George Sand

Geschichte meines Lebens


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Gleichheit die Gesetze und den Geist der Gesellschaft beherrscht. Und doch ist das Dogma der Erlösung ein Symbol der Buße und Reinigung. Unsere Gesellschaft bekennt sich zu dieser Lehre in religiösen Theorien, aber nicht in der Praxis — denn diese Lehre ist für sie zu schön, zu groß — und doch werden wir durch etwas Göttliches, das im Grunde unsrer Seele liegt, angetrieben in unserm individuellen Leben die strengen Vorschriften der sittlichen Aristokratie zu brechen und unser Herz, das brüderlicher, mehr zur Gleichheit geneigt, barmherziger, also gerechter und christlicher ist, als unser Geist, läßt uns oft die Wesen lieben, welche die Gesellschaft als unwürdig und verderbt verwirft.

      Wir fühlen nämlich, daß dieses Verdammungsurtheil widersinnig ist, und daß Gott es verabscheut, um so mehr, da die Welt, die es ausspricht, eine Heuchlerin ist, der es durchaus nicht auf das Grundgesetz des Guten und Bösen ankommt. Der große Revolutionär Jesus hat einst das erhabene Wort gesprochen, daß im Himmel mehr Freude sein würde über die Rückkehr eines Sünders, als über hundert Gerechte—-und ich glaube, daß auch die Geschichte vom verlorenen Sohne keine müßige Fabel ist. Dennoch giebt es noch immer eine sogenannte Aristokratie der Tugend, die stolz auf ihre Privilegien nicht zugestehen will, daß die Verirrungen der Jugend gesühnt werden können. Eine Frau, die im Wohlstande geboren, die mit Sorgfalt, entweder im Kloster oder unter der Aufsicht ehrwürdiger Matronen erzogen ist; die sich bei ihrem Eintritt in die Welt von allen Bedingungen des Wohlbefindens, der Ruhe, der Zufriedenheit umgeben sieht, die im Gefühl der Selbstachtung und in der Furcht vor der Ueberwachung Anderer genährt ist, eine solche Frau hat keine große Mühe und vielleicht kein großes Verdienst, ein tugendhaftes, geordnetes Leben zu führen, ein gutes Beispiel zu geben, strengen Grundsätzen zu folgen. Aber ich irre mich! denn wenn ihr die Natur eine glühende Seele gegeben hat, wird sie inmitten einer Gesellschaft, welche die Aeußerungen ihrer Gefühle und Fähigkeiten nicht gestattet, einer großen Anstrengung bedürfen, um diese Gesellschaft nicht zu verletzen — und in dieser Anstrengung liegt ihr Verdienst. Um wie viel mehr ist nun aber das arme verlassene Mädchen freizusprechen, dessen einzige Erbschaft in der Welt die Schönheit ausmacht, wenn ihre Jugend in Verirrungen geräth und ihre Unerfahrenheit den Fallstricken nicht zu entgehen weiß. Ich glaube, daß es die Aufgabe der erfahrenen Matrone wäre, der Verirrten die Arme entgegenzustrecken, sie zu trösten, zu läutern und mit sich selbst zu versöhnen — denn wozu nützt es, besser zu sein als Andere, wenn wir die Güte nicht fruchtbar machen, die Tugend nicht auf Andere zu übertragen suchen. Und doch ist es nicht so, denn die Welt verbietet der geachteten Frau, ihre Hand derjenigen zu reichen, die verachtet wird, und sie an ihrer Seite ruhen zu lassen. Die Gesellschaft ist ein ungerechter Richter! das lügnerische, gottlose Gesetz eines sogenannten Anstandes und einer sogenannten Sittlichkeit! diese Gesellschaft verlangt, daß sich die tugendhafte Frau von der Sünderin abwende und öffnet sie derselben ihre Arme, so wird die Gesellschaft, der Areopag falscher Tugenden und falscher Pflichten, sich von ihr lossagen.

      Ich sage der falschen Tugenden und falschen Pflichten, weil nicht allein die wahrhaft reinen Frauen, die wahrhaft ehrwürdigen Matronen über den Werth ihrer verirrten Schwestern zu urtheilen haben. Es ist kein Verein würdiger Menschen, welcher die öffentliche Meinung beherrscht — das ist ein Traum. Die ungeheure Mehrzahl der Frauen in der Gesellschaft besteht aus gefallenen Frauen. Alle wissen es, Alle gestehen es und doch tadelt und schmäht Niemand diese schamlosen Weiber, wenn sie Andere tadeln und schmähen, die weniger strafbar sind, als sie selbst.

      Als meine Großmutter ihren Sohn meine Mutter heirathen sah, war sie in Verzweiflung und hätte mit ihren Thränen den Ehecontrakt auslöschen mögen, der diese Verbindung besiegelte. Aber es war nicht ihre Vernunft, welche kalt diese Ehe mißbilligte, es war ihr mütterliches Herz, das vor den Folgen derselben zitterte. Sie fürchtete auch, daß ihn der Tadel einer gewissen Klasse der Gesellschaft treffen würde; sie litt in dem Gefühl sittlichen Stolzes, zu welchem ein vorwurfsfreies Leben sie berechtigte, aber sie bedurfte keiner langen Zelt, um einzusehen, daß ein bevorzugtes Wesen leicht seine Schwingen ausbreiten und seinen Flug erheben kann, sobald ihm Raum gegeben wird; darum war sie gut und liebevoll gegen die Frau ihres Sohnes — aber die mütterliche Eifersucht blieb und kam selten zur Ruhe, und wenn diese zärtliche Eifersucht eine Sünde war, so darf doch nur Gott sie richten, denn sie entzieht sich dem Urtheil der Menschen, besonders dem Urtheil der Frauen.

      Vom Aufenthalt zu Azola, das heißt, vom Ende des Jahres 1800 bis zu meiner Geburt 1804 mußte auch mein Vater durch die Theilung seiner Seele zwischen einer geliebten Mutter und einer glühend angebeteten Frau furchtbar leiden. 1804 fand er endlich mehr Ruhe und Kraft im Bewußtsein einer erfüllten Pflicht, als er die Frau geheirathet hatte, die er mehrere Male im Begriff gewesen war, seiner Mutter zu opfern.

      Ehe ich ihm nun, voll Bedauern und Bewunderung in diese innern Kämpfe folge, werde ich ihn wieder in Azola aufsuchen, von wo aus er seiner Mutter den zuletzt mitgetheilten Brief vom 29. Frimaire geschrieben hatte. Diese Zeit weist auf ein großes kriegerisches Ereigniß, den Uebergang über den Mincio hin.

      Herr von Cobenzl war noch in Lüneville, um mit Joseph Bonaparte zu unterhandeln, und zu derselben Zeit wollte der erste Consul durch einen kühnen, entscheidenden Streich der Unentschlossenheit Oestreichs ein Ende machen. Er ließ die Rheinarmee, welche Moreau befehligte, den Inn überschreiten und die italienische Armee, die unter Brune's Anführung stand, den Mincio passiren. Innerhalb weniger Tage wurden diese beiden Stellungen gewonnen. Moreau war Sieger in der Schlacht von Hohenlinden und die italienische Armee, der es ebenfalls nicht an guten Offizieren und guten Soldaten fehlte, trieb die Oestreicher zurück und beendigte den Krieg, indem sie die Feinde zwang, die Halbinsel zu räumen.

      Aber wenn hier wie überall das Verhalten der Armee heldenmüthig war, wenn der Eifer und die persönliche Begeisterung mehrerer Offiziere die Fehler des Anführers wieder gut machten, so ist doch nicht zu leugnen, daß Brune das ganze Unternehmen auf eine unverantwortliche Weise leitete. Indessen schreibe ich hier keine offizielle Geschichte und verweise meine Leser auf Thiers' Erzählung. Er ist ein ausgezeichneter Berichterstatter der kriegerischen Ereignisse, immer klar, übersichtlich, fesselnd und genau — und er mag die Anschuldigungen verbürgen, die mein Vater gegen den General ausspricht, der bei dieser Gelegenheit nicht einen Fehler beging, sondern ein Verbrechen. Er ließ einen Theil seines Heeres allein, ohne Hülfe im Kampf mit einem übermächtigen Feinde, und seine Unthätigkeit war durch die entsetzliche Hartnäckigkeit seiner Selbstsucht veranlaßt. Er war unzufrieden mit dem Eifer, welcher den General Dupont veranlaßt hatte, den Fluß mit 10,000 Mann zu überschreiten; er verbot Suchet demselben die nöthige Hülfe zu senden und hätte dieser — als er Dupont's Heer mit 30,000 Oestreichern im Gefecht und in Gefahr sah, trotz der heldenmüthigen Vertheidigung aufgerieben zu werden — nicht den Befehlen Brune's zuwider gehandelt, indem er auf seine Verantwortung den Rest der Division Gazan diesen Tapfern zu Hülfe schickte, so war unser rechter Flügel verloren. Diese Grausamkeit oder dieser Unverstand des Oberbefehlshabers kostete mehreren Tausend tapferer Soldaten das Leben und meinem Vater die Freiheit. Er hatte sich durch seine Tapferkeit und das Vertrauen auf seinen Glücksstern zu weit fortreißen lassen (das war der Aberglaube jener Zeit und wer auch nicht daran dachte, Bonaparte zu gleichen, meinte doch, so wie dieser vom Schicksal behütet zu werden); er wurde durch die Oestreicher gefangen genommen und dies war ein gefürchteteres Ereigniß als bedeutende Verwundungen und war fast betrübender als der Tod für junge Leute, die sich in Thatendurst und Ruhmbegierde berauschten.

      Das war ein schmerzliches Erwachen nach einem Morgen voll heftiger Gemüthsbewegungen, dem eine Nacht voll Ungeduld und Entzücken vorangegangen war. Während dieser Nachtwache hatte er in glühender Erregung an seine Mutter geschrieben: „Wie süß ist es, geliebt zu sein! eine gute Mutter, treffliche Freunde, eine schöne Geliebte zu haben, ein wenig Ruhm und schöne Pferde und Feinde, die wir bekämpfen!“ Er hatte ihr aber nicht gesagt, daß er denselben Tag, denselben Augenblick zum Kampfe mit den Feinden ging, deren Gegenwart zu seinem Glück gehörte. Er versiegelte den Brief, in welchem er eben ein zärtliches Lebewohl ausgesprochen hatte, das vielleicht sein letztes Abschiedswort war, aber er ließ die Mutter im Glauben, daß er nur sein Pferd besteigen wolle, um zu recognosciren. Er gehörte ganz der Liebe und dem Kriege und hatte, obwohl er von Anstrengung erschöpft war, nicht daran gedacht, eine Stunde zu schlafen. Für ihn, wie für Alle war das Leben in jenem Augenblicke so voll und so warm! In derselben Nacht hatte er auch seinem