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den Kopf. Mein Leben hatte sich um einhundertachtzig Grad gedreht. Dieser eine Augenblick hatte alle meine Träume zerstört. Einfach so.

      Ich stand ungläubig und wie angewurzelt noch immer in der geöffneten Haustür und sah dabei zu, wie Mike und Anna sich aufrappelten. Sie machte sich sogar die Mühe, ihre Scham und die riesigen Brüste mit den Händen zu verdecken. Das war so unnütz! Wir kannten uns schließlich seit der Grundschule!

      Beide starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an. Wahrscheinlich starrte ich mit dem gleichen Ausdruck zurück. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr.

      Mike rieb sich den Nacken und machte zaghaft einige Schritte auf mich zu. „Oh man, Kati.“

      Danach fehlten selbst ihm die Worte, um den Mist zu beschreiben, den er verzapft hatte. Aufgrund der offenen Haustür konnte sogar unser seniler Nachbar Hubert sehen, wie sich Mikes schmale Lippen öffneten und schlossen, jedoch keinen Laut produzierten. In diesem Moment sah mein Verlobter aus wie ein hilfloser Fisch mit wirrem Haar und schlaffem Glied.

      Den hatte ich attraktiv gefunden?

      Schau bloß nicht in sein armseliges Gesicht, dachte ich angestrengt, sonst kommen die Tränen.

      „Spar es dir, Mike. Ehrlich.“ Ich streckte den Arm aus, um ihn in seiner Bewegung zu stoppen. Es funktionierte, er blieb einige Zentimeter von mir entfernt stehen.

      „Keine Worte dieser Welt können das hier erträglicher machen“, zischte ich voller Wut und deutete auf die absurde Szene. Ich wollte bestimmt nicht vor ihm heulen.

      „Lass uns…“, stammelte Mike, aber ich beschloss, ihn zu ignorieren.

      Die Gedanken in meinem kleinen Kopf fuhren Achterbahn. Aus die Maus. Das war’s mit MiKa. Ich würde nie wieder genug weiße Klamotten zusammenbekommen, um die Waschmaschine zu füllen. Und wie meldete man sich eigentlich bei Tinder an?

      Hilfe, ich war wirklich verrückt geworden.

      „Ich...“, begann Mike noch einmal, aber da zog ich bereits die Haustür hinter mir ins Schloss.

      Als ich energielos mein Fahrrad den Gartenweg hinunterschob, platzte mein Kopf beinah. Wer war ich? Wer war ich ohne Mike? Ich musste das Gesehene und dessen Folgen erst verarbeiten, um es zu verstehen. Aber wie sollte man so eine Situation jemals verstehen?

      Moses saß im Küchenfenster und blickte mir miauend nach. Zum ersten Mal, seitdem er bei uns eingezogen war, ignorierte ich ihn und setzte meinen einsamen Weg planlos fort.

      Ich wusste nicht, wie lange ich abwechselnd mit dem Rad und zu Fuß unterwegs war.

      Ich hatte einige Kilometer zurückgelegt, das merkte ich an meinen schmerzenden Füßen und daran, dass es mittlerweile stockfinstere Nacht und saukalt geworden war. Mein Körper war müde, aber meine Gedanken kreisten unaufhörlich. Ich sah den Atem aus meinem Mund in kleinen Wolken vor mir aufsteigen und fragte mich, warum er noch da war, obwohl ich mich doch leblos fühlte.

      Nachdem mir trotz der Pippi-Langstrumpf-Socken aus einem vorbeifahrenden Auto zwei Mal hinterher gepfiffen worden war und sich langsam Frostbeulen an den bloßen Fingern bildeten, musste ich mir tunlichst den nächsten Schritt überlegen. Ich wollte auf keinen Fall ins Haus zurückkehren, wo mich Mike vermutlich erwarten würde.

      Die Option, zu Anna zu gehen, fiel ebenfalls aus. Diese hinterlistige Schlange hatte sich an meinen Verlobten herangemacht. Und sowas nannte sich beste Freundin. Darauf konnte man getrost verzichten.

      Im Kindergarten konnte und wollte ich auch nicht übernachten, weil meine Kolleginnen am Morgen mit Sicherheit wissen wollten, was vorgefallen war. Man schlief immerhin nicht alle Tage an seinem Arbeitsplatz.

      Das Einchecken in ein Hotel fiel ebenfalls flach, weil dafür schlicht und einfach das Geld fehlte. Und es, abgesehen davon, in unserem Dorf sowieso keines gab.

      Plötzlich bremste erneut ein Auto neben mir ab und aus dem geöffneten Fenster rief mir eine tiefe Männerstimme zu: „Sexy Strümpfe, Puppe“.

      Ein Sockenfetischist hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

      Angewidert senkte ich den Blick und legte einen Zahn zu, bis der Wagen beschleunigte und hinter der nächsten Ecke verschwand.

      Es war höchste Zeit, irgendwo einzukehren.

      Ich war mittlerweile fast wieder an unserem Dorfplatz angekommen und mein Blick fiel auf das abgeblätterte Schild von Kurtis Kneipe. Ich hatte in meiner ganzen Zeit hier noch nie einen Fuß in dieses alte Ding gesetzt, aber es war geöffnet und eine bessere Möglichkeit fiel mir im Augenblick nicht ein.

      Die Straßenlaterne erhellte meine bunten Kniestrümpfe, als ich mein Fahrrad am Zigarettenautomaten anschloss. Ich wollte nicht riskieren, neben meinem Verlobten auch noch meinen Drahtesel an einen Dieb zu verlieren.

      Normalerweise würde ich in diesem Aufzug nicht einmal den Müll herausbringen, geschweige denn eine Kneipe betreten, aber nach der traumatischen Entdeckung heute war mir alles herzlich egal.

      „N‘Abend“, murmelte ich schüchtern beim Eintreten.

      Der kleine Raum war neblig vor lauter Zigarettenqualm und ich hustete wie verrückt.

      Die drei Gestalten, die an der Bar saßen, hoben fast gleichzeitig die Köpfe, um zu sehen, wer da in ihren aus Rauch gewebten Kokon eindrang. Als sie mein vor Tränen verschmiertes Gesicht sahen, verdunkelten sich auch ihre Mienen wieder, denn heute würden sie nicht in den Genuss eines Flirts kommen.

      „Hallo“, tönte es mir entgegen, bevor sich jeder wieder seinem Getränk widmete.

      Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit hier drinnen gewöhnt und ich ließ sie durch den Raum schweifen. Rechts von mir befand sich die Bar, an der die drei Männer saßen. Hinter der Theke stand ein Typ mit dickem Bauch, roten Wangen und Glatze. Ich tippe auf Kurti, den Besitzer. Links von mir waren zwei schwarze Tische mit jeweils vier Stühlen an die Wand gequetscht. Wer hier Tischdecken oder kleine Blumenvasen erwartete, wurde bitter enttäuscht. Immerhin waren die Wände mit Blechschildern und Plakaten diverser alkoholischer Getränke geschmückt.

      „Mädchen, willst du da an der Tür Wurzeln schlagen? Wir beißen schon nicht“, schmunzelte Kurti und machte eine, wie er fand, einladende Geste mit seiner Speckhand.

      „Oh, Entschuldigung“, hörte ich mich sagen.

      Ein Hoch auf meine Mutter, Höflichkeit war mir anerzogen worden. Aber warum entschuldigte ich mich eigentlich? Ich war diejenige, die heute eine Entschuldigung verdient hatte.

      Es war doch gestattet, verwirrt zu sein, wenn man eben erst betrogen worden ist?

      Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und entschied mich für den freien Barhocker, der neben dem am nüchternsten wirkenden Mann stand. Die Theke klebte, als ich mich darauf abstützte, um auf den Stuhl zu klettern. Ich zog meinen Mantel aus und legte ihn mir über die Beine.

      „Was darf‘s denn sein, Pippi Langstrumpf“, erkundigte Kurti sich freundlich.

      „Wir hatten Fasching im Kindergarten“, rechtfertigte ich sofort mein unkonventionelles Outfit, bevor jemand wissen wollte, ob ich auf Rollenspiele stand. „Für mich was Starkes bitte.“

      Ich zupfte an einem losen Faden an meinem gelben Kleid und musste mich zusammenreißen, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

      „Verstehe, dein Kostüm kam nicht an und nun bist du traurig“, scherzte Kurti, aber sein besorgter Blick verriet, dass er verstand, dass ich nicht wegen solch einer Lappalie litt. Er stellte ein Schnapsglas und eine angefangene Flasche Wodka auf den Tresen.

      „So ähnlich.“

      „Klingt nach einer spannenden Geschichte“, forderte er mich indirekt zum Erzählen auf.

      Die anderen Anwesenden nickten zustimmend. In der Ecke dudelte leise ein Radio, ansonsten herrschte Stille. Entweder war jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt oder es war bereits alles Wichtige gesagt worden.

      „Ich