Hans Herrmann

Halt oder ich scheisse!


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die Schar – bis auf die Unteroffiziere, die den Vorgang wie bissige Hirtenhunde beaufsichtigen – in Zivilkleidern. Damit wird aber bald Schluss sein. In den nächsten vier Monaten werdet ihr – ausgenommen während des Wochenendurlaubs – in der Uniform oder im Kampfanzug stecken.

      Nun zieht und schiebt dich die Jungmännerschlange auf das obere Stockwerk, das die Armeeschneiderei und einen imposanten Fundus an militärischen Kleidungsstücken beherbergt. In einem grossen Raum mit niedriger Decke erwarten euch eine Frau und ein Mann, die euch mit feldgrauen Textilien ausrüsten.

      Es geht flink vonstatten. Innert fünf Minuten bist bereits du an der Reihe. Mit einer ungeduldigen Gebärde heisst dich die Frau auf eine Holzkiste steigen. Du legst dein Bündel auf den Boden und erklimmst die Kiste. Die Frau – sie ist klein und drall – tritt ein paar Schritte zurück, stemmt die Arme in die breiten Hüften, mustert dich mit kleinen, zusammengekniffenen Augen verächtlich und ruft dann dem Mann neben ihr auf französisch eine Zahl zu. Sogleich setzt sich der Mann in Bewegung, wieselt zwischen hohen Kleiderstapeln hin und her, greift sich hier und da etwas heraus und kommt nach kurzer Zeit zurück, um dir ein Exerziertenue aus grobem Stoff, einen Dienstanzug aus etwas weniger grobem Stoff, einen Arbeitsanzug – das sogenannte Tenue Blau –, einen Kampfanzug, drei Armeehemden mit Achselschlaufen, zwei olivgrüne Rollkragenpullover mit Reissverschluss, einen Ledergürtel und zwei paar klobige Schuhe auszuhändigen.

      Du stapelst die guten Stücke auf dein Bündel, schaufelst es wieder auf deine ausgestreckten Arme, die die Last kaum mehr zu tragen vermögen, und stolperst in ein kleines Nebengemach, wo ein bebrillter, mit einem Messband ausgerüsteter Schneidermeister über einen erlesenen Vorrat an Ausgehuniformen gebietet. Mit sanften Gebärden passt er dir eine Hose aus halbwegs feinem Material und einen satt anliegenden, aber rauen Kittel an.

      Mühselig beladen schwankt die Karawane schliesslich auf den Platz vor dem Zeughaus, wo euch mehrere Pinzgauer und Lastwagen zur Fahrt in die Kaserne erwarten.

      Das Bündel auf den Lastwagen gehievt.

      "Vorwärts machen, los, vorwärts machen!", ruft ein Korporal mit grollender Kommandostimme.

      Du kletterst auf die Ladefläche. Auf den Brettern sitzen bereits sechs Mann, und ein gutes Dutzend klettert hinten nach. Ein beklemmendes, ledrig riechendes Gedränge entsteht.

      Der Unteroffizier schliesst von aussen mit lauten Gerassel die Geländerklappe. Der alte Motor brüllt auf. Der Lastwagen setzt sich in Bewegung.

      Hinauf und hinunter, ein kurzes Waldstück, eine grosse Kurve, Wohnhäuser, wieder eine Kurve. Die Kaserne. Aussteigen. Los los los. Der Feldweibel nimmt euch auf dem Exerzierplatz in Empfang.

      "In zehn Minuten wieder hier, jeder im Tenue Ex!"

      Zur Veranschaulichung hebt er ein Exerziertenue in die Höhe. Unteroffiziere geleiten euch in eure Zimmer, beaufsichtigen den Tenuewechsel. Die Jeans und bunten T-Shirts wandern in den Effektensack.

      Hinein in den feldgrauen Stoff!

      Au, wie der beisst.

      In zehn Minuten versammelt sich die nunmehr militärisch gekleidete Rekrutenkompanie wieder auf dem Platz und nimmt, in Züge gegliedert, Aufstellung.

      Welch ein Bild des Jammers!

      Dir und vielen anderen schlottern die grob geschneiderten Beinkleider aus dem Zweiten Weltkrieg handorgelmässig um die Beine, während andere Kameraden in lächerlichen Hochwasserhosen stecken. Hier eine Schiffchenmütze, die zwei Nummern zu gross ist, da ein Kittel, der zu knapp sitzt, und dort Ärmel, die bereits in der Mitte des Unterarms enden. Dazu immer diese klobigen Clownschuhe.

      "Kompanie – Achtung!", ruft der Feldweibel mit heiserem Bellen.

      Wahrlich – er präsentiert dem Kompaniekommandanten, der nun strammen Schrittes erscheint, einen prächtigen Haufen.

      2. Mannesweihe zwecks Brechung

      Die Kaserne ist uralt. Eigentlich müssten Risse den Boden durchziehen, aus denen Unkraut wuchert. Die Unteroffizierstoilette wäre eine Tropfsteinhöhle. In den Offizierszimmern hätte es molch- und krötenbevölkerte Pfützen, und die Jukebox in der Soldatenstube würde heiser den Song vom Zerfall krächzen.

      Stattdessen aber hat ein streng konservierender Wille die ausgetretenen Stufen poliert. Sie starren stur im Glanze des Bohnerwachses. Die Fenster hängen schief in den Angeln, aber sie blitzen. In den hallenden Küchen blendet gewetztes Weiss. Feldstandarten drohen von den Wänden. Schwere Holztüren, metallgenietet, lassen beim Zuschlagen die Rahmen angstvoll erzittern.

      Nicht genug, dass die Burschen unter der Last von rauen Stoffen, ranzig geöltem Hartlederzeug und klebrig gefetteten Gerätschaften wanken. Nicht genug, dass der Feldweibel unermüdlich schimpft und bellt. Nicht genug, dass Offiziersdolche hämisch pendeln und ein Oberst lauernd die Steinfliesen bestiefelt.

      Es muss die Brechung eine in tiefste Schichten greifende sein, und hierzu wurde ein Ritual geschaffen, das sich, sieh nur, hier in diesem öden Saal unter tötendem Schweigen abspielt.

      In einer Reihe sitzen nebeneinander vielleicht acht Weisskittel in Offiziersrang auf alten Stühlen wie festgeschraubt. Die Rekruten müssen, bevor sie eintreten, ihre Kleider zu einem Bündel schnüren und auf dem Boden des Korridors deponieren. Nur die Unterhosen dürfen sie anbehalten. Schritt für Schritt geht's dann, fast nackt, in Einerkolonne hinein zu den Armeeärzten.

      Dich friert, weniger vom Durchzug als vom kühlen Atem eines herrischen Waltens. Nackte Schritte patschen über den Boden, und blasse Rücken ziehen den Nacken ein.

      Da erfolgt aus dem Irgendwo eine Anweisung, unsichtbar und unausweichlich wie das Schicksal. Du stehst verzagend vor einem Weisskittel, einem Mann von müder Hagerkeit und grauer Gesichtshaut. Er ist wohl nicht freiwillig Offizier geworden, sondern dazu verknurrt worden, weil er Medizin studiert hat. Ein eingefleischter Militärkopf sieht anders aus. Du schaust ihm in die dunkel bebrauten Augen, die schon so viel Geschwüriges gesehen haben, und auf die erkahlende Stirn.

      Er richtet milde und mit welschem Akzent das Wort an dich und beginnt, die ärztliche Eintrittsmusterung vorzunehmen, fragt dies und das, deine Befindlichkeit sondierend, tätigt auch hier und da mit leichter Hand eine kleine Verrichtung an deinem Körper, ein behutsames Drücken auf den Sitz der Milz etwa oder einen ordnenden Handgriff an den Schultern, ungefähr so, wie ein Modeschöpfer letzte Manipulationen an einem Model vornimmt, das in wenigen Sekunden auf den Laufsteg muss.

      Zwischen den Knien dieses ermüdeten Priesters der Körperlichkeit ruht eine flache Metallschale mit Wasser. Mit langen, schlanken Fingern greift er nun feierlich ins Wasser, als wolle er die Hand nicht nur reinigen, sondern auch weihen, und zieht dir alsdann behutsam die Unterhosen von den Hüften herunter, sodass deine Blösse seinem Auge preisgegeben ist.

      Mit bedächtigen Griffen, die einem reglementarischen Muster folgen, geht er dir an die Blösse. Es ist ein vordringendes Greifen unten am Hodensack, ein stossendes Kneten, ein drückendes Schrauben, das körperlich unangenehm und seelisch demütigend ist. So muss es wohl sein, wenn der Leitwolf am Geschlechtsteil eines untergeordneten Tieres herumschnüffelt, um ihm seine Macht und Überlegenheit zu demonstrieren. Hier wird die Demütigung zwar von einem sanftmütigen Arzt vollzogen, der so gar nichts Wölfisches an sich hat, aber er tut es im Namen einer totalitären Organisation.

      Es ist vorbei. Während der Arzt seine Hände wieder ins Kniebecken taucht, ziehst du die Unterhose über deine Blösse. Er wünscht dir einen guten Dienst, milde und voller Mitgefühl.

      Er hat das Ritual der Demütigung an dir vollzogen. Er hat dir an die Blösse gegriffen, ohne dass du einschreiten durftest. Du bist für den Rest der Rekrutenschule ein Knecht, ein Höriger, ein Leibeigener.

      So hat es die Armee in psychologischem Feinsinn ausgeheckt und angeordnet: Hodensackgriff zur Duckung aufmuckender Jungmännergesinnung. Eine andere Absicht kann diesmal kaum dahinterstecken. Besagter Griff ist nämlich bereits vor einem Jahr an der Aushebung zur Anwendung gelangt, damals noch zum einleuchtenden Zweck, die Stellungspflichtigen auf einen