Sandra Kudernatsch

Pralinen unter Palmen


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Haut und das Gedankenkarrussell hatte aufgehört, sich zu drehen. Mein Kopf war endlich angenehm leer.

      Meine Füße trugen mich, ohne dass ich mir darüber im Klaren war, automatisch zum Haus meiner Eltern. Ich fummelte mit vor Kälte starren Fingern den Schlüssel für das Hoftor aus meiner Manteltasche. Erst beim dritten Versuch gelang es mir aufzuschließen. Ich ging einige Meter, bis ich schließlich vor der Haustür stehenblieb. Die Kraft hatte mich plötzlich verlassen und ich konnte es nicht über das Herz bringen, mich einzulassen. Meine Eltern schliefen und ich wollte ihnen doch keinen Kummer bereiten. Meine Geschichte nicht stotternd wiederholen und die grässlichen Bilder erneut vor Augen haben.

      Im Schein des Bewegungsmelders betrachtete ich meine geringelten Kniestrümpfe und blieb ruhig stehen. Genauso stand ich auch noch dort, als das Licht bereits lange erloschen war.

      Es mussten Stunden vergangen sein, denn im Flur ging irgendwann das Licht an.

      Ich schrak aus dem Zustand innerer Ruhe auf. Plötzlich kam alles wieder hoch und Mikes nackter Hintern flimmerte in Zeitlupe vor meinem inneren Auge.

      Ich musste die Geschichte dieses Mal meiner Familie erzählen. Hilfe in Form von alkoholischen Getränken konnte ich hier nicht erwarten.

      Mit jeder weiteren Erwähnung würde das Geschehene greifbarer werden und ich damit verzweifelter, oder? Mein Traum von einer heilen Welt, meine Pläne für die Zukunft, alles war geplatzt. Einfach so. Innerhalb einer langen Schrecksekunde. Alles, wofür ich die vergangenen Jahre gearbeitet hatte und alles, worauf ich mich gefreut hatte, war für nichts und wieder nichts.

      Meine Eltern würden sich um mich sorgen, dabei hatten sie sich für mein Glück wirklich gefreut. Nichts würde mich jetzt tiefer deprimieren als die Schonbehandlung, die sie mir fortan zuteilwerden werden lassen würden.

      Gerade als ich im Begriff war, mich umzudrehen und lieber wieder zu gehen, öffnete sich die Haustür und meine Mutter trat heraus. Unter ihrer dicken Winterjacke trug sie den dunkelblauen Hosenanzug, in den sie, seit ich denken konnte, tagtäglich für den Job bei der Bank schlüpfte.

      Durch ihre Bewegung sprang das Außenlicht an und tauchte mich und mein Pippi-Langstrumpf-Outfit in gleißendes Licht.

      Es war zu spät, um wegzulaufen.

      „Morgen, Mutti.“ Ich hob schwach die Hand zur Begrüßung und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.

      Das verfehlte allerdings seine Wirkung, denn meine Mutter ließ panisch ihren Autoschlüssel fallen, hielt sich die Brust und machte drei Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Garderobe krachte.

      „Um Himmels Willen, Kati“, rief sie aus, als sie mich trotz des unkonventionellen Aufzugs erkannte. Da ich kein böser Einbrecher war, kam sie wieder aus dem Haus und las ihren Schlüssel vom Boden auf. „Hast du mich vielleicht erschreckt. Was treibst du denn hier im Dunkeln?“

      Ich ließ mich zu keiner Antwort hinreißen.

      Nachdem sie mich eingehend betrachtet hatte, fragte sie besorgt: „Wie siehst du überhaupt aus? Was ist das für ein Aufzug?“ Dann fiel langsam der Groschen und sie machte einen weiteren Schritt auf mich zu.

      Ich sagte noch immer nichts.

      „Ist was passiert?“ Ich sah, wie sich ihre Nase kräuselte, als sie dicht vor mir stand. „Hast du getrunken? Warum antwortest du nicht?“

      Sie griff meinen Arm und ich ließ mich von ihr zur Haustür ziehen.

      „Führ dich ruhig auf wie ein bizarrer Teenager, aber komm dazu bitte rein. Es ist viel zu kalt, um draußen herumzustehen.“ Typisch für meine Mutter war sie sofort von Null auf Hundert im Problemlösungsmodus. Sie scheuchte mich vor sich her und rein in die gute Stube.

      „Leg dich ins Bett, schlaf deinen Rausch aus oder mach, was du willst. Ich muss erstmal zur Arbeit.“ Erneut begutachtete sie mich von Kopf bis Fuß.

      Ich war das Ebenbild meiner Mutter. Von ihr hatte ich meine wilden roten Haare und die kleine Statur.

      „Wenn ich wiederkomme und du nüchtern bist, reden wir“.

      Es fehlte nur noch das Fräulein am Satzende, dachte ich im Stillen. Noch immer hatte ich keinen Laut von mir gegeben.

      „Hast du überhaupt Klamotten dabei“, fragte sie mich in diesem Ton, der nichts Gutes bedeutete.

      Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich schließlich und schluchzte, als ich verstand, was das hieß.

      Darüber musste ich mir noch den Kopf zerbrechen! Ich musste meine Sachen holen. Als ob das alles nicht schon genug war für mich Sensibelchen! Irgendwie tat ich mir selbst unheimlich leid in diesem Moment.

      Mutters strenge Miene entspannte sich. Ohne eine Antwort abzuwarten, entwarf sie bereits den ultimativen Raus-aus-der-Misere-Plan. Ihr Tonfall erinnerte mich jedenfalls sofort an einen Oberfeldwebel.

      „Ich lege dir was von mir raus. Eine Zahnbürste müsste auch noch da sein.“ Forsch verschwand sie im Badezimmer und klapperte mit diversen Schranktüren. „Den Weg in dein altes Zimmer findest du hoffentlich auch sturzbetrunken.“ Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und ließ mich dann im Flur stehen.

      Als ihr kleines Auto vom Hof brummte, trottete ich leise ins Bad.

      Der Blick in den Spiegel ließ mich zusammenzucken. Meine drahtverstärkten Zöpfe zeigten traurig nach unten und das Make-up war bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Meine Augen waren rot und geschwollen und auf meinem gelben Kleid entdeckte ich einen großen Fleck. Ich sah aus wie der Joker aus dem DC-Universum. So bekam ich nie wieder einen Mann! Ich würde als alte Jungfer sterben. An Mutters Stelle hätte ich nach meinem Auftauchen umgehend Polizei und Drogenfahndung gerufen.

      Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, zog ich mich aus und putzte mir die Zähne. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, das Licht anzuschalten, als ich in Richtung meines Kinderzimmers wanderte, und kuschelte mich in völliger Dunkelheit in mein Jugendbett. Ich nahm noch wahr, dass die Bettwäsche herrlich nach Weichspüler roch, bevor ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

      Einige Stunden später erwachte ich durch Motorengeräusche.

      Mein Schädel brummte wie nach einem schlechten Scooter-Konzert, meine Kehle war trocken wie die Wüste Afrikas und meine Füße schmerzten, als hätte ich einen Marathon absolviert. Ich blieb still liegen und zögerte es noch einen Moment hinaus, die Augen zu öffnen. Vielleicht konnte ich mich einfach in Luft auflösen.

      Ich wollte meinen Problemen nicht gegenübertreten.

      Ich streckte mich ein paar Mal, zappelte herum wie eine Wahnsinnige, bis mir schlecht wurde, und öffnete dann doch die Lider, die sich noch immer schwer und dick anfühlten. Durch das Fenster gegenüber schienen mir Sonnenstrahlen ins Gesicht und ich sah Staubflocken im Zimmer auf- und abtanzen. Ich drehte mich um, damit die Sonne nicht länger meine Nase kitzelte und blickte genau in die Augen von Britney Spears. Mit einem Ruck setzte ich mich auf und wurde sogleich mit einem dumpfen Hammerschlag auf die Schädeldecke bestraft. Dann war das wohl kein schlechter Traum?

      Irgendwo in der Nähe fiel eine Tür ins Schloss und ich hörte die Stimme meiner Mutter. Mit einem Mal kamen alle Erinnerungen an gestern zurück. Alle Emotionen waren da – die Wut auf Mike und Anna, die Trauer um Verlorenes, Verzweiflung, wenn ich an die Zukunft dachte, und was ich alles würde bewältigen müssen sowie das betäubende Gefühl, zutiefst verletzt worden zu sein.

      Und alles um hunderte Male schlimmer als zuvor.

      Ich hörte meine Mutter im Erdgeschoss herumwirbeln, konnte aber weder die Kraft noch den Mut aufbringen, aufzustehen. Das Gedankenkarrussell kreiste schneller denn je.

      Meine Klamotten waren alle zuhause, die musste ich irgendwie abholen. Was wurde aus dem Reihenhäuschen, das ich zusammen mit Mike bewohnte? Was wurde aus Moses? Ich wollte meinen Schmusekater auf jeden Fall bei mir behalten. Und, am allerschlimmsten, was wurde aus unserer gebuchten Reise? Die Hochzeit musste abgesagt werden! Wer übernahm die Kosten dafür?

      Das