Georg Dehio

Kunsthistorische Aufsätze


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des gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammengenommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte. Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in einem einzigen Kopf fertig dagelegen, während es doch die stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.

      Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt, wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier Phasen erhalten: Frühzeit 1140 bis 1200; klassische Vollendung 1200 bis 1270; doktrinäres Beharren 1270 bis 1400; Auflösung und letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 bis 1550. Die letzte Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im Rahmen des Mittelalters.

      Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem Grundriss, wie üblich, so zeigt sich, dass die neuen Bestrebungen mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend; auffallend oft wird die auf dem Weg über die südlichen Niederlande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spezifische ist das System des Aufbaus. Das Prinzip der Zerlegung ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als die Intervalle sowohl in waagerechter als in senkrechter Richtung kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet) stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erdgeschossarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt. Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.

      Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoss wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt. Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut. Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerkgliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriss gewinnt eine Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus, fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am großartigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218) ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens, schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Querschiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathedrale von Paris.

      Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung. Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten Westens für die Gotik gewonnen.

      Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass dem Sieg der Gotik ein merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausgegangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands, hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Protorenaissancebewegung in Gang gekommen. Dass sie zurückgedrängt wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein, er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.

      Es ist sicher, dass der Übergang vom romanischen zum gotischen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch Berührung mit einer aus Frankreich kommenden Strömung. Gerade für die erste Ausbreitung aber zeigt es sich als wichtig, dass in Frankreich die Wendung zur Gotik in mehreren Schulen gleichzeitig und in verschiedenen Formen ausgelöst worden war. Zu Anfang war keineswegs die (im engeren Sinn) französische, d. i. nordfranzösische Schule, deren überragende Bedeutung für die innere Entwicklung unbestritten ist, auch die einflussreichste in der Richtung auf das Ausland. Die erste große Welle der gotischen Flut setzt sich von Burgund aus in Bewegung, eine zweite kleinere vom Anjou.

      Die primitive burgundische Gotik ist ein Produkt des Zisterzienserordens, die jüngere, aber wesentlich anders geartete Schwester der Kluniazenserkunst. Der Zisterzienserorden ist in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten des 13. Jahrhunderts nach der Quantität der Leistung der größte Bauherr im Abendland. Um das Jahr 1200 besaß er, über alle Länder verbreitet, 1800 Klöster, und alle wichtigeren unter ihnen hatten Anlass, in kurzem Abstand dreimal zu bauen: zuerst eine Notkirche, dann eine monumentale und bei der selten ausbleibenden Vergrößerung des Konvents noch eine. Das Meiste ließ er durch seine eigenen Werkleute ausführen, die von Bau zu Bau wanderten, wo sie im Augenblick gerade nötig waren. So erklärt sich, dass die Zisterzienserkirchen aller Länder ein sehr bestimmtes und gleichartiges Gepräge erhielten, auch ohne dass der Orden für ein einzelnes Formensystem Partei ergriffen hätte. Die Benediktinermönche des früheren Mittelalters waren die stolzen Vertreter einer höheren Kultur gewesen, die Zisterzienser wollten die Auswüchse der Kultur wieder beschneiden. Ihre Theorie, in der überweltliche Mystik und scharfer praktischer Verstand einen seltsamen Bund geschlossen hatten, war ausgesprochen kunstfeindlich. Nur der Baukunst ließen sie einen gewissen Raum, insofern sie sich durch Nützlichkeit rechtfertigte. Weshalb sie aus ihr alles entfernten, was nicht unmittelbar zweckmäßig war. Die Kirchen turmlos, bildlos, farblos, andererseits doch wieder von größter technischer Gediegenheit. Sie sind Freunde des Gewölbebaus und für viele Länder die ersten Lehrer darin; denn als nützlich erkennen sie ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche Übergangsstil ist aufs Stärkste über den engeren Kreis des Ordens hinaus von ihm beeinflusst; Italien hat am frühesten und längere Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Erfolge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.

      Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige Anregungen von ihr – wie nicht zu verkennen ist, wenn schon die näheren Umstände im Dunkel bleiben – kamen auch nach Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv. – Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die französische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die südlichen Niederlande zu und so vollständig, dass sie von der Zentralschule kaum zu trennen sind.

      Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die französische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmackswechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den französischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen. Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen unverständlich oder gleichgültig. Sie fassten die Gotik als eine neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen von Salisbury, Lincoln, Wallis). – Die mittlere Epoche, die das 14.