Peter Wolff

Vendetta Colonia


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zunächst als Waschmittel- und Seifenverkäufer durch Köln und schreibt bisweilen Berichte über regionale Fußballspiele, die eine ansässige Tageszeitung in Auftrag gibt. Diese beeindrucken die Zeitungsmacher so sehr, dass Werner Schmitz einige Zeit später als Lokal- und Sportredakteur fest eingestellt wird.

      03

      Jugoslawien wird nach Kriegsende als sozialistischer und föderaler Staat neu gegründet. Die jugoslawischen Kommunisten errichten 1945 sechs eigenständige Teilrepubliken: Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Montenegro und Bosnien-Herzegowina.

      Wie in allen kommunistischen Ländern, wird das Wirtschaftssystem nach 1945 völlig umgestaltet. Industrie und Banken werden verstaatlicht, der Großgrundbesitz aufgeteilt.

      Am 7.April 1963 wird Josip Broz, besser bekannt als Tito, zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt (07). Dem neuen Staatschef gelingt es, seinen Staat vom Einfluss der stalinistischen Sowjetunion zu lösen.

      Weil sich Jugoslawien von der Sowjetunion losgesagt hat, erhält das Land auch massive Wirtschaftshilfe des Westens, wobei es gleichzeitig enge Handelsbeziehungen zum RGW, einer internationalen Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion, unterhält. So scheint das sozialistische Wirtschaftssystem Jugoslawiens zunächst erfolgreich zu sein, die Lebensverhältnisse im Land bessern sich.

      Tito glaubt an den "dritten Weg", einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Er revolutioniert die Gesellschaft nach sozialistischem Vorbild, die Landwirtschaft wird kollektiviert, die Industrie verstaatlicht.

      Marktwirtschaftliche Ansätze sowie der Tourismus kurbeln die Wirtschaft des Landes an, dank der Reisefreiheit fließen viele Devisen von Gastarbeitern nach Jugoslawien zurück. Jugoslawien ist das Freieste der sozialistischen Länder (08).

      Jedoch gelingt es nicht, die südlichen Republiken wirtschaftlich zu entwickeln, hier herrschen weiterhin Arbeitslosigkeit beziehungsweise Unterbeschäftigung vor. Es fehlt an der Infrastruktur und an Investoren, um den wirtschaftlichen Aufschwung in Gang zu setzen. So kommt es, dass Zehntausende Jugoslawen als Gastarbeiter nach Westeuropa gehen (09).

      Enver Krupcic lebt mit seiner Frau Vesna in der Nähe von Novisad. Die Kinder Dragica und Davor wohnen noch im Elternhaus, der älteste Sohn Borna nur wenige Kilometer entfernt. Enver betreibt eine kleine Schmiederei, die nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlicht wird.

      Enver Krupcic hat einen Freund in Deutschland, Filip Krastic, der in Köln in einer großen Automobilfirma arbeitet und sich schon ein gutes Stück bis zum Vorarbeiter emporgearbeitet hat. Er verfügt über entsprechende Kontakte und kann Envers Sohn Borna einen Arbeitsplatz in der Fertigung von Automobilen beschaffen.

      Familie Krupcic sitzt beim Abendessen.

      „Borna, das ist eine große Chance für Dich.“

      „Ich weiß, Papa. Aber ich möchte lieber hierbleiben, in meiner Heimat etwas aufbauen und die Familie unterstützen.“

      „Und eben das kannst Du am besten, in dem Du nach Deutschland gehst und dort gutes Geld verdienst.“

      „Und meine Familie lasse ich hier zurück? Ich habe zwei kleine Kinder und eine Ehefrau, die Unterstützung braucht.“

      „Du weißt genau, dass es Deiner Familie an nichts fehlen wird. Wir kümmern uns jeden Tag um sie.“

      Bornas Frau Ana ergreift das Wort. „Borna, Dein Vater hat recht. So schwer es uns allen auch fällt, Du solltest gehen.“

      „Das sagst Du so einfach?“

      „Borna!“, mischt sich sein Vater ein. „Mach' Deiner Frau das Herz nicht unnötig schwer.“

      „Sobald Du Dich eingelebt hast, kannst Du Deine Familie nachholen.“

      „Ich würde lieber wieder zurückkehren, sobald ich in der Heimat eine Perspektive habe.“

      „Wir werden sehen. Also. Darf ich Filip sagen, dass Du kommst?“

      „Habe ich eine Wahl?“, fragt Borna mit gesenktem Haupt.

      „Du tust das Richtige, glaub' es mir, mein Junge.“

      04

      Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs wächst im Nachkriegsitalien die Nachfrage nach einer qualifizierten Schul- und Hochschulbildung. Die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation breiter Bevölkerungsschichten führt zu einem stärkeren Zustrom zu den höheren Schulen und den Universitäten. Der unter dem Faschismus elitär und ideologisch reduzierte Hochschulzugang wird weitestgehend liberalisiert. Die Ausdehnung der Bildungsnachfrage führte zur Gründung zahlreicher neuer Universitäten. Die Städte profitieren von den neuen Hochschulen kulturell wie wirtschaftlich und sehen in ihnen einen Zugewinn an sozialem und nationalem Prestige (10).

      Guiseppe Scirelli, Sohn von Gianni Scirellis Bruder Andrea, studiert economia politica, Volkswirtschaftslehre, an der Universität in Florenz, einer der ältesten Universitäten Italiens, gegründet 1321 (11).

      Nach Beendigung seines Studiums gewinnt er Anfang der 60er Jahre innerhalb des Clans immer mehr Einfluss.

      Auch, weil er offen Gedanken ausspricht, die viele seiner Verwandten sich nicht auszusprechen trauen, obschon auch sie ähnlich denken.

      Der Nationalsozialismus ist in Italien auch 20 Jahre nach Kriegsende durchaus noch gegenwärtig.

      Guiseppe Scirelli ist ein Verfechter der Theorie von Charles Darwin. Dieser ging davon aus, dass in der Natur ein ständiger Austauschprozess herrsche. In diesem würden für das Überleben ungünstige Merkmale automatisch eliminiert (12).

      Ansichten, die auch Benito Mussolini, Staatsoberhaupt Italiens während des Zweiten Weltkrieges, und sein Bruder im Geiste, der deutsche Diktator Adolf Hitler, ausgiebig propagierten.

      Das Gedankengut des „Duce“ und jenes vom „Führer“ - ganz im Sinne des Emporkömmlings im Familienclan.

      Guiseppe Scirelli bewundert Adolf Hitler insbesondere für seine Aktion, die den Decknamen „T4“ trägt.

      Die Nazis bezeichneten es auch als Euthanasie – eine zynische Entfremdung des Wortes, das eigentlich einen leichten und schönen Tod meint.

      T4 steht für die Tiergartenstraße 4 in Berlin. Hier befand sich der Hauptsitz der Aktion. Ihr Leiter war der Chef der "Kanzlei des Führers", Philipp Bouhler.

      Gemeinsam mit Ärzten, Pflegern und anderen setzte er die Tötung von mehreren Tausend Kranken und Menschen mit Behinderung um.

       In speziellen Kammern erwartete sie der Tod durch Vergasung oder Giftspritze (13).

      Rund 200.000 Behinderte fielen im Dritten Reich dem "Euthanasie"-Programm der Nazis zum Opfer. (14)

      Hitler sah sich als Beschleuniger des in der Natur ohnehin vorhandenen Ausleseprozesses, in dem sich nur die stärkere Rasse durchsetzen wird.

      Ähnlich denkt Guiseppe Sicrelli. Behinderte Menschen sind ihm ein Gräuel, mehrmals stellt er deren Eingliederung in die Gesellschaft öffentlich infrage. Als er zum Kommunalpolitiker aufsteigt, plädiert er für große Behindertenheime, isoliert in ländlichen Gebieten, in denen man geistig oder körperlich behinderte Menschen unterbringen soll.

      Gehandicapte Menschen in der eigenen Familie verachtet Guiseppe. Ein entfernter Cousin leidet unter dem Tourette-Syndrom. Darunter versteht man eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in sogenannten Tics äußert. Tics sind spontane Bewegungen, Laute oder Wortäußerungen, die ohne den Willen des Betroffenen zustande kommen. Vergleichbar ist das mit dem Niesen oder einem Schluckauf. Tics beim Tourette-Syndrom lassen sich nur bedingt kontrollieren (15).

      Guiseppe Scirelli setzt alle Hebel in Bewegung, den jungen Mann so schnell wie möglich aus dem Umfeld des Clans zu entfernen. Ein neu errichtetes Pflegeheim in der Nähe von Bergamo hat er als neues Zuhause für seinen Cousin auserkoren und arbeitet