bedächtig versonnen am Schalter, bis er angesprochen wurde, hob das – immer gleiche – Wirtschaftsgeld ab, ließ den Rest der Pension seinem Guthaben zuschreiben und ging langsam – jetzt schon wieder voll mit seiner Arbeit beschäftigt – nach Haus. Dort wartete bereits im Flur die Müllern – nahm Mantel, Hut, Stock und Wirtschaftsgeld wortlos entgegen, und Professor Kittguß setzte sich wieder für einen neuen Monat an seine geduldige, grüblerische Arbeit.
Zu Beginn seiner Studien hatte er in der Erleuchtung gemeint, dem Ziele ganz nahe zu sein. Aber je länger er arbeitete, um so ferner schien es zu rücken. Er saß und sann und grübelte über jedem Wort, und die Jahre rannen dahin. Aber wenn wir von ihrer sechzehn gesprochen haben, so muß bemerkt werden, daß Professor Kittguß von dieser Zahl nichts wußte, denn sie waren ihm alle wie ein Tag. Daß er selbst nun schon stark auf die siebziger Jahre seines Lebensalters losmarschierte, war ihm noch nie bewußt geworden über der Auslegung eines Briefes, wie dieser ist: »Und ich hörete eine Stimme in der Mitte der vier Tiere sagen: Ein Vierling Weizen um einen Zehner und drei Vierling Gersten um einen Zehner, und dem Öl und dem Wein tue kein Leid.«
Er saß und las und sann und schlug nach und bedachte dieses und jenes, und schließlich schrieb er nieder: »Hier ist die Rede von einer Zeit, die für das Öl und den Wein besser ist als für die Gerste und den Weizen. Alles miteinander aber zielt auf eine gemäßigte Teuerung. Weizen und Gerste, Öl und Wein sind die gemeinsten und nötigsten Lebensmittel. Also hält der hier gegebene Befehl gar viel in sich. Unter Trajans Regierung hat es, besonders im Süden, in Ägypten, das sonst ein fruchtbares Land und vieler Völker Kornboden war, eine namhafte Teuerung gegeben. Wenn der Nil sich nicht hoch genug, sondern unter vierzehn Schuh ergoß, gab es gewiß Teuerungen, wie Plinius Buch 5, Kapitel 9 bezeugt. Anno 110 im dreizehnten Jahre Trajans stieg der Nil nur auf sieben Schuh, wie Harduinus mit einer alten Münze beweist …«
So weit war Professor Kittguß mit seiner Auslegung der Offenbarung Johannis an diesem trüben Oktobernachmittag des Jahres 1912 gekommen, als ihm bewußt ward, daß es an seiner Tür gepocht hatte, daß jemand an seinem Schreibtisch stand. Langsam und ein wenig widerwillig blickte er hoch und sah in das Gesicht der Witwe Müller. Dieses Gesicht drückte so vielerlei aus, vom Unwillen über die Störung an, die sie verursachen mußte, bis zu einem gewissen, ziemlich deutlichen Ekel, daß er ganz unwillkürlich sein Schweigen brach und fragte: »Nun, Witwe Müller, was gibt es?«
»Ein Junge«, flüsterte die Witwe Müller unwillig.
»Also ein Junge«, antwortete der Professor beruhigend, und eine Erinnerung an seine Lehrerjahre kam ihm. Er sah zur Tür und meinte schon den Klassenprimus Porzig eintreten zu sehen, die rote Schülermütze mit dem weißen Band in der Hand. Manchmal hatte Porzig – oder auch ein anderer – ihn in solch dämmriger Stunde aufgesucht und hatte die eine oder andere Frage gestellt, die schließlich alle darauf hinausliefen: wenn ich gläubig bin, muß ich alles glauben?
Wie eine Vorahnung kommender Ereignisse rührte den alten Professor ein Erinnern an jenes holde, vertrauensvolle Ehemals an – er sah auf die Tür, die Müllern …
Er vergaß, daß der Klassenprimus Porzig jetzt ein Mann Mitte der Dreißiger sein mußte, daß ihm eine sehr lange Spanne Zeit über dem Papier zerronnen war, daß es unter den jetzt Jungen niemanden gab, der auch nur seinen Namen wußte.
Beinahe lächelnd sagte der alte Mann: »Und warum kommt der Junge nicht herein, Frau Müller?«
Die Müller wußte viel von ihrem Herrn, sie hatte ihn schon verstanden. »Nicht solch ein Junge«, murmelte sie unwillig.
»Nun, was es auch für ein Junge sei«, sagte der Professor fröhlich und stand groß und stattlich hinter seinem Schreibtisch auf, »lassen Sie ihn herein, Witwe Müller. Unsere Tür ist niemandem verschlossen.«
Er nickte ihr aufmunternd zu und ging selbst, das Deckenlicht einzuschalten. Dann blieb er stehen und sah auf die Tür.
Die Tür aber tat sich einen Spalt weit auf, und herein schob sich ein Geschöpf, ein Sohn Labans, ein trauriger Bengel, verdreckt und verkommen. Da stand er auf der Kokosmatte, eine alte Mütze in der Hand drehend, und sah nicht hoch und sprach kein Wort.
Nie in seinem ganzen behüteten Leben hatte der Professor Kittguß solch ein Geschöpf gesehen. Aber da stand es nun: überlang, mit schlottrigen Gliedern, die roten, unförmigen Hände waren geschwollen und aufgesprungen. Das Gesicht, sterbensbleich, mit einer riesigen, betrübten Nase, wulstigen Lippen, die halb offenstanden und gelbe große Pferdezähne sehen ließen, und dazu eine niedrige, weit vorgebuckelte Stirn, unter der die kleinen blicklosen Augen fast verschwanden –: so stand der Besucher da: ein armer Tölpel … Und es griff dem Professor ans Herz, daß auch dieser Schwachsinnige ein Geschöpf Gottes sei, mit weniger Gaben für dies Leben als die meisten, mit einem dafür um so schwereren Weg …
Kittguß sah zur Tür, die Müllern hatte sie nicht ganz geschlossen, sicher stand sie Wache auf dem Flur. Der Professor reichte an dem Jungen vorbei und zog die Tür sachte ins Schloß. Dann ging er zum Schreibtisch, aber er ging nicht an seinen Schreibplatz, er stellte sich vor ihn hin. Die Arbeit lag ihm im Rücken, Kittguß sah auf den Besucher.
Der stand noch immer wortlos, blicklos da, als wüßte er nicht, warum er hier stünde.
»Wie heißt du, mein Junge?« fragte der Professor sanft.
Die Antwort kam überraschend schnell, mit einer überraschend tiefen, rauhen Stimme: »Dat segg ick nich!«
Kittguß überdachte den Fall. Vielleicht war der Junge fehlgelaufen. »Ich heiße Gotthold Kittguß«, erklärte er.
»Dat weet ick!« sagte der Besucher wiederum rasch und rauh.
»Sprichst du nur plattdeutsch?« fragte der Professor.
»Joa!« antwortete der Junge.
»Von wo bist du denn?«
»Dat segg ick nich!« kam’s wieder, rauh und böse.
Eine Weile war Stille, der Professor sah sich zweifelnd in seinem Arbeitszimmer um. Das Deckenlicht beleuchtete friedlich die Regale, deren Bretter sich unter der Last der Bücher krumm gezogen hatten. Es warf seinen Schein auf den Berg beschriebenen, teils schon vergilbenden Papiers, der griffbereit neben dem Schreibtisch in einem Ständer lag. Es verklärte auch die heutige Tagesarbeit auf dem grünen Filztuch, die vorwurfsvoll das Ende der Unterbrechung abzuwarten schien.
»Man müßte«, dachte der Professor, »hierzu auch noch den jüngeren Plinius zitieren, der als ganz Ungewöhnliches gemeldet hat, daß Trajan Anno 98 den Ägyptern mit Brotfrucht aushelfen mußte …« Darüber fiel ihm etwas ein. Er ging hinter den Schreibtisch und öffnete ein Fach, in dem er zur Linderung seines Hustens einen braunen Malzzucker aufbewahrte. Er wählte ein großes Stück, machte einen Schritt nach dem Besucher hin, kehrte aber wieder um und nahm noch ein kleines Stück dazu. Das große gab er dem Jungen in die Hände, das kleine behielt er selbst. »Da, iß, Junge«, sagte er. »Es ist Zucker. Ich esse auch davon.«
Der Junge wollte das Stück Zucker zurückweisen, es wurde ihm schwer. In das arme, ausdrucklose Narrengesicht kam etwas wie Leben, in den Augen wurde etwas wach wie ein Blick …
»Du magst ruhig essen«, sagte der Professor sanft, »deswegen brauchst du mir doch nicht zu sagen, was du nicht willst.«
Der Junge aß gierig. Mittendrin deutete er mit dem Kopf nach dem Schreibtisch. »Se schriew’n –? Jümmer?«
Der Professor erriet mehr, als er verstand. »Ja, ich schreibe«, antwortete er. »Meistens.«
»Setten Se sick dal«, sagte der Junge. »Un schriewen Se!«
»Was soll ich schreiben?«
»Wat Se süs (sonst) schriewen. Ick will sehn … Ick will sehn …«
»Was willst du sehen –?«
Aber der Junge antwortete nicht. Er war mit seinem Zucker fertig und stand nun wieder blick- und bewegungslos auf der Kokosmatte. Der Professor betrachtete ihn aufmunternd. Vielleicht steckte doch ein Sinn hinter