Georg Dehio

Kunsthistorische Aufsätze


Скачать книгу

diese auch war, erscheint sie rau und barbarisch; aber der müde Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden; eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im Gang.

      Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst gingen die praktischen sachlichen Forderungen auf dem Weg voran. Die Kirche hatte ein Recht, sich als die Achse in der vom großen Kaiser neugeschaffenen Welt zu fühlen, und es gehörte zu den Mitteln ihrer Herrschaft, dass dieses dem Volk sichtbar werden sollte, wo immer sie sich feierlich zur Darstellung brachte, in den Formen des Gottesdienstes, in der Gestalt des Gotteshauses. Vor allem war der Abstand zwischen Geistlichkeit und Volk in der liturgischen Ordnung schärfer herauszukehren, nicht mehr bloß durch Schranken und Vorhänge, sondern durch eine neue Gliederung des Gebäudes selbst; die Zahl der Altäre mehrte sich; Reliquienkult und Wallfahrten wurden ein großes Wesen; vor allem die tonangebend an der Spitze der Baukunst stehenden Klöster hatten ihre besonderen Bedürfnisse. Die heilige Grundgestalt des Gotteshauses, die Basilika, wollte niemand antasten, aber man machte ihren Grundriss reicher, zusammengesetzter. Die folgenden neuen Motive sind die wichtigsten:

      Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen konzentrischen Seitenschiff umzogen, beide Raumteile durch offene Bogenstellungen in Kommunikation; aus der Außenwand kleine halbrunde Kapellen, radiant zum Kreiszentrum des inneren Chors hervortretend. Diese Form – an welche älteren Vorformen etwa anknüpfend, ist hier nicht zu erörtern – entstand spätestens im 9. Jahrhundert in der großen Wallfahrtsbasilika zu Tours über dem Grab des hl. Martin, des größten Heiligen der Franken. Sie wurde die klassische Chorform des romanischen Stils im westlichen, südwestlichen und zentralen Gallien; einzelne große Kloster- und Pilgerkirchen des Nordens eigneten sie sich frühzeitig an, Burgund vom Ende des 11. Jahrhunderts ab; die Normandie kannte sie nicht, auch sonst kein außerfranzösisches Land mit Ausnahme von Spanien; im gotischen Stil später erlangte sie die größte Bedeutung.

      Zweitens: Die Grundform des lateinischen Kreuzes, d. h. Anlage eines Querschiffs, an das sich östlich ein rechteckiger Chor, räumlich als Fortsetzung des Mittelschiffs gedacht, anschließt; damit verbindet sich als Wesentliches die Festsetzung einer konstanten Maßrelation zwischen den einzelnen Bauteilen in der Weise, dass die Breite des Mittelschiffs der Breite des Querschiffs gleichgesetzt und das dadurch im Kreuzesmittel entstehende Quadrat in der Ausmessung des Chors und der Kreuzflügel wiederholt, häufig auch in der Abmessung des Langhauses zugrunde gelegt wird, das dann als Summe mehrerer Quadrate erscheint. Die Bedeutung dieser Neuerung gegenüber der unentwickelten und schlaffen, nur selten überhaupt mit einem Querschiff begabten Konfiguration der altchristlichen Basilika leuchtet ohne weiteres ein. Sie ist typisch für das Ostfrankenreich. Im berühmten Bauriss für Sankt Gallen vom Jahr 820 zum ersten Mal sicher bezeugt, doch gewiss um einiges früher schon entstanden. Für den deutsch-romanischen Stil blieb sie während seiner ganzen Dauer ebenso bezeichnend, wie die vorher betrachtete Form für den französisch-romanischen.

      Drittens: Der Grundriss des Ordens von Cluny: er erweitert den zuletzt beschriebenen; der Hauptchor erhält Nebenchöre, jeder mit einer apsidialen Nische geschlossen; ebensolche an der Ostwand der Kreuzflügel, so dass ihre Zahl auf fünf steigt. Unter dem Einfluss von Cluny dringt dieser Chortypus über Burgund hinaus in andere Länder vor; in geschlossenen Gruppen erscheint er in Deutschland (»Hirsauer Schule«) und der Normandie.

      Viertens: Die Krypta; aus unentwickelten Vorformen des altchristlichen Brauchs entsteht im 9. und 10. Jahrhundert die bekannte Form einer halb unterirdischen Gewölbehalle, der bevorzugte Ort der Reliquienverehrung. Besonders den kreuzförmigen Anlagen, deren Chor sie zu einer wirkungsvollen Bühne für den Altardienst emporhebt, fügt sie sich glücklich ein und ist deshalb in Deutschland, aber auch nur hier, ein unentbehrlicher Bestandteil einer romanischen Kirchenanlage geworden. Der burgundisch-kluniazensische Schulkreis (mit Einschluss der Hirsauer) lehnte sie ab; auch im Westfrankenreich war sie wenigstens kein regelmäßiges Erfordernis.

      Fünftens: Die Anlage eines zweiten Chors am westlichen Ende des Gebäudes unter Verdrängung des traditionellen Eingangs; meist mit eigener Krypta und nicht selten auch mit eigenem Querschiff. Dieser Typus entfernt sich vom ursprünglichen Gedanken der Basilika am weitesten. Nicht allein, aber am häufigsten kommt er wieder in deutschen Kloster- und Domkirchen vor. Vom 12. Jahrhundert ab ist er im Rückgang.

      Sechstens: Im inneren Aufbau vollziehen sich unter Beibehaltung der in der Idee der Basilika liegenden allgemeinen Grundsätze folgende Veränderungen: an Stelle der leichten Backsteinkonstruktion tritt massiges Bruchsteinmauerwerk; die Arkadenöffnungen werden weiter, die Stützen niedriger und stärker; die Säule wird häufig durch vierseitige Pfeiler ersetzt oder Säulen und Pfeiler werden in einem bestimmten rhythmischen Wechsel kombiniert; Zahl und Größe der Fenster, die einen Glasverschluss nur selten empfangen, muss mit Rücksicht auf das nordische Klima erheblich beschränkt werden; die Seitenschiffe erhalten häufig ein zweites Geschoss, die Emporen, eine Einrichtung, die nach dem Jahr 1000 etwa in vielen Schulen, z. B. fast in allen deutschen, jedoch wieder aufgegeben wird.

      Siebtens: Die Türme, die dem frühchristlichen Kirchenbau überhaupt gefehlt hatten und, als sie nach und nach in Aufnahme kamen, als gesonderte Gebäude neben den Kirchen standen, werden angegliedert, bald als Zentraltürme über dem Durchkreuzungspunkt des Querschiffs, bald als Fassadentürme, bald in Kombination beider Motive.

      Die in diesen sieben Punkten enthaltenen Gedanken hat die karolingische Epoche als reichen Rohstoff gleichsam aus den Steinbrüchen gehoben; sie auszuarbeiten, zu verfeinern, zu beleben, blieb die noch immer große Aufgabe der folgenden Jahrhunderte. Ungeachtet der äußeren Anknüpfung an die altchristlichen Formen wird der ästhetische Grundcharakter des romanischen Stils mit einer schon früh sich zeigenden Entschiedenheit ein wesentlich anderer: er ist gruppierender Massenbau von starker rhythmischer Bewegung. Damit ist der Außenbau, der im Altchristlichen fast rein nichts gewesen war, wieder in seine Rechte eingesetzt, ja in der Blütezeit des Romanismus gehört ihm fast die größere Liebe. Die Mannigfaltigkeit der Gestaltung ist zuerst in der Differenzierung der Schulen, dann aber auch innerhalb der Schulen bei den einzelnen Bauindividuen, eine so große, wie sie seither kein anderer Stil mehr gekannt. Ein zweiter durchgehender Charakterzug ist die monumentale Würde und sichere Kraft, selbstbewusst ohne Ruhmredigkeit, ernst und gemessen auch in der Pracht, mit einem unzerstörbaren Etwas von Vornehmheit selbst an technisch roh geratenen oder zu kleinsten Abmessungen hinabsteigenden Bauten. Keine moderne Nachahmung hat diese Stimmungswerte je erreichen können.

      Am langsamsten gewannen die Zierformen ihre eigene Sprache in der Zeit der Reife mit jener immer wieder anzustaunenden Fülle des ornamentalen Wortschatzes. Das 9., 10. und 11. Jahrhundert waren noch sparsam im plastischen Detail. Man würde sich jedoch irren, wollte man meinen, ihre Innenräume wären nicht anders als so kahl und roh, wie sie heute erscheinen, beabsichtigt gewesen. Die durchaus als notwendig empfundene Ergänzung brachte die Malerei. Was der Baumeister nur halb getan hatte, sollte der Maler weiterführen: die Flächen teilen, Zwischenglieder herstellen, durch ornamentale Symbole die Leistung der Bauglieder interpretieren, kurz, die ruhenden Massen mit rhythmischem Leben erfüllen. Der Weg der weiteren Entwicklung ist nun der, dass nach und nach der Steinmetz den Maler ablöst. Was in der Frühzeit durch wage- und senkrecht gemalte Bänder ausgedrückt worden war, für das treten Gesimse, Pilaster, Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen, Türbogenfeldern der Pinsel als Zierrat gegeben hatte, wird in Meißelarbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamentale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend. Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaubhaft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasietätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weitaus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metallarbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniaturmalerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Baukunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert.