Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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Orchestermitglieder unvermittelt einen lauten Knall. Und dort, wo Momente zuvor mein Vater seine ganze Hingabe und all das überbordende Talent seiner achtundzwanzig Lebensjahre in die Tasten eines Bösendorfer-Konzertflügels gehauen hatte, lag nun ein etwa fünfzehn Kilo schwerer Bühnenscheinwerfer. Niemand konnte wirklich verstehen, woher und wieso und warum gerade jetzt. Eine eilig angesetzte Überprüfung am Nachmittag bescheinigte dem Betreiber des Hauses, dass die Anlage ordnungsgemäß gewartet wurde und ermittelte als Ursache Materialermüdung. Bis auf die Bruchstelle, so steht es in dem Bericht, habe sich die Anlage in einwandfreiem Zustand befunden. Alles bestens also. Niemand war schuld. Ich weiß nicht, ob diese Aussage den angeblich großen Ordnungssinn meines Vaters befriedigt hätte – für seinen Schädel war sie wenig tröstlich. Er verlor den Kampf gegen die unnachgiebigen Gesetzmäßigkeiten der Physik eine knappe halbe Stunde nach dem Aufprall, als man ihn gerade auf den OP-Tisch des örtlichen Krankenhauses heben wollte.

      Meine Mutter erzählte mir die Geschichte vom Tod meines Vaters schon, als ich noch sehr klein war. Wahrscheinlich ist es sogar die erste Geschichte, die ich bewusst hörte. In meinem Kopf steht sie in einer Reihe mit den anderen Erzählungen meiner Kindheit. Märchen von Kindern, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden. Geschichten von Königinnen, die nach der Geburt ihrer Tochter sterben, um schon im nächsten Satz von einer jüngeren, schöneren Frau ersetzt zu werden. Und dazu eben der Bericht von dem talentierten jungen Musiker, der so unglücklich und sinnlos zu Tode kommt. Erst mit dreizehn oder vierzehn begriff ich wirklich, dass diese Geschichte von dem Mann handelte, der mich gezeugt, monatelang freudig auf mich gewartet und mir als Baby stundenlang Lieder vorgesungen hatte. Und erst als ich mit Mitte zwanzig zum ersten Mal von der Materialermüdung las, empfand ich so etwas wie Wut und Verzweiflung über mein eigenes Unglück. Meine gesamte Kindheit hindurch jedoch blieb der Tod meines Vaters nicht mehr als eine Geschichte.

      Verstehen Sie mich nicht falsch - natürlich konnte ich die Tragik eines so frühen Todes mit meinem Verstand erfassen. Die Geschichte an sich fand ich sehr traurig und es tat mir leid für die Frau und das Kind. Und natürlich wusste ich, dass ich dieses Kind war - aber es gelang mir nicht, diese Geschichte als persönlichen Schicksalsschlag zu empfinden. Es war einfach meine Geschichte. „Mein Vater wurde von einem herabstürzenden Scheinwerfer erschlagen, als ich noch ein Baby war“. Das ging mir vergleichsweise leicht über die Lippen. Oder einfacher: „Mein Vater ist schon lange tot.“ Die traurigen und mitleidigen Blicke, die ich daraufhin erntete, waren mir meist unangenehm. Ich wurde dann still und blickte zu Boden und irgendwie waren alle mit dieser Reaktion einverstanden. Ich selbst fühlte mich dabei wie ein schlechter Schauspieler, wie ein Betrüger. Den traurigen Jungen, den alle mitleidig anblickten, spielte ich nur vor, weil man es von mir erwartete. Aber es gelang mir nie, diese Trauer auch zu empfinden. Andere Väter waren Säufer oder Schläger. Mein Vater war tot. Es gab Schlimmeres.

      St. Peter-Ording, Montag, 2. August 2010.

       Wenn ich aus meinem Fenster blicke, in die gewaltige Weite aus Wolken und Meer, in der der Horizont heute nur als schmale hellgraue Linie auszumachen ist, dann gefällt es mir zu sagen: „Am Beginn dieser Geschichte stand der Regen.“ Diese unzähmbare, immer wiederkehrende Kraftmeierei der Natur.

       Hatte es nicht auch geregnet, als Sie mich - wie soll ich sagen? - gefunden haben oder …aufgegriffen? Oder haben Sie mich sogar gerettet? Ich erinnere mich daran, dass ihr Gesicht ganz feucht war, als sie es so nah vor meins geschoben haben. Als wären Sie, wie ich, über Nacht draußen gewesen und Tau hätte sich auf Ihre Wangen gelegt. Oder wie beim ersten Gang in die Sauna - überall diese kleinen Tröpfchen. Und dazu diese überdeutliche Stimme - als sei ich vielleicht schwerhörig oder weggetreten. Oder bescheuert. „KÖN-NEN SIE MICH HÖ-REN?“ Ich habe zwar nicht reagiert, ich weiß, aber hätten Sie mir nur etwas genauer in die Augen gesehen, dann wäre Ihnen vermutlich aufgefallen, dass ich Sie sehr wohl wahrgenommen habe.

       Dass ich auch dann noch keinen Ton von mir gegeben oder mich bewegt habe, als die Sanitäter mich auf diese Trage gehoben haben, liegt einzig daran, dass ich das nicht wollte. Ich war beschäftigt. Ich habe nachgedacht. Ich musste Ordnung schaffen in meinem Kopf. Und als Sie kamen, war ich noch nicht fertig.

       Wenn ich Ihre Fragen so lese, könnte dieser Bericht auch sehr kurz werden. „Schildern Sie die Vorkommnisse aus Ihrer Sicht“ steht hier. „Was haben Sie gefühlt? Woran haben Sie gedacht?“ Die Vorkommnisse sahen so aus: Ich saß auf dieser Bank auf dem Deich und habe rausgeschaut aufs Meer. Ob ich tatsächlich drei Tage da gehockt habe, halte ich für unwichtig. Und wenn schon? Ist das nicht meine Sache? Was ich gefühlt habe, waren die Kälte in den frühen Morgenstunden, die Sonne am Mittag, der Wind am Abend und einen stetig wachsenden Druck in der Blasengegend. Gedacht habe ich an ziemlich viel gleichzeitig. Aber vor allem: „Liv“.

       Verstehen sie mich nicht falsch. Wie ich schon gesagt habe - mir ist klar, dass es auf Außenstehende merkwürdig wirkt, wenn ein Typ mehrere Tage hintereinander auf einer Bank sitzt und nichts tut. Wenn ich ein Buch gelesen hätte - das wäre etwas anderes gewesen. Oder hätte ich die Möwen gefüttert. Wahrscheinlich hätte es schon gereicht, wenn ich eine alte Angelrute ein paar Meter vor mir in den Deich gerammt hätte. Auch wenn gar keine Schnur dran gewesen wäre und das Wasser unerreichbar weit weg - ich wette, ich wäre Ihnen dann nicht aufgefallen. Aber so ohne alles dasitzen und starren. Das ist natürlich nicht normal.

       Und auch wenn ich sicher bin, trotz meines Schweigens geistig gesund zu sein, ich denke, ich brauche Ihren Rat. Eine unabhängige Meinung zu all dem. Von einem Experten. Und wenn ich jetzt versuche zu rekonstruieren, womit alles anfing, dann fällt mir die Sache mit dem Regen ein. Das liegt sechzehn Jahre zurück, aber es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich den Regen wirklich beachtet habe. Und mir gefällt die Vorstellung, dass es eine tiefe, ursprüngliche Kraft war, die meinem Leben einen Schubs gab und in Gang setzte, was passieren würde.

       Ohne den Regen hätte ich nicht an diesem Wettbewerb teilgenommen, wäre nicht nach St.Peter gefahren, hätte niemals Liv getroffen und den Schwur und seine Folgen hätte es nie gegeben. Aber es hatte nun mal geregnet.

      Universum

      Im Frühjahr 1994 war ich sechzehn Jahre alt, besuchte die zehnte Klasse des altsprachlichen Gymnasiums meiner Heimatstadt, war mindestens einen Kopf kleiner als jeder meiner Klassenkameraden und gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, meine Existenz müsse eine Art Irrtum des Universums sein. Ich liebte Englisch und Sport - die Schwerpunktfächer meiner Schule waren Latein und Mathematik. Ich liebte Musik und hörte in jeder freien Minute Radio - meine Mutter hatte alles, was mit Musik zu tun hatte, aus unserem Leben verbannt. Vor allem aber liebte ich sämtliche Mädchen meiner Klassenstufe sowie die meisten der neunten und achten, vereinzelt auch ein paar der älteren, ohne dass mir das bisher einen einzigen Kuss, ein Händchenhalten oder auch nur eine Verabredung zum Eis essen eingebracht hatte. Ich war völlig verzweifelt über mein unspektakuläres Leben und ohne jede Idee, wie ich daran etwas ändern könnte.

      Das Spektakulärste, was im Frühling 1994 in meinem Leben passieren sollte, war die Anmeldung zu einem Wettberwerb für junge Forscher. Nie im Leben wäre ich selbst auf die Idee gekommen, bei so etwas mitzumachen und wenn doch, hätte ich die Idee sofort auf einen großen Zettel geschrieben, den Zettel zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen und den Papierkorb danach mit einer Flasche Spiritus feierlich abgefackelt. Es war mein bester und einziger Freund Basti, der diese Idee hatte. Oder eigentlich war ihm die Idee von unserem Physiklehrer eingeflüstert worden und Basti war sofort uneingeschränkt begeistert. Er meinte, wir könnten damit einen wichtigen Grundstein legen. Ein erster Schritt auf einem langen, schnurgeraden Weg in die Welt von Wissenschaft und Forschung. Und als ich diese Worte unvorsichtigerweise vor meiner Mutter wiederholte, waren die beiden wichtigsten Bezugspersonen in meinem Leben wild entschlossen, aus mir einen Forscher zu machen.

      Ich selbst war von dem Plan alles andere als begeistert. Erstens gab es nicht ein einziges naturwissenschaftliches Thema, das mich auch