George Sand

Geschichte meines Lebens


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ohne sich uns zu erschließen, weil sie vegetiren, ohne sich selbst zu erkennen. Und wenn auch ihr Dasein, mag es noch so mangelhaft entwickelt sein, immer einen gewissen Nutzen, eine gewisse Nothwendigkeit nach den Gesetzen der Vorsehung erfüllt, so ist es doch leider gewiß, daß die Offenbarung ihres Lebens unvollkommen und für die übrige Menschheit moralisch unfruchtbar bleibt.

      Die lebendigste und ergiebigste Quelle der Entwicklung des Menschengeistes ist — um die Sprache meiner Zeit zu sprechen — der Begriff der Solidarität [Im vergangenen Jahrhundert hätte man Empfindsamkeit gesagt, in frühern Zeiten christliche Liebe, vor fünfzig Jahren Brüderlichkeit.]. Den Menschen aller Zeiten ist er deutlich oder undeutlich zum Bewußtsein gekommen und so oft einer unter ihnen mit der mehr oder minder entwickelten Fähigkeit begabt gewesen ist, das eigne Dasein zu offenbaren, ist er zu dieser Offenbarung durch den Wunsch seiner Umgebung oder durch eine innere, mächtige Stimme getrieben. Es war ihm dann, als ob es sich um die Erfüllung einer Verpflichtung handelte — und so war es in der That; mochten nun historische Ereignisse zu erzählen sein, deren Zeuge er gewesen war; mochte er mit einflußreichen Persönlichkeiten verkehrt oder als Reisender Menschen und Dinge von neuen Gesichtspunkten aufgefaßt haben.

      Es giebt noch eine Art subjectiver Arbeit, welche seltener vollbracht wird, und welche meiner Meinung nach von ebenso großem Nutzen ist: ich meine die Arbeit, das innere, seelische Leben zu erzählen, das heißt, eine Geschichte des eignen Geistes und eignen Herzens, zur Belehrung für die Brüder. Wenn diese subjectiven Eindrücke, diese Reisen oder Reiseversuche in die abstracte Welt des Gedankens oder des Gefühls von einem aufrichtigen, ernsten Geiste mitgetheilt werden, können sie eine Anregung, eine Ermuthigung und selbst ein Rath für andere Geister sein, die noch im Labyrinth des Lebens irren. Es ist gleichsam ein Austausch des Vertrauens und der Sympathie, welcher gleichzeitig die Seele des Erzählers und des Hörers erhebt. Im gewöhnlichen Leben veranlaßt uns ein natürlicher Trieb zu diesen ebenso demüthigen als stolzen Mittheilungen — denn wenn ein Freund, ein Bruder uns die Qualen und Verwirrungen seiner Lage gesteht, haben wir keine bessern Beweisgründe, um ihn zu stärken und zu überzeugen, als diejenigen, die wir aus unserer Erfahrung schöpfen; so sehr fühlen wir dann, daß das Leben eines Freundes unser eignes ist, wie das Leben des Einzelnen dem Ganzen gehört. „Ich habe dieselben Uebel ertragen, ich habe dieselben Klippen durchschifft und ich habe das überwunden, also kannst auch Du genesen und siegen“ — das ist's, was der Freund dem Freunde, der Mensch dem Menschen sagt. Und wer von uns hätte nicht, in den Augenblicken der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung, wenn die Liebe und Hülfe eines andern Wesens unentbehrlich sind, einen mächtigen Eindruck durch die Ergießungen der Seele empfangen, der wir eben unsere Schmerzen vertrauten?

      So ist es also die geprüfteste Seele, die am meisten Gewalt über Andere hat. In Gemüthsbewegungen suchen wir nicht leicht die Unterstützung des Zweiflers, des Spötters oder des Stolzen; nach einem, der unglücklich ist wie wir, oder noch unglücklicher, wenden wir die Blicke und strecken wir die Hände aus. Ueberraschen wir ihn im Augenblick der Noth, so wird er das Mitleid kennen und mit uns weinen; rufen wir ihn an, wenn er im vollen Besitz der Kraft und Klarheit ist, so wird er uns leiten und retten vielleicht — aber jedenfalls wird er nur insoweit von Einfluß auf uns sein, als er uns versteht; und damit er uns verstehe, muß er unser Vertrauen mit etwas Aehnlichem zu erwiedern haben.

      Die Erzählung der Leiden und Kämpfe aus dem Leben des Einzelnen ist also Belehrung für Alle; es würde auch Hülfe für Alle sein, wenn Jeder wüßte, wodurch er gelitten und was ihn gerettet hat. Von diesem erhabenen Gesichtspunkte aus und beherrscht von einem glühenden Glaubenseifer, schrieb der heilige Augustin seine Bekenntnisse, welche zugleich die seines Jahrhunderts waren und mehrern christlichen Generationen wirksame Hülfe gewährten.

      Eine weite Kluft trennt die Bekenntnisse J. J. Rousseau's von denen des Kirchenvaters. Das Ziel des Philosophen aus dem 18. Jahrhundert erscheint subjectiver, also weniger ernst und weniger nützlich. Er beschuldigt sich, um Gelegenheit zu Entschuldigungen zu haben; er enthüllt verborgene Fehler, um öffentliche Verleumdungen zurückzuweisen. So ist das Ganze ein Gemisch von Hochmuth und Demuth, das uns zuweilen durch seine Affectation empört, oft durch seine Aufrichtigkeit entzückt und hinreißt. Darum enthält die berühmte Schrift, so fehlerhaft und strafbar sie auch sein mag, die ernstesten Lehren und je mehr sich der Märtyrer, in der Verfolgung seines Ideals, erniedrigt und verirrt, um so mehr werden wir von diesem Ideale ergriffen und angezogen.

      Man hat die Bekenntnisse Jean Jacques' zu lange als rein persönliche Apologie betrachtet. Er hat sich zum Mitschuldigen dieses schlechten Erfolges gemacht, denn er hat ihn durch die Vorurtheile herbeigeführt, die in sein Werk verwebt sind. Aber heutigen Tages, da seine persönlichen Freunde und Feinde nicht mehr leben, beurtheilen wir das Buch von einem höhern Gesichtspunkte. Es kommt uns nicht mehr darauf an zu wissen, bis zu welchem Grade der Verfasser der Bekenntnisse ungerecht oder krank war und bis zu welchem Grade seine Verleumder sich ruchlos oder grausam bewiesen. Was uns interessirt, uns erleuchtet und Einfluß auf uns übt, ist der Anblick dieser begeisterten Seele im Kampfe mit den Irrthümern seiner Zeit und den Hindernissen seiner philosophischen Bestimmung. Es ist das Ringen dieses Genius, der für Sittenstrenge, Unabhängigkeit und Würde glüht, mit der leichtsinnigen, ungläubigen und verderbten Gesellschaft, in der er sich bewegt — die zu jeder Stunde, bald durch Verführung, bald durch Bedrückung auf ihn einwirkt und ihn bald in den Abgrund der Verzweiflung wirft, bald zu erhabnen Widersprüchen aufruft.

      Wenn die Grundidee der Bekenntnisse gut wäre, wenn eine Pflichterfüllung darin läge, unsere kindischen Vergehen aufzusuchen und unsre unvermeidlichen Fehler zu erzählen, würde auch ich vor dieser öffentlichen Buße nicht zurückweichen. Aber nach meiner Ansicht ist diese Art sich anzuklagen durchaus nicht demüthig, auch hat sich das allgemeine Gefühl nicht täuschen lassen. Es ist weder nützlich noch erbaulich zu wissen, daß Jean Jacques Rousseau meinem Großvater drei Francs zehn Sous gestohlen hat, um so mehr, da die Thatsache nicht erwiesen ist. [Dies ist der Tatbestand, wie ich ihn in den Papieren meiner Großmutter gefunden habe: „Francueil, mein Mann, sagte eines Tages zu Jean Jacques, laßt uns in's Theater français gehen. Ja wohl, sagte Rousseau, das wird uns wenigstens für eine oder zwei Stunden zu gähnen geben. — Dies ist vielleicht die einzige witzige Antwort, die er in seinem Leben gegeben hat und noch dazu ist sie nicht sehr geistreich. Vielleicht war es an diesem Abend, daß Rousseau meinem Manne drei Francs zehn Sous entwendete. Uns ist die Erzählung dieser Spitzbüberei immer wie eine Affectation erschienen. Francueil hatte keine Erinnerung daran bewahrt, er dachte sogar, daß Rousseau sie erfunden hätte, um die Zartheit seines Gewissens zu beweisen und um zu verhindern, daß man an Sünden glaubte, die er nicht bekannte. — Und überdies, wenn es wahr wäre, guter Jean Jacques! Ihr müßtet heute Eure Peitsche ganz anders knallen lassen, wenn wir nur die Ohren danach spitzen sollten.“] Auch ich erinnere mich, in meiner Kindheit heimlich und mit Vergnügen zehn Sous aus dem Geldbeutel meiner Großmutter genommen zu haben, um sie einem Armen zu geben. Ich finde, daß darin kein Grund liegt, mich zu loben oder anzuklagen; es war ganz einfach ein dummer Streich, denn um das Geld zu bekommen, brauchte ich es nur zu verlangen.

      So sind die meisten Fehler von uns ehrlichen Leuten auch weiter nichts, als dumme Streiche, und wir wären sehr thöricht, uns deshalb vor den Unredlichen zu beschuldigen, die das Böse mit Kunst und Vorbedacht ausüben. Das Publikum besteht aus den Einen und Andern, und es ist ihm wahrlich zu viel Aufmerksamkeit bewiesen, wenn wir uns schlechter darstellen, als wir sind, um es zu rühren oder ihm zu gefallen.

      Ich leide unendlich, wenn ich den großen Rousseau sich so erniedrigen und sich einbilden sehe, daß er durch Uebertreibung oder wohl gar Erfindung dieser Sünden sich von den Herzensfehlern reinigt, die seine Feinde ihm zuschreiben. Durch seine Bekenntnisse hat er sie sicherlich nicht entwaffnet; aber genügt es nicht, um ihn rein und gut zu glauben, die Theile seines Lebens zu lesen, in denen er sich anzuklagen vergißt? nur in diesen ist er unbefangen; das fühlt sich leicht.

      Darum, mögen wir rein oder unrein, klein oder groß sein, es bleibt immer Eitelkeit, kindische, unglückliche Eitelkeit, die eigne Rechtfertigung unternehmen zu wollen. Ich habe nie begriffen, wie ein Angeklagter auf der Bank des Verbrechens irgend etwas zu erwiedern vermag. Ist er schuldig, so wird er es noch mehr durch die Lüge, und die entdeckte Unwahrheit fügt zu der Härte der Strafe Demüthigung und Schande. Ist er aber