die Frage ungelöst, warum der eine Mensch tausendmal fallen kann, ohne sich etwas zu tun, der andre schon beim ersten Fall einen Knochen bricht. Es sprechen da eine Menge Gründe mit. Bekannt ist es ja, daß die Knochen mit zunehmendem Alter an Elastizität verlieren, brüchiger werden. Dann ist der dumme Verstand vielfach an dem schlimmen Ausgang schuld. Während das Kind platsch auf den Bauch oder den Hintern fällt, sucht der verständige Mensch die Gewalt des Falles durch Vorstrecken der Arme oder sonstwie zu mildern. Daß der Arm, der womöglich gestreckt ist und die Wucht des Sturzes allein tragen muß, zerbricht, ist nicht wunderbar. Die Ungeschicklichkeit der Bewegungen, die Steifheit der Gelenke kommen hinzu. Nur ausnahmsweise erhalten sich die Menschen, vornehmlich Frauen, die Geschmeidigkeit des Körpers annähernd so, wie sie Kindern eigentümlich ist, bei denen die Gelenke vollständig biegsam sind. Das Leben bringt es mit sich, daß der Mensch steif wird.
Betrachtet man die Gewohnheiten des Menschen, so fällt sofort auf, daß er seine Gelenke fast nur in einer Richtung übt. Die Finger werden selbst in der Ruhe in gekrümmter Lage gehalten, bei jeder Verrichtung der Hände werden sie ebenso wie die Handwurzel und das Ellenbogengelenk noch mehr gebeugt. Die Streckbewegungen sind selten, ein Überstrecken in diesen Gelenken kommt fast nie vor. Mit der Schulter ist es noch schlimmer. Der Arm hängt herab, wird sehr selten aufwärts, bis zur vollen Höhe fast nie bewegt. Auch die Wirbelgelenke müssen versteifen, da das Bücken, das rasche