Georg Dehio

Kunsthistorische Aufsätze


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Raumschöpfungen für England nach dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York, Westminsterabtei). – Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert, von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kontinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader, rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular- oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudorbogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zierlich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London, St. Georgskapelle in Schloss Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs- und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast noch in höherem Grad für seinen Charakter bestimmend gewesen. Bemerkenswert ist, dass die Engländer selbst unter vollster Herrschaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Restaurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen, der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches Musterbuch heraus, und dass das 19. Jahrhundert selbst auf dem Festland bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens im Schlossbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür sind uns die Belege nur zu bekannt.

      Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen Bauleute waren besser als die irgendeines anderen Landes mit den Neuerungen der Franzosen bekannt; es sind sichere Anzeichen dafür vorhanden, dass sie als Wanderarbeiter damals in ziemlicher Menge auf den französischen Bauplätzen sich einfanden. Der Grund ist der, dass in Deutschland der romanische Stil sich noch keineswegs ausgelebt hatte, ja eben im Begriff war, durch Wiederaufnahme antiker Baugedanken sich neu zu stärken. Seine glänzendste Zeit geht der französischen Frühgotik, zum Teil noch dem klassischen Stil, parallel. Hypothetisch darf wohl an die Möglichkeit gedacht werden, dass mit dem deutsch-romanischen Stil bei ungestörter Weiterentwicklung ein selbständiger Parallelstil zur französischen Gotik hervorgetreten wäre. Aber der Zug der Zeit zu weltbürgerlicher Kulturgemeinschaft und der zeitliche Vorsprung der Franzosen wurden entscheidend für die Rezeption. Der historische Vorgang ist sehr verwickelt. Wir werden den besten Überblick gewinnen, wenn wir drei Rezeptionsstufen unterscheiden, mit denen aber nicht ohne weiteres ein zeitliches Nacheinander, vielmehr ein prinzipieller Unterschied in der Art der Annäherung gemeint ist.

      Die erste Stufe befasst den sog. Übergangsstil, von dem bereits oben die Rede war. Bestimmte Vorzüge des französischen Systems werden freudig anerkannt, man will sie als Hilfsmittel zur Erreichung der eigenen, wesentlich anders gearteten Ziele benutzen. Ein schönes Beispiel, wie viel entlehnt werden konnte ohne Verlust der Selbständigkeit, bietet die Stiftskirche zu Limburg an der Lahn. Das französische Vorbild (die Kathedrale von Laon) ist in ihr ebenso wahr und innerlich verdeutscht, wie auf ihrem Gebiet es die Gedichte Wolframs und Gottfrieds tun.

      Auf der zweiten Stufe wird der Gedanke an die Verschmelzung romanischer und gotischer Formen aufgegeben. Der französische Formenapparat wird vollständig rezipiert, aber die mit ihm geschaffenen Raumkompositionen bewegen sich auf der Linie der deutschen Überlieferung; so die Liebfrauenkirche in Trier, ein Zentralbau, desgleichen in der französischen Gotik weder früher noch später versucht worden ist, und die Elisabethkirche in Marburg, eine Hallenkirche, d. i. ein Typus, den die französische Schule förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn vorfand, hat sie ihn ausgerottet.

      Erst die dritte Stufe lässt jede nationale Klausel fallen und bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten, sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht erledigt hatte, völlig kongenial und aufs Herrlichste weiterzuführen. Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.

      Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst, der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet, der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war – im Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Norden und Osten etwa 25 Jahre später – musste notwendig eine Umbildung im Sinn der Vereinfachung eintreten (besonders augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien, die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung; der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Baukunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben, waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut – so viel, dass Deutschland bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom Mittelalter hinterlassenen Bestand decken konnte – aber nicht von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen von gleicher Höhe, ein zweckmäßiger, aber, wenigstens so wie er behandelt wurde, meist herzlich schwungloser Typus. Als eine Ehrensache des großen Gemeinwesens wurde es empfunden, die städtische Hauptkirche mit einem hohen, reichverzierten Turm zu begeben, bei dem aber nicht mehr an Harmonie mit dem Gebäude, sondern an die Silhouette des Stadtbildes gedacht wurde. Das Beste dieser Art reifte jedoch erst im 15. Jahrhundert. Das 14. Jahrhundert zeigt ein zunehmend unerfreulicher werdendes Bild: die Volksphantasie ernüchtert, die reichlich vorhandene Arbeitstüchtigkeit in schulmäßigen Formeln erstarrt.

      Nur in einem Teil Deutschlands war noch eine höhere monumentale Gesinnung lebendig, wenn auch in rauer und harter Form: im äußersten Norden und Osten, im Herrschaftsgebiet der Hansa und des deutschen Ordens. Es ist merkwürdig, wie die einst in der romanischen Epoche so milde und harmonische Stimmung der niedersächsischen Architektur sich in der gotischen verwandelte. Der lange Kampf mit den Slawen und die Besitzergreifung der See hatte andere Geister wachgerufen. Die Baukunst der norddeutschen Tiefebene beruht auf der Backsteintechnik. Viel eigenster Reiz der ursprünglichen, durchaus auf die Eigenschaften des Hausteins gegründeten Gotik war dem Backsteinbau ein für allemal unerreichbar. Er machte eine sehr selbständige Umarbeitung der gotischen Formen nötig. Der norddeutsche Backsteinbau bietet weitaus nicht die glänzendste, aber sicher die originellste unter den Spielarten der deutschen Gotik. Er ist Massenbau. Kolossal in den Abmessungen, im Sinn der Massengliederung auch kraftvoll belebt, in der plastischen Ausbildung des Zierwerks sehr beschränkt. Die Denkmäler der Mark Brandenburg zeigen, dass unter Ausnutzung farbiger Kontraste aus dem Material, das die Ziegelöfen fertig liefern, sehr zierliche und reiche Flachdekorationen zusammengesetzt werden können. Echter und großartiger jedoch spricht der besondere Geist dieses Stiles aus den schmucklosen, aber gewaltigen Stadtkirchen der Ostsee, ein Geist des Stolzes und der Kühnheit auch in der Entsagung. Diese Kirchen drängen das Hallensystem, das der Übergangsstil aus Westfalen eingeführt hatte, wieder zurück, sie sind hochräumige Basiliken, und vor ihre Fassaden stellten sie mächtige Doppeltürme mit schlanken, kupfergedeckten Holzhelmen, weithin sichtbare Landmarken für die Schiffer. Rathäuser werden errichtet, denen das übrige Deutschland nichts Ähnliches entgegenzustellen hat. Der Burgenbau, anderorts gegen die Hohenstaufenzeit künstlerisch tief gesunken, stellt eine lange Reihe von Denkmälern hin, die Marienburg an der Spitze, durch deren Schlichtheit ein Atemzug echter Größe geht. In dieser kolonialen Kunst ist die Gotik, so schroff einseitig immer, wirklich verdeutscht.

      Skandinavien besaß eine Holzarchitektur, die im Kirchenbau zu quasimonumentalem Charakter sich erhob. Ob die norwegischen »Stabkirchen« völlig autochthon oder von den irisch-schottischen Holzkirchen ausgegangen sind, ist nicht ausgemacht. Durch Eintragung von Motiven des Schiffbaus erhielten sie einen sehr eigentümlichen Charakter. Der