Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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die euch von Deutschland trennen, sind unübertretbar. Dahinter ist für euch verfluchte Gegend; nur in Alpträumen werdet ihr hinversetzt. Es atmen aber dort Menschen, viele von ihnen leiden, sind heimatlos in der Heimat, man nennt sie ›die innere Emigration‹. Ich, Schutzpatron der Expatriierten, kümmere mich auch um sie. Gestern, zum Beispiel, machte ich Visite bei einem Mädchen, das du früher gekannt hast, ihr Name ist Dora Proskauer.« – »Ich erinnere mich«, sagte Kikjou. – »Sie sitzt immer noch im Gefängnis.« Es klang tadelnd, als wäre auch Kikjou ein wenig schuld an Doras großem Malheur. »Sie hat es relativ gut, im Konzentrationslager wäre es schlimmer. Aber wie langsam ihr die Zeit vergeht! Sie wartet, die Linie ihres Nackens wird immer schräger, sie geht gebückt, als trüge sie Lasten; sie trägt Lasten, unermeßlich schwere – trägt sie tapfer, bleibt geduldig, voll Zutrauen, voll Hoffnung – das brave Ding. Als sie im Schlafe lag, habe ich ihr ins Ohr geflüstert, daß Walter Konradi, ihr Liebhaber und Verderber, noch bitterer büßen muß als sie selber. Seine Parteigenossen und Auftraggeber haben ihn eingesperrt und quälen ihn langsam zu Tode. Er hat irgendeinen Fehler gemacht, er wollte auch sie verraten, sie kamen ihm hinter die Schliche, sie verzeihen ihm nicht …«

      Kikjou sah ihn vor sich, diesen Walter Konradi, einen Schuft. »Er war auf dem Friedhof, als Martins Urne beigesetzt wurde. Die Schwalbe hat schön geredet; der Hund, der Spion stand dabei. Damals beschloß er, Martins Eltern anzuzeigen. – War die arme Dora ein wenig erleichtert, als du ihr vom Ruin des Elenden berichtet hast?« – »Einerseits erleichtert; andererseits auch bestürzt. Er ist der einzige Mann, mit dem sie jemals im Bett war. Sie hängt an ihm. Sie haßt ihn und kommt nicht von ihm los. Sie glaubt immer noch, er habe nicht nur gelogen, als er ihr Liebe schwor. Es klang ihr süß, sie kann es nicht vergessen.« – »Schrecklich!« sagte Kikjou.

      Sie schwebten in einiger Entfernung neben Dieter, dem Deserteur. Der Engel der Heimatlosen – Freund und Kenner auch der inneren Emigration – nickte kummervoll. »Ja, ja – nicht nur im Exil wird gelitten. Nicht die Vertriebenen allein erfahren, wie bitter Einsamkeit ist und wie müde es macht, langen, zähen Widerstand zu leisten gegen die Macht, von der doch alles teils entzückt, teils eingeschüchtert scheint. – Bildet euch nicht zuviel ein auf eure Abenteuer!« riet der Engel der Heimatlosen. »Wenn ihr zurückkehrt, werdet ihr auf den Gesichtern eurer daheimgebliebenen Kameraden Zeichen finden – jenen sehr ähnlich, die ihr selber tragt.« – Der Engel schien zu vergessen, daß dem Jüngling an seiner Seite keinerlei Heimkehr bestimmt war. Der Gespiele und künftige Chronist der Emigranten war so gänzlich ohne Bindung und Vaterland – wie der Engel, der ihn geleitete. Sollte Kikjou ihn auf den kleinen Irrtum aufmerksam machen? War es angebracht, ihn zu erinnern: Ich bin in Rio de Janeiro geboren, muß nächstens dorthin zurück, gedenke nicht dort zu bleiben, empfinde diese Reise nicht als Nachhausekommen? – Der Vaterlandslose, Wurzellose, der Schwebende, Entrückte, Fremde, Teilnahmsvolle – schwieg. Es gefiel ihm, schmeichelte ihm, tat ihm wohl, mit den deutschen Flüchtlingen verwechselt zu werden. So gehörte er doch zu einer Gemeinschaft.

      Der Engel zeigte auf Dieter. »Dieser junge Mann dort auf dem glatten Pfad – schau ihn dir an und du erkennst das Zeichen. Das Stigma der Heimatlosen – nicht im Exil, in der fremd gewordenen Heimat hat er sich’s erworben!«

      »Warum ist er denn gerade heute ausgerückt?« fragte Kikjou. »Fast sechs Jahre hat er es ausgehalten – und plötzlich macht er sich auf und davon!«

      »Weil man in Deutschland den Krieg erwartet – weißt du das nicht? Sie meinen, ihr Führer wolle sie marschieren lassen wegen der Sudeten, und weil das Reich noch größer werden muß. Niemand ist begeistert, am liebsten möchten alle desertieren, aber nur wenige haben den Mut. Dieter setzt alles auf eine Karte. Sein Leben wäre gefährdet, auch wenn er im Lande und gehorsam bliebe. Lieber riskiert er es für die Freiheit. – Er wird es bewahren!«

      Dies rief der Engel mit entzücktem Nachdruck; gleichzeitig aber erschreckt. Denn der Deserteur – der neue Heimatlose – stolperte, schwankte, hatte keinen Halt mehr auf dem glatten Pfad: er würde stürzen, ihm zur Seite ging es schauerlich in die Tiefe. Da zeigte der Engel, wie geschwind er flattern konnte, wenn es darauf ankam. Ein Flügelschlag nur, mächtig rauschend – und er hatte den Taumelnden schon erreicht; er stützte ihn, hielt ihn; er bewahrte ihn vor dem Fall.

      »Du sollst nicht untergehen!« versprach er – inständig, wenngleich lautlos – seinem neuen Schützling. »Ich atme dich freundlich an, ich gebe dir neue Kraft! Du vollendest die riskante Gletschertour, du gewinnst die Freiheit, ich will es. Die Schluchten, voll schwarzer Schatten, locken dich. Du widerstehst. Du bist tapfer. Dein Roman ist noch nicht zu Ende, nur der erste Teil ist abgeschlossen – der war lang genug, fast sechs Jahre lang. Du und ich kennen seine bitteren Kapitel – eines Tages werden sie der Welt bekannt, vorher muß viel geschehen. Die Geschichte all deiner Irrtümer und ihrer langsamen Überwindung ist stumm und rätselhaft hineinverwoben in den Roman der Heimatlosen. Zwei Linien, zwei mit Energie geladene Kurven liefen parallel: die Kräfte der inneren und der äußeren Emigration wollen sich nun verbinden. Vereinigt sollen sie wirken – dies ist die Stunde, euer Engel kennt sie, er darf nicht dulden, daß ihr sie versäumt. – Siehst du den Pfad, mutiger Deserteur? Es ist dunkel, aber ich habe deine Augen mit meinen Fingern berührt, sie durchdringen die Nacht. Leb wohl – ich lasse dich jetzt! Mein Tagesprogramm ist erfüllt. Dir den Weg zu weisen war heute die schönste Pflicht, und die letzte.«

      Der Deserteur dachte froh: ›Es ist etwas heller geworden, auch der Weg ist besser. Das Schwerste liegt hinter mir. Die Grenze muß nah sein. Ich habe es bald geschafft.‹

      Der Engel indessen kehrte zu Kikjou zurück, der einsam schwebte und erbärmlich fror. »Warum zitterst du?« fragte der Engel. »Warum schaust du so traurig?« – »Ich habe mich gefürchtet«, sagte der Sterbliche. »Du hättest mich nicht allein lassen sollen – mitten im Schnee, in der dünnen Luft! Du bist so lange bei dem Fremden geblieben. Du magst ihn lieber als mich.« – »Du Verwöhnter!« Der Engel schalt ihn, während er ihn an sich zog. »Du Empfindlicher! Wirst du denn niemals klug?«

      Sie hoben sich langsam, den bleichen Gipfeln entgegen. Der Himmel, dem sie sich näherten, war sehr kalt und sehr klar, es gab keine Wolken; auch das komfortable Wolkenfahrzeug des Engels war noch nicht herbeibefohlen. Der Engel regte die Flügel; es schien ihm angenehm und erholend, nach all den Plagen des Tages. Kikjou, seinerseits ohne Schwere, war keine Last in den trainierten Armen des Boten. An seiner gewaltig atmenden Brust ruhte des Sterblichen zartes, zärtliches Haupt. Der Mund des Engels war sanft und klug. Er redete Menschenworte.

      »Nun muß ich Bericht erstatten und alle Details dieses Diensttages treulich melden. Mein Herr wird unwirsch, wenn ich nur das Mindeste vergesse. Seine Neugier ist ebenso grenzenlos wie Sein Wissen – das Er sich durch unsere Reporte immer wieder bestätigen und gleichsam auffrischen läßt. Er ist sehr pedantisch, bei all Seiner Majestät …« – Nicht anders klatschten Beamte über den Vorgesetzten. Der Engel, müde und gutgelaunt, ließ sich ein wenig gehen vor dem Menschenkind, das er trug. »Von unseren Reporten wird erwartet, daß sie sowohl umfassend sind als auch knapp«, sagte er noch. »Kein leichtes Amt«, schloß er seufzend; gleichzeitig aber stolz.

      »Der Herr interessiert sich für unsere Angelegenheiten?« – Kikjou schien es nicht recht glauben zu wollen.

      »Für jede Winzigkeit«, erklärte der Bote, selber ein wenig erstaunt über das Ausmaß Höchster Wißbegierde.

      Kikjou fragte: »Was hat er mit uns vor?« – Auch die Sterblichen wüßten gern dies und das; können freilich nicht gleich Blitze schleudern, wenn die präzise Antwort auf sich warten läßt.

      Der Engel lächelte geheimnisvoll. »Er hat Pläne und Absichten …«

      Man war auf der Höhe der Gipfel. Zwischen bleichen Zacken, in dünner, eisiger Luft lustwandelten der künftige Romancier und sein Engel. Unter ihnen: die Schluchten, schattenschwarz; die schmalen, eilenden Bäche, die Gletscherfelder, die glatten Pfade; unter ihnen – der junge Mensch aus Deutschland, Dieter, ein Deserteur.

      »Freundliche Absichten?« examinierte der Sterbliche seinen Engel. »Gute Pläne? Gnädige Konstruktionen?«

      Der Bote nickte. »Sehr gnädige Konstruktionen. Absichten von schier