Sohn«, fragte der. »Wie lange gehe ich noch bis Unsadel?«
»Sie sollen nicht nach Rosemarie fragen, sondern bei Päule Schlieker ein Zimmer mieten«, flüsterte der Junge eindringlich.
»Lieber Sohn!« rief der Professor. »Lieber Junge, warte doch …«
Aber die Zweige rauschten auf, und die Hecke war ohne Gesicht.
Der Junge, lieb oder nicht, war fort. Der Professor trabte beinahe zum nächsten Hecktor, doch auf der Koppel hinter der Hecke sah er nur Rinder und einen wolligen Schäferspitz, der wütend zu bellen anfing. Kein Junge – soviel auch der Professor gegen das Gebell anlocken mochte.
So ging er denn schließlich weiter, verwundert, verdrossen. »Nicht fragen soll ich, sondern einfach bei Päule Schlieker mieten … Aber ein Schlieker ist ein Betrüger … Man sollte solch bösen, ehrabschneiderischen Reim nicht einmal im Scherz sagen …: Päule … was das nun wieder soll? Paul –?«
Plötzlich hörten die Hecken auf. Licht und weit wurde das Land, Felder und Wiesen flossen sanft zu einem großen, grünen See hinab. Drüben, am jenseitigen Ufer, stieg in allen lodernden Herbstfarben ein Wald uferan, aber auf dieser Seeseite lag mit roten Ziegeldächern und altersschwarzen Strohhauben das Dorf. Der Professor schritt rascher aus.
Am Eingang des Dorfs stand feierlich, mit ruhenden Flügeln, eine große Windmühle. Hühner suchten verloren, ohne sich um den Wanderer zu kümmern, auf der Straße ihr Futter; eine Schar Gänse kreuzte, eifrig schnatternd, seinen Weg; eine Katze sah, regungslos auf den Latten eines Zauns hockend, wie verzaubert den Professor an.
Aber kein Mensch – Professor Kittguß sah in jedes Fenster, spähte in jeden Hofraum –: nein, kein Mensch. Er hörte die Pferde im Stall scharren, Kühe rasselten mit ihren Ketten – aber an diesem gesegneten Wochentagnachmittag war kein Mensch sichtbar in Haus, Hof, Straße, Dorf.
Nun stand da eine stattliche Wirtschaft mit breiten, einladenden Steinstufen am Wege. »Krug von Otto Beier« war zu lesen über der Haustür.
Erleichtert trat Professor Kittguß auf den dämmrigen Hausflur, an einer Tür entzifferte er die Inschrift »Gaststube«, er klopfte, er trat ein. Ein paar Tische, eine Theke, die Flaschen hinter der Theke, die Gläser auf der Theke, ein Strickstrumpf mit dem Knäuel daneben im grünen Sofa – aber kein Mensch.
Professor Kittguß wartete, er ging hin und her, er scharrte mit den Füßen, er räusperte sich, er hustete, er rief mit schwacher, dann mit starker Stimme: »Ach, bitte –!«
Aber kein Mensch.
Er klopfte gegen eine Tür, er klopfte noch einmal, er klinkte sie vorsichtig auf – und sah in den weiten, leeren, staubigen Tanzsaal. Verschmutzt und zerknittert hingen von der Decke grüne Papiergirlanden, auf der Bühne lagen umgeworfene Stühle – aber kein Mensch.
Kopfschüttelnd klopfte der Professor an eine zweite Tür und kam in ein kleines, düsteres Zimmer. Auf dem ungedeckten, fleckigen Holztisch stand eine Terrine, benutzte Teller und Löffel, als seien sie von den Essern hastig aus der Hand gelegt. Professor Kittguß sah sich um, sah sich wieder um, rief: kein Mensch. Er beugte sich über die Terrine, der Suppengeruch erinnerte ihn daran, daß er seit dem frühen Morgen, seit seinem Abschied von der Müllern nichts gegessen hatte. Ihm wurde ein wenig schwach.
Eiliger ging er, nach hastigem Anklopfen, in den vierten Raum. Bei seinem Eintritt lief das Heer der Schaben, leise rasselnd und knitternd, über Herd und schmutzigen Backsteinboden in die bergenden Ritzen.
Noch eine Tür – und von der Steinschwelle sah Professor Kittguß in einen herbstlichen, verliederten Garten, mit zerscharrtem, vertrampeltem Gras, zusammengeklappten Eisentischen, traurig verkommenen Bäumen. Unten aber an seinem Ende leuchtete der grüne, große, reine See, golden lodernd stieg feierlich schweigend der Buchenwald uferan. Eine Weile sah der Professor still auf das schöne Bild, seufzte »Ja, ja« und ging durch den verlassenen Gasthof auf die verlassene Dorfstraße zurück, weiter hinein in dies verlassene Dorf.
Zum erstenmal auf seiner abenteuerlichen Fahrt, zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren hatte ihn ein seltsames Gefühl angerührt, ein Gefühl aus seinen Jugendjahren. Im Anblick des schweigenden Landes, hinter sich den verkommenen Gasthof, hatte er zu sich gesprochen: »Welch wunderbare Wege führst du deine Kinder, Herr!« Und an die Stille seines Studierzimmers hatte er dabei gedacht, das er nun, am Rande des Greisenalters, auf die Botschaft welch seltsamen Engels verlassen hatte, um einer Ungewißheit entgegenzugehen, der er sich längst entrückt glaubte.
Aufatmend hörte er plötzlich Geschwirr von vielen Stimmen, Gelächter, Zurufe, Schreie. Rascher schritt er aus. Ein offenes Tor führte ihn zu einer großen Hofstatt, auf der das ganze Dorf versammelt schien. Was irgend gehen, was nur kriechen konnte, stand hier, lachend, schwatzend oder stumm wartend: alte Bauern und junge Arbeitsleute, Frauen, unter der bedruckten blauen Schürze die Hände, junge, derbe Burschen in hohen Stiefeln. Schulkinder drängten sich überall durch das Gewimmel, die jungen Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten. Und alle, alle sahen sie so gespannt nach der breitästigen, uralten Linde in der Mitte des Hofs, daß sie nicht einmal den näher tretenden Fremden, den Professor Kittguß, beachteten.
Der aber sah staunend hängen an einem hohen Ast der Linde einen starken Balken wie einen Wiegebalken. Und an dem Wiegebalken hingen zwei Schalen, groß und kräftig. Aus festen Brettern gefertigt. In der einen Schale aber schwebte ein ungeheurer, dicker Bauersmann mit fröhlich lachendem, rotem Gesicht, in der andern aber, noch leichteren Schale, türmte es sich hoch von geräucherten braunen Würsten, fast schwarzen, derben Schinken, langen, goldbraunen Speckseiten.
»Seht ihr, es reicht nicht, es reicht immer noch nicht!« rief der fette Bauer, vor fröhlichem Lachen prustend. »Ich hab’s dir längst gesagt, Lowising, deine ganze Räucherkammer wird dieses Jahr leer!« Er sah sich triumphierend um: »Habt ihr das gedacht?! Klugschnacker! Im vorigen Jahr habt ihr schon gesagt, ich könnte nicht mehr dicker werden – und nun bin ich doch noch wieder dicker geworden!« Er lachte triumphierend, und alle lachten mit. »Lauf, Lowising, hilf ihr, Maxe, min Söning. Holt noch den Schinken von der Fünfzentnersau! Dann wird es reichen!«
Von seiner unbekümmerten Fröhlichkeit angesteckt, liefen eine große, derbknochige Bauersfrau und ein starker Bengel ins Haus.
»Ihr da –! Fritze, mein Gerhardchen, komm auch du, Elli, haltet meine Schaukel ein wenig fest, sie schwankt so! Heute mittag hab ich gesulzten Aal mit Bratkartoffeln gegessen, der wird mir wieder lebendig von der Schaukelei. Ich fühl’s, wie er sich schlängelt …« Er lachte. »So ist es besser, Kinder. – Wirst du ruhig sein, Aal!« schrie er plötzlich. »Es schaukelt jetzt gar nicht mehr, nichts hast du noch zu krabbeln in mir –!«
»Oh, bitte!« flüsterte Professor Kittguß zu seinem Nachbarn. »Was geschieht hier?«
Der fragte erstaunt: »Haben Sie noch nie von dem lustigen Bauern Tamm in Unsadel gehört?«
»Nein«, sagte der Professor gehorsam.
»Dann kommen Sie von weit her«, entschied der Mann. »Hier im Lande weiß vom dicken Tamm jeder.«
»Ich nicht«, sagte der Professor sanft.
»Dies ist so einer von seinen Narrenstreichen. Jeden Herbst vor dem ersten Schlachten schenkt er sein volles Gewicht in Geräuchertem den Dorfarmen. Damit seine Räucherkammer leer wird und er was lachen kann. – Da – das wird reichen!«
Aus dem Haus waren Frau und Bursche gekommen, einen ungeheuren Schinken schleppend. Sie legten ihn auf die Schale. Der große Wiegebalken bewegte sich seufzend in den Stricken, Fritze, Elli, Gerhardchen ließen den Bauern los. Der stieg und stieg in die Krone hinauf »Der Aal! Der Aal!« jammerte er und stieg schwankend weiter, indes die Schale mit dem Geräucherten zur Erde sank.
Viele jubelten: »Es reicht! Es reicht!«
»Es ist zuviel«, rief die Bauersfrau und wollte wenigstens eine Mettwurst retten.
»Laß sein, Lowising, immer sinnig! Was einmal auf der Schale liegt, bleibt. – Ist es reell