Volk und seine Religion sind alt, aber diese Religion ließ trotz ihrer unzähligen Vorschriften und Gesetze in meinem Geiste eine Leere zurück. Ich suchte in meiner inneren Verlassenheit einen Ort, wo ich allein sein konnte mit meinem Gott. Ich wanderte den Ganges entlang, seiner Quelle zu, und kam hoch in das Himalayagebirge. Dort, fern von der Welt, ließ ich mich nieder, um im Umgange mit Gott in Gebet, Betrachtung, Abtötung und Fasten mich auf den Tod vorzubereiten. Eines Nachts wandelte ich die Ufer des Sees entlang und sprach zur lauschenden Stille: ›Wann wird Gott kommen und sein Eigentum fordern? Gibt es denn keine Erlösung?‹ Plötzlich begann ein Licht über der Wasserfläche emporzuzittern; bald erhob sich ein Stern, bewegte sich auf mich zu und blieb über mir stehen. Sein Strahlenglanz blendete mich. Während ich am Boden lag, hörte ich eine Stimme, die mit unendlicher Süßigkeit zu mir sprach: ›Deine Liebe hat gesiegt. Gesegnet bist du, Indiens Sohn! Die Erlösung ist nahe. Mit zwei anderen, die von fernen Erdteilen kommen werden, sollst du den Erlöser sehen und von ihm Zeugnis geben. Wenn der Morgen kommt, dann mache dich auf und eile ihnen entgegen; vertraue dich dem Geiste an, der dich geleiten soll!‹ Von der Zeit an blieb das Licht in meiner Nähe, daraus erkannte ich die unmittelbare Führung des Geistes. Unterwegs fand ich in einem Felsenspalt einen Edelstein von seltenem Wert, den ich verkaufte. Über Lahore, Kabul und Jezd kam ich nach Ispahan. Dort kaufte ich das Kamel und reiste sofort nach Bagdad, ohne erst eine Karawane abzuwarten. Ich wanderte allein meines Weges, ohne Furcht, denn der Geist war mit mir und ist noch mit mir. Welche Ehre erwartet uns, Brüder! Wir sollen den Erlöser sehen, zu ihm sprechen, ihn anbeten!«
Nunmehr begann der Ägypter mit würdevollem Ernst seinen Bericht:
»Eure Worte, Brüder, kamen aus dem Geiste; und der Geist wird mich lehren, sie zu verstehen. Ich bin Balthasar aus Ägypten. Ich wurde zu Alexandrien als Sohn eines Priesters aus fürstlichem Geschlecht geboren und erhielt eine meinem Stande angemessene Erziehung. Aber früh schon ward ich mit einer Lehre, die glaubte, daß wir Menschen immer wieder durch alle Stufen der Geschöpfe wandern müßten, unzufrieden. Ich glaubte, daß die Seele für eine höhere Bestimmung geschaffen sei. Schließlich sah ich ein, daß der Tod nur eine Scheidung zwischen Guten und Bösen bedeute, daß letztere dem Verderben anheimfallen, die ersteren aber zu einem höheren Leben aufsteigen. Ich zog mich von der Welt zurück und widmete mich dem Gebete. Weit in das Innere von Afrika hinein führte mich mein Weg. Eines Abends, als ich in einem Palmenhaine meiner Betrachtung oblag, blendete mich plötzlich ein strahlendes Licht. Ein heller Stern stand über mir, und eine Stimme sprach: ›Deine guten Werke haben gesiegt. Gesegnet bist du, Mizraims Sohn! Die Erlösung naht. Mit zwei anderen, die von fernen Landen kommen, sollst du den Heiland sehen und von ihm Zeugnis geben. Am Morgen erhebe dich und eile ihnen entgegen, und wenn ihr alle in die heilige Stadt Jerusalem kommet, fraget das Volk: Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Morgenlande gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten! Vertraue in allem dem Geiste, der dich geleiten wird.‹ Und das Licht leuchtete auch in meiner Seele und blieb bisher bei mir als Lenker und Führer. Es führte bis Memphis, wo ich Vorbereitungen für die Reise durch die Wüste traf. Ich kaufte mein Kamel und kam in rastloser Eile über Suez und Kufileh und hierauf durch das Land der Moabiter und Ammoniter bis hierher. Gott ist mit uns, Brüder!«
Er hielt inne; wie einer inneren Eingebung folgend, erhoben sich alle und blickten einander an. Unwillkürlich reichten sie sich die Hände.
»Ist das nicht eine wunderbare göttliche Fügung?« rief Balthasar. »Wenn wir den Herrn gefunden haben, werden jene Brüder und mit ihnen alle Völker der Erde ihm huldigen. Und wenn wir voneinander scheiden, wird durch die Welt die Kunde eilen, daß nicht durch das Schwert noch durch menschliche Weisheit der Himmel erobert werden kann, sondern nur durch Glaube, Liebe und gute Werke.«
Es folgte tiefes Schweigen. Die Freude, die ihr Herz bewegte, füllte ihre Augen mit Tränen. Dann lösten sich ihre Hände und sie traten zusammen vor das Zelt hinaus. Tiefe Stille herrschte ringsum, kein Lüftchen regte sich. Die Sonne eilte dem Untergange zu. Die Kamele schliefen.
Nach einer Weile brachen die Freunde das Zelt ab, stiegen auf und ritten einer hinter dem andern unter Anführung des Ägypters weiter. Sie nahmen ihre Richtung genau nach Westen. Die kühlende Nacht senkte sich auf die Wüste. Die Kamele trabten munter und so gleichmäßig vorwärts, daß die nachfolgenden immer in die Schatten des ersteren zu treten schienen. Die Reiter schwiegen.
Nach und nach kam der Mond herauf. Wie die drei hohen weißen Gestalten geräuschlos durch das fahle Licht dahinglitten, mochten sie fliehenden Gespenstern ähnlich erscheinen. Plötzlich erstrahlte vor ihnen, scheinbar nicht höher als der Gipfel eines Hügels, ein flammendes Licht. Ihre Herzen pochten schneller, ihre Seele durchrieselte heiliger Schauer, und wie aus einem Munde riefen sie:
»Der Stern! Der Stern! Gott ist mit uns!«
Zweites Kapitel
An der Westseite der Mauer Jerusalems befindet sich das Bethlehem- oder Joppe-Tor. Der Platz vor demselben ist einer der bemerkenswertesten der Stadt. Lange bevor David nach Zion strebte, stand dort eine befestigte Burg, und in den Tagen Salomos herrschte daselbst lebhafter Verkehr. Kaufleute aus Ägypten und reiche Händler aus Tyrus und Sidon boten ihre Waren feil. Nahezu dreitausend Jahre sind seitdem verflossen, und noch immer heftet sich an den Platz eine Art Handelsverkehr.
Es war um die dritte Stunde des Tages. Viele Juden hatten den Markt schon verlassen, doch schien das Gedränge kaum abzunehmen, denn es kamen immer wieder einzelne hinzu.
Unter den Neuangekommenen befand sich eine Gruppe, die aus einem Mann, einem Weib und einem Esel bestand. Der Mann hielt das Tier am Zaume und stützte sich auf einen Stab. Seine Gesichtszüge ließen ihn als fünfzigjährig erscheinen, eine Vermutung, die durch das Grau, womit sein sonst schwarzer Bart untermischt war, bestätigt wurde. Der halb neugierige, halb leere Blick, mit dem er das Treiben um sich betrachtete, bewies, daß er ein Fremder vom Lande war. Der Esel kaute gemächlich an einem Häuflein Gras, woran auf dem Markte kein Mangel war. In seiner schläfrigen Genügsamkeit ließ er sich weder von dem ihn umgebenden Lärm stören, noch schien er sich um die weibliche Gestalt zu kümmern, die auf seinem Rücken in einem gepolsterten Sattel saß. Ein Oberkleid aus dunklem Wollenstoff bedeckte vollständig ihren Körper, während ein weißer Schleier Kopf und Hals verhüllte. Hin und wieder lüftete sie den Schleier, um zu sehen, was um sie vorging, aber nur so wenig, daß ihr Gesicht unsichtbar blieb.
Endlich wurde der Mann angesprochen.
»Bist du nicht Josef aus Nazareth?«
Der Sprecher stand ganz nahe bei ihm.
»So nennt man mich,« erwiderte Josef und wandte sich um.
»Und du?« – O, Friede sei mit dir, mein Freund, Rabbi Samuel!«
»Das gleiche wünsche ich dir!« Der Rabbi hielt inne, blickte auf die Frau und fügte dann hinzu: »Friede sei mit dir und mit deinem Hause und mit all den Deinigen!«
Beim letzten Worte legte er eine Hand auf die Brust und verneigte sich gegen die Frauengestalt. Diese hatte, um ihn zu sehen, den Schleier etwas zurückgezogen, so daß ihr Antlitz sichtbar wurde. Sie schien erst seit kurzem dem Mädchenalter entwachsen zu sein.
Die Männer reichten einander die Hand, dann fragte der Rabbi:
»Ihr habt also einen langen Weg vor euch; doch nicht bis Joppe?«
»Nein, nur bis Bethlehem.«
Der bisher offene und freundliche Blick des Rabbi verfinsterte sich, und aus seiner Kehle kam es wie ein Geknurre herauf.
»Ja, ja, ich verstehe,« sagte er. »Du bist in Bethlehem geboren und gehst nun mit deiner Tochter dahin, dich der kaiserlichen Verordnung gemäß wegen Besteuerung einschreiben zu lassen. Den Kindern Jakobs ergeht es wie einst den Stämmen in Ägypten; nur haben sie jetzt weder einen Moses noch einen Josua. Wie tief sind doch die Mächtigen gesunken!«
»Sie ist nicht meine Tochter,« antwortete Josef. »Sie ist das Kind Joachims und Annas aus Bethlehem, von denen du sicher gehört hast, denn sie standen in hohem Ansehen –«
»Ja,«