ist. – Ein Menschenleben – was ist es? – Wie wenig! Wie viel! Man muß es nur leben – sonst ist mit dem Ding nichts anzufangen.
Erreichen wir ein Ziel? Gibt es ein anderes Ufer? Setzen wir den schließlich müde gewordenen Fuß in das Land der Verheißung?
Und wenn wir zugrunde gehen – am Wege; unwissend, ohne Antwort und Trost – wäre dann alles sinnlos gewesen? Das redet niemand mir ein!
Da nichts in dieser Welt verschwendet wird; da alle Energien sinnvoll wirken, mit Plan und kluger Absicht trefflich organisiert – warum sollten gerade die Kräfte unseres lebendigen Herzens, unsere Schmerzen und Gedanken, sich ziellos verirren und ganz verloren sein?‹
Wie lange steht der Jüngling – Dieter, ein Deserteur – auf der Klippe, über dem Meer? – Das Wasser, das geleuchtet hat, erbleicht, und der Wind wird kälter. Ein Tag ist zu Ende, die Sonne will Abschied nehmen, sie sendet ihr Abschiedslicht. Es ist golden und rot, wie das Licht der Frühe – nicht nur letzter Gruß eines scheidenden Tages, sondern auch das Versprechen des kommenden.
Die Wolken am Horizont – eben noch rosig, purpurn und violett – werden fahl. Auf dem Felsen aber, wo der Jüngling steht, liegt Glanz – ein letztes Licht, oder ein erstes? Man unterscheidet es kaum. Auch der Knabe weiß es noch nicht – oder nicht mehr.
Diese brechenden Strahlen, die, zärtlich und streng zugleich, seine Stirn berühren – meint ihre Botschaft Anfang oder Ende? Sind sie das glühende Vergehen einer Herrlichkeit, die sich verbraucht hat und zur Ruhe will? Oder bringen sie den harten Segen der Morgenröte, Gnade und Befehl des neuen Tages?
Der Schauspielerin
THERESE GIEHSE
gewidmet
Alle Fehler des Menschen
verzeih’ ich dem Schauspieler,
keine Fehler des Schauspielers
verzeih’ ich dem Menschen.
GOETHE, »WILHELM MEISTER«
Vorspiel – 1936
»In einem der westdeutschen Industriezentren sollen neulich über achthundert Arbeiter verurteilt worden sein, alle zu hohen Zuchthausstrafen, und das im Laufe eines einzigen Prozesses.«
»Nach meinen Informationen sind es nur fünfhundert gewesen; über hundert andere hat man erst gar nicht abgeurteilt, sondern heimlich umbringen lassen, ihrer Gesinnung wegen.«
»Sind die Löhne wirklich so entsetzlich schlecht?«
»Miserabel. Dabei fallen sie noch – und die Preise steigen.«
»Die Dekorierung des Opernhauses für heute abend soll sechzigtausend Mark gekostet haben. Dazu kommen mindestens noch vierzigtausend Mark andere Spesen – nicht mitgerechnet die Unkosten, die es der öffentlichen Kasse gemacht hat, das Opernhaus, wegen der Vorbereitungen für den Ball, fünf Tage lang geschlossen zu halten.«
»Eine nette kleine Geburtstagsfeier.«
»Ekelhaft, daß man den Rummel mitmachen muß.«
Die beiden jungen ausländischen Diplomaten verneigten sich, auf den Gesichtern das liebenswürdigste Lächeln, vor einem Offizier in großer Uniform, der hinter seinem Monokel einen mißtrauischen Blick auf sie geworfen hatte.
»Die ganze hohe Generalität ist da.« Sie sprachen erst wieder, als sie die große Uniform außer Hörweite wußten.
»Aber sie sind alle für den Frieden begeistert«, fügte der andere boshaft hinzu.
»Wie lange noch?« fragte fröhlich lächelnd der erste, wobei er eine kleine Dame von der japanischen Botschaft begrüßte, die am Arm eines hünenhaften Marineoffiziers klein und zierlich einherschritt.
»Wir müssen auf alles gefaßt sein.«
Ein Herr vom Auswärtigen Amt gesellte sich zu den beiden jungen Botschaftsattaches, die sofort dazu übergingen, Pracht und Schönheit der Saaldekoration zu preisen. »Ja, der Herr Ministerpräsident hat Freude an diesen Dingen«, sagte, etwas verlegen, der Herr vom Auswärtigen Amt.
»Aber es ist alles geschmackvoll«, versicherten die beiden jungen Diplomaten, beinah im gleichen Atem.
»Gewiß«, sprach gequält der Herr aus der Wilhelmstraße.
»Eine so prachtvolle Veranstaltung kann man heute nirgends als in Berlin finden«, sagte einer der beiden Ausländer noch. Der Herr vom Außenministerium zögerte eine Sekunde lang, ehe er sich zu einem höflichen Lächeln entschloß.
Es entstand eine Gesprächspause. Die drei Herren blickten um sich und lauschten dem festlichen Lärm. »Kolossal«, sagte schließlich einer von den beiden jungen Leuten leise – diesmal ohne jeden Sarkasmus, sondern wirklich beeindruckt, beinah verängstigt von dem riesenhaften Aufwand, der ihn umgab. Das Flimmern der von Lichtern und Wohlgerüchen gesättigten Luft war so stark, daß es ihm die Augen blendete. Ehrfurchtsvoll, aber mißtrauisch blinzelte er in den bewegten Glanz. ›Wo bin ich nur?‹ dachte der junge Herr – er kam aus einem der skandinavischen Länder. ›Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ohne Frage sehr lieblich und verschwenderisch ausgestattet; dabei aber auch etwas grauenhaft. Diese schön geputzten Menschen sind von einer Munterkeit, die nicht gerade vertrauenerweckend wirkt. Sie bewegen sich wie die Marionetten – sonderbar zuckend und eckig. In ihren Augen lauert etwas, ihre Augen haben keinen guten Blick, es gibt in ihnen soviel Angst und soviel Grausamkeit. Bei mir zu Hause schauen die Leute auf eine andere Art – sie schauen freundlicher und freier bei mir zu Hause. Man lacht auch anders bei uns droben im Norden. Hier haben die Gelächter etwas Höhnisches und etwas Verzweifeltes; etwas Freches, Provokantes, und dabei etwas Hoffnungsloses, schauerlich Trauriges. So lacht doch niemand, der sich wohl fühlt in seiner Haut. So lachen doch Männer und Frauen nicht, die ein anständiges, vernünftiges Leben führen …‹
Der große Ball zum dreiundvierzigsten Geburtstag des Ministerpräsidenten fand in allen Räumen des Opernhauses statt. In den ausgedehnten Foyers, in den Couloirs und Vestibülen bewegte sich die geputzte Menge. Sie ließ Sektpfropfen knallen in den Logen, deren Brüstungen mit kostbaren Draperien behängt waren; sie tanzte im Parkett, aus dem man die Stuhlreihen entfernt hatte. Das Orchester, das auf der leergeräumten Bühne seinen Platz hatte, war umfangreich, als sollte es eine Symphonie aufführen, mindestens von Richard Strauss. Es spielte aber nur, in keckem Durcheinander, Militärmärsche und jene Jazzmusik, die zwar wegen niggerhafter Unsittlichkeit verpönt war im Reiche, die aber der hohe Würdenträger auf seinem Jubelfeste nicht entbehren wollte.
Hier hatte alles sich eingefunden, was in diesem Lande etwas gelten wollte, niemand fehlte – außer dem Diktator selbst, der sich wegen Halsschmerzen und angegriffener Nerven hatte entschuldigen lassen, und außer einigen etwas plebejischen Parteiprominenten, die nicht eingeladen worden waren. Hingegen bemerkte man mehrere kaiserliche und königliche Prinzen, viele Fürstlichkeiten und fast den ganzen Hochadel; die gesamte Generalität der Wehrmacht, sehr viel einflußreiche Financiers und Schwerindustrielle; verschiedene Mitglieder des diplomatischen Korps – meistens von den Vertretungen kleinerer oder weit entfernter Länder – einige Minister, einige berühmte Schauspieler – die huldvolle Schwäche des Jubilars für das Theater war bekannt – und sogar einen Dichter, der sehr dekorativ aussah und übrigens die persönliche Freundschaft des Diktators genoß.
Über zweitausend Einladungen waren verschickt worden; von diesen waren etwa tausend Ehrenkarten, die zum unentgeltlichen Genuß des Festes berechtigten; von den Empfängern der übrigen tausend hatte jeder fünfzig Mark Eintritt zahlen müssen: So kam ein Teil der ungeheuren Spesen wieder herein – der Rest blieb zu Lasten jener Steuerzahler, die nicht zum näheren Umgang des Ministerpräsidenten und also keineswegs zur Elite der neuen deutschen Gesellschaft gehörten.
»Ist es nicht ein wunderschönes Fest!« rief die umfangreiche Gattin eines rheinischen Waffenfabrikanten der Frau eines südamerikanischen Diplomaten zu. »Ach, ich amüsiere mich gar zu gut! Ich bin so glänzender