Georg Dehio

Kunsthistorische Aufsätze


Скачать книгу

warf. Der innere Zusammenhang ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden die Führung. Die neue Stilbildung ist, dass die Plastik nicht mehr als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das Statuenportal. In Bezug auf Prachtentfaltung als solche war schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles, Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht, neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit, sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienstverhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebelgruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plastischen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedankenentwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie erkennt, dass in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maßstab Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form der heiligen Bilderfülle zu ihrem Recht verhelfen. So blieb es nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren aufnehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens, außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vorhanden waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon, 20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein dekorativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die Berechnung, dass die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollständigen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben, ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen Kunst ein so unermessliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wichtigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muss in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders ausgedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein. Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer? Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungsmotive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu arbeiten – das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäudes – wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.

      Weiter war die gotische Bildhauerkunst durch die kirchliche Gebundenheit ihres Programms von der schönsten aller plastischen Aufgaben, der Darstellung des nackten Menschenleibes, ein für allemal geschieden. (Die seltenen Ausnahmen, so u. a. einmal das erste Menschenpaar oder die kleinen Figürchen in der Auferstehung des Fleisches zum jüngsten Gericht, kommen dagegen nicht in Betracht.) Den Köpfen fehlt nicht die Einsicht in das Organische; der Knochenbau der Stirn, die fleischigen Weichteile werden in großen breiten Zügen charakterisiert, die Augen sind selbst nach Verlust der Bemalung voll Leben, selbst die Hände gelingen zuweilen vortrefflich. Das Hauptobjekt der Darstellung ist aber immer die Gewandung, und hierin ist der Fortschritt der Zeiten besonders augenfällig. Noch am Anfang des 12. Jahrhunderts war nur die Gewandmasse im Ganzen roh angelegt und das Detail der Falten in schematischen Furchen eingegraben worden. Hundert Jahre später ist die Ausdrucksweise hochplastisch; durch kühne Unterschneidungen werden starke Schatten hervorgerufen; mit sicherer Berechnung wird auf Fernwirkung gearbeitet. Die Gewandung vorzüglich hilft dazu, den engen Kreis der möglichen Körpermotive zu erweitern. Durch sie werden Charaktere geschildert, wird Stimmung gemacht. Es gehörte strenge Wahrheitsliebe dazu, um dies Mittel nicht zu missbrauchen. Wie nahe die Gefahr lag, den Körper zu einem bloßen Kleidergestell zu machen, hat die nachklassische Zeit auf Schritt und Tritt erwiesen. Zweifellos hat es hochbegabter Künstler bedurft, um die Gesetze des monumentalen Stils in vorbildlichen Typen festzustellen. Aber es lag ihnen fern, als Individuen aus der Masse hervorzutreten. Sie sollten und wollten nur einer Durchschnittsempfindung dienen.

      Ein vergleichsweise schmaler, an sich immer noch sehr imponierender Nebenstrom monumentaler Plastik wurde nach Deutschland geleitet, welches Land das einzige ist, das neben Frankreich mit Ehren genannt werden darf. Die Blütezeit fällt in dieselben Jahre, die wir oben für Frankreich genannt haben, d. i. dasselbe Jahrhundert von 1220–1270. Der Unterschied ist der, dass sie scheinbar ohne Vorbereitung ist. Für mehrere der besten deutschen Meister des 13. Jahrhunderts hat die Forschung es bereits klargestellt, dass sie ihre Schulung in Frankreich empfangen haben. Ihre Kunst ist im Schulsinne eine Abzweigung der französischen, doch eben nur in dem, was schulmäßig erlernt werden kann. Im Übrigen sind sie unabhängige Künstlerpersönlichkeiten, mehrere von ihnen – wie der Straßburger, der Bamberger, der Naumburger – den besten Franzosen in der Begabung nichts nachgebend, im Charakter individueller als diese. Schulung kann nur durch die auf das gleiche Ziel gerichtete Anstrengung vieler erzeugt werden, das Individuum braucht freien Raum. In Deutschland war, bei unendlich lockerer stehendem Anbau, dieser noch zu finden.

      Indessen ist durch die französische Einströmung noch nicht alles erklärt. Schon bevor sie kam, war in Obersachsen durch glückliche ahnende Erfassung entfernter Nachklänge der Antike, wie byzantinische Elfenbeine sie darboten, der Sinn für Reinheit und Größe der Form erwacht. Dazu brachte die französische Anregung das Element des Monumentalen. So entstanden in hoher idealer Stimmung die herrlichen Skulpturen in Freiberg und Wechselburg. Daneben lebte, eigentlichst sächsisch, jener tüchtige Wirklichkeitssinn wieder auf, der sich einst in kindlichem Ungestüm an der Hildesheimer Domtür geäußert hatte. Ihm verdanken wir die Fürstenbilder des Naumburger Domes, eine großartig naive Synthese des monumentalen und des realistischen Stils, der einen jener Höhepunkte bezeichnet, auf denen zu verweilen der Kunst selten gegeben ist. Die Naumburger Bildwerke zeigen, was die Plastik leisten konnte, wenn die Architektur, nachdem sie ihr den Geist des Monumentalen eingeflößt, zur Freiheit sie entließ. In Wirklichkeit zog sie die Zügel nur noch fester an.

      Das 14. Jahrhundert wurde auch in Deutschland eine Zeit der Massenproduktion. Überschwängliche Programme zum Schmuck der Portale und Strebepfeiler wurden entworfen und kamen sie auch nur unvollständig zur Ausführung, so überstiegen sie auch so die vorhandenen Kräfte. Die Kunst verflachte zur handwerklichen Routine. Ein Element des Fortschritts lag nur in der Grabplastik, die den Sinn für individualisierende Charakteristik langsam schärfte. Daneben bestand als zweite Hauptgattung die den Holzschnitzern zufallende Altarplastik. Ihre Blütezeit kam jedoch erst später.

      Nach Ablauf des 14. Jahrhunderts ist überall in Europa der künstlerische Geist des Mittelalters am Ende seiner Zeugungskraft angelangt. Die Kraft zur Verjüngung ist aber nicht überall die gleiche. Auf den Verlauf und die Charakterbildung der mittelalterlichen Kunst hatten Deutschland und Frankreich den am meisten bestimmenden Einfluss gehabt; der werdenden Kunst der Neuzeit trugen die Niederlande und Italien die Fackel voraus.

      Die Bildkunst hatte mit der Darstellung einer idealen Welt begonnen, die mit der wirklichen weder in der Form noch im Inhalt zusammenhing, deren Sinn und Bedeutung dem Volk nur langsam sich erschloss. Der Zusammenhang der Kunst mit dem praktischen Leben wird durch das Kunstgewerbe dargestellt. Es hat sich in allen Epochen des Mittelalters größter Wertschätzung