Jochen Ruderer

Zwei Sommer


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      „Diesseits des Mississippi“, äffte Basti mich nach. „Was ist das denn für ein bekloppter Spruch? Und was ist das überhaupt für ein Argument?“

      Wir standen im Wartehäuschen an der Bushaltestelle, um zum Schwimmtraining zu fahren und der Regen trommelte so laut auf das Plexiglas, dass wir kaum ein normales Gespräch führen konnten. Aber wir waren allein und so brüllten wir munter gegen das Prasseln an. „Ist überhaupt kein bekloppter Spruch. Ist von meinem Vater“, rief ich und warf Basti einen Blick an den Kopf, der gleichzeitig Wut und Verletzung ausdrücken sollte. Aber Basti grinste nur. „Daran erinnerst du dich? Na, du hast ja’n phänomenales Gedächtnis, Junge!“ Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, dass ich jetzt eigentlich richtig verletzt und noch wütender sein müsste. Stattdessen musste ich grinsen. „Weißte doch. Elefanten vergessen nix.“

      Basti legte freundschaftlich den Arm um meine Schulter und im Spiegelbild des Wartehäuschens sah ich unsere verschwommene Silhouette. Basti war riesig. Er sah aus wie ein Erwachsener. Mit Haaren über der Lippe und breiten Schwimmerschultern. Darunter ich. Wie ein Kind mit viel zu großem Kopf. Die meisten Leute hielten Basti für meinen älteren Bruder, weil wir im gleichen Haus wohnten, in die selbe Klasse gingen, den selben Schwimmverein besuchten und ständig zusammen hingen. Dabei war ich fast drei Monate älter.

      „Das wäre übrigens auch ein gutes Thema“, stieg Basti wieder ein.

      „Was? Elefanten?“

      „Na ihr Gedächtnis. Ob sie wirklich so ein gutes Gedächtnis haben.“

      „Ja. Haben sie.“

      „Ja. Aber warum… das wäre eine interessante Fragestellung.“

      „Weil sie so alt werden.“

      „Wie bitte?“

      „Na die werden fast neunzig. Da müssen sie sich doch bitteschön auch an früher erinnern können. Also haben sie ein gutes Gedächtnis, weil es blöd ist, wenn die Kumpels von vor siebzig Jahren vorbeikommen und sie bieten ihnen nicht mal einen Tee an, weil sie sie gar nicht erkennen.“

      „Elefanten trinken keinen Tee.“

      „Du weißt was ich meine, Basti. Das kann man doch alles irgendwo nachlesen. In der Schulbibliothek stehen mindestens zehn Bücher zu dem Thema. Hunderte Forscher in der ganzen Welt arbeiten seit fünfzig Jahren an nichts anderem. Da müssen wir doch nicht auch noch ganz niedliche Fragen dazu stellen, damit alle Lehrer sich freuen und wir in Biologie ne bessere Note kriegen.“

      „Ich kann in Bio gar keine bessere Note kriegen.“

      Es war zwecklos. Auf alles, was ich sagte, hatte Basti eine Antwort. Und umgekehrt. Und wir kamen kein Stückchen weiter.

      „Was findest du denn interessant?“, fragte Basti plötzlich.

      „Nichts. Ich finde nichts von dem Forscher-Zwerge-Kram interessant.“

      „Ja. Aber davon abgesehen. Wenn es jetzt was mit Schwimmen zu tun hätte?

      „Hat es aber nicht. Und ich will auch gar nicht zum Schwimmen forschen. Ich will einfach schwimmen. Dabei muss ich wenigstens dein Gequatsche nicht ertragen.“

      In dem Moment kam der Bus und wir stiegen ein. Auf der letzten Bank lümmelten ein paar sehr erwachsen aussehende Jungs, also zog ich Basti in einen Vierer ganz vorne. Wir mussten rückwärts fahren und saßen gegenüber einer alten Dame mit Pudel auf dem Schoß. Aber das nahm ich in Kauf, denn unsere Streberpläne wären im hinteren Teil des Busses sicher kein günstiges Thema. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann nahm Basti einen neuen Anlauf.

      „Katrin Morgentaler macht auch bei dem Wettbewerb mit.“

      Ich starrte Basti mit aufgerissenen Augen an. Er lächelte. Die Alte lächelte. Der Pudel lächelte. Ich blickte wütend aus dem Fenster.

      „Na und?“

      „Sie untersucht das Flugverhalten von Eulen. Wie sie es schaffen, so lautlos zu fliegen.“

      „Weiche Federn“, erwiderte ich.

      „Meine Güte. Jetzt fang nicht wieder so an. Gut. Meinetwegen steht das alles schon in irgendwelchen Büchern. Aber es geht ja nicht nur um das Ergebnis, sondern um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema. Um Forschung.“

      Basti war lauter geworden und ich blickte beunruhigt auf die letzte Bank. Die beiden Jungs dort schenkten uns jedoch keinerlei Beachtung. Sie versuchten gerade, gemeinsam einen Song aus einem einzelnen Kopfhörer zu hören. Es schepperte bis nach vorne.

      „Hör zu, Pete“, versuchte Basti es nochmal. „Es muss ja nix mit Tieren sein, wenn das nicht so dein Ding ist. Gibt es denn gar nichts, was dich interessiert?“

      Ich erkannte das Scheppern, das aus dem Walkman nach vorne klang. Ben, unser Schwimmtrainer, hörte das immer in seinem Auto. Manchmal nahm er mich mit. Manchmal gab er mir auch seinen Walkman für ein paar Minuten.

      „New Model Army“, sagte ich.

      Mit einem Seufzer der Verzweiflung sackte Basti in seinem Sitz zusammen.

      „Ausgeschlossen. Wir können keine Forschungsarbeit über New Model Army machen. Das lässt der Böttcher niemals zu und das lässt auch deine Mutter niemals zu. OK. Vergiss es.“

      Dann war es wieder still. Ich blickte durch die beschlagene Scheibe nach draußen und lauschte der Musik, die von hinten kam. Man konnte den Text nicht hören, aber ich kannte ihn auswendig und sprach leise mit. …on the bus ride … that meanders… up these valleys of green and grey… Das war erstaunlich passend für eine Busfahrt durch den Regen. Vor meinen Augen schoben sich die Tropfen die Scheibe hinab, verschmolzen miteinander und rasten in mäandrierenden Rinnsalen nach unten. Ich versuchte vorauszusagen, welchen Weg der nächste Tropfen nehmen würde, aber es war unmöglich. Das Wasser schien völlig chaotische Bahnen zu nehmen. Wobei sich im unteren Teil richtige kleine Flüsse ausbildeten, die nebeneinander im Nichts verschwanden. Es faszinierte mich. Warum ging das Wasser keinen geraden Weg? Warum all die Schleifen und Bögen? Warum ließ sich die Reise des Tropfens nicht vorausberechnen? Das waren Fragen, die mich wirklich interessierten - nicht Elefanten oder Eulen. Ich drehte mich zu Basti. Er hatte die Augen geschlossen. Die Alte hatte die Augen geschlossen. Der Pudel hatte die Augen geschlossen.

      „Regen“, sagte ich.

      Basti seufzte ohne Aufzublicken. Ich grinste. Und damit hatten wir doch noch unser Forschungsthema gefunden.

      Abkürzungen

      Später behauptete Basti, er hätte schon vorher in meinen Augen gesehen, dass ich mitmachen würde. „Und zwar in dem Moment, als ich Katrin Morgentaler erwähnt habe.“ Aber das ist Unsinn. Auch meine Mutter wollte mir mein plötzliches Interesse an Wissenschaft nicht so recht abnehmen, beschloss aber, sich einfach über den Sinneswandel zu freuen und erklärte ihn sich selbst und mir als Zeichen meiner wachsenden Reife. Allerdings bedauerte sie, dass wir uns nicht für ihr Fach, Mathematik, oder wenigstens Biologie oder Chemie als Forschungsgebiet entschieden hatten. Aber als Basti ihr erklärte, dass unser Fachgebiet Geo- und Raumwissenschaft quasi zur Physik gehöre und das Ganze eine astreine naturwissenschaftliche Untersuchung werde, sah sie sehr glücklich aus. Sofort bot sie Unterstützung an. Wir könnten die Uni-Bibliothek nutzen. Sie wolle mit ihrer Chefin sprechen, damit wir Forscher interviewen könnten und so weiter. Basti musste sie bremsen. „Das ist leider verboten, Frau Boltenhagen. Wir müssen wirklich alles ganz alleine erarbeiten. Nur Herr Böttcher darf uns beraten. Er ist da offiziell als Betreuer angemeldet, wissen Sie.“ Das wirkte. Vor Regeln hatte meine Mutter Respekt. Wenn es verboten war, war es verboten.

      Bastis Begeisterung und der Stolz meiner Mutter verdrängten meine eigenen Zweifel für etwa zwei Wochen. Dann traten wir bei Herrn Böttcher an, um unseren Arbeitsplan für die nächsten Monate zu erfahren und aus meinen Zweifeln wurde die Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben.

      Zunächst