Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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vorbei. Jetzt geht’s wieder mal auf die Walze.«

      Der andere erkundigte sich: »Was für Pläne hast du? Kannst du irgendwo bleiben?«

      Schütte lachte bitter: »Irgendwo bleiben – wenn ich so was nur höre! Ich werde froh sein, wenn die Franzosen mich über die Grenze lassen!«

      Der andere: »Aber unsere Leute können dich nicht so einfach rausschmeißen – wenn du gar nicht weißt, wohin du gehen sollst! Du hast doch für uns gekämpft!«

      »Darauf bilde ich mir nichts ein«, sagte Schütte. »Ich habe gegen den Faschismus gekämpft. Das war meine Pflicht. Ich kann nicht verlangen, daß man mich ewig durchfüttert, weil ich meine Pflicht getan habe.«

      Der Spanier schien nicht ganz einverstanden. »Hast du denn etwas Geld – in Frankreich draußen?« forschte er weiter. Schütte erklärte: »Keinen Centime« – woraufhin der Kamerad erst recht nachdenklich wurde. Schütte tröstete ihn: »Es wird schon irgendwie gehen. So schnell verhungert man nicht.« Sie schwiegen eine Weile. Draußen fiel ein Schuß, sie achteten nicht darauf. Schütte sagte: »Vielleicht werde ich bald an einer anderen Front gebraucht. Ich denke mir, die Tschechen werden sich wehren – wie ihr euch gewehrt habt. Dann bin ich wieder dabei …« Es klang gar nicht prahlerisch; eher etwas müde. – »Meinst du, es kommt bald zum großen europäischen Krieg?« fragte der spanische Kamerad. Schütte zuckte die Achseln. »Früher oder später … Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht in einem Jahr …« – »Wer wird siegen?« – Schütte sagte: »Wir.«

      Noch eine Pause. (›Welch schleppende, dabei gespannte Konversation!‹ – dachte Kikjou.) Der Spanier war es, der wieder zu sprechen begann; seine Stimme klang etwas dumpf. »Und wenn wir nicht mehr weiterkönnen? Wenn wir nachgeben müssen? Wenn die Republik ihren Kampf verliert?« – »Ihr könnt ihn nicht mehr verlieren«, erklärte Schütte. – Und der spanische Soldat: »Unser Feind hat die Hilfe von zwei großen, mächtigen Ländern! Uns hilft niemand. Wir haben nichts mehr zu fressen und fast keine Munition. Warum hilft uns keiner?« Er schien fassungslos über die Feigheit und Dummheit der Welt. Er starrte seinen deutschen Freund fassungslos an. »Will man denn, daß wir zugrunde gehen? Warum lassen uns alle im Stich?!«

      Der Politkommissar erwiderte mit sanfter Dezidiertheit: »Ihr geht nicht zugrunde. Sogar wenn Franco eure Städte erobert, seid ihr noch nicht verloren. Der Kampf geht weiter, wir gewinnen ihn – denn ihr habt uns das Beispiel gegeben. Ihr habt uns gezeigt, daß man einig sein muß und tapfer. Die Faschisten sind keine Helden, im Gegenteil. Nur unser Versagen – Uneinigkeit und Verzagtheit in unseren Reihen – gibt ihnen die Siegeschance. Wir überwinden unsere Fehler und Irrtümer, dank dem Vorbild, das ihr uns gebt. Die große Tatsache – daß ihr gekämpft habt; daß ihr einig seid – wird die Geschichte des Jahrhunderts bestimmen. Ihr seid die Sieger!«

      Hans Schütte, der Politkommissar, sprach ohne Pathos, mit fester, gelassener Stimme. Der spanische Kamerad stand straffer aufgerichtet; erfrischt und ermutigt durch die Worte des Deutschen.

      Schütte sagte: »Jetzt muß ich wohl gehen.« Dabei verfinsterte sich sein Gesicht, das eben noch geleuchtet hatte. – Während sie sich die Hände schüttelten, trat der Engel zu ihnen. Er bewachte ihren Abschied; er segnete ihre brüderliche, schamhaft-geschwinde Umarmung; er berührte mit der gebenedeiten Hand ihre Scheitel. – Sie waren Soldaten derselben Truppe, sie hatten die gleichen Entbehrungen, die nämlichen Gefahren hinter sich; sie hatten im Unterstand nebeneinander geschlafen; sie hatten die gleichen Mädchen gehabt, in Valencia und in Barcelona. Sie waren Freunde: ›Mein zweiter Freund‹, wußte Schütte, ›vorher hatte ich einen, der hieß Ernst – was ist aus dem geworden? Dieser heißt Juan – man spricht den Namen mit einem seltsam rauhen Kehlkopflaut am Anfang aus – er ist ein Soldat. Der Ernst hätte auch ein Soldat werden sollen, wo treibt er sich jetzt herum? Als ich ihm in Basel Lebewohl gesagt habe, war alles ähnlich wie jetzt – aber ganz so ernst und schwer wie jetzt ist mir damals nicht zumute gewesen. Leb wohl, Juan! Und wenn du sterben mußt, wenn es dich doch noch erwischt – wisse, es war nicht vergeblich! Was ich da vorhin erzählt habe, klang vielleicht ein bißchen salbungsvoll; war aber genau meine Ansicht; war mein ganzer Glaube. Ihr seid das Vorbild.‹

      Der Engel und Kikjou hörten die Gedanken des Politkommissars, und sie freuten sich ihrer. »Bist du nicht stolz auf diesen braven Bruder?« fragte der Engel. Kikjou erwiderte: »Ich bin stolz auf ihn.«

      Da wurde er wieder entrückt – Hans Schütte schnallte sich gerade den Rucksack um, das irdisch schwere Gepäck. Unten wartete ein Lastwagen, er würde ihn und zwanzig andere deutsche Soldaten nach Barcelona bringen. Die Männer von den Internationalen Brigaden hatten ihren Dienst getan – auf diesem Kriegsschauplatz. Es war die Stunde der Heimkehr. Sie reisten nach Haus – nach New York oder Kopenhagen, nach Birmingham, Bordeaux oder Los Angeles. Mehrere von ihnen hatten keine Heimat, sie wurden nirgends erwartet. Wohin soll ein Deutscher oder ein Italiener sich wenden, nachdem er gegen die Faschisten gekämpft hat? Ihm bleibt nichts übrig, als weiter gegen die Faschisten zu kämpfen – an welcher Front, in welchem Land es auch immer sei – anders kann er die verlorene Heimat nicht zurückgewinnen. – Die deutschen Soldaten, auf ihrem Lastwagen, sangen ein Lied, als sie die zerstörte Stadt Tortosa verließen. Ihre Kameraden, die noch auf dem Posten blieben, sangen mit. Der Text des Liedes ward in spanischer, französischer, deutscher, englischer, holländischer, schwedischer, portugiesischer Sprache vorgetragen. Indessen war die Melodie für alle gleich, und sie sangen im gleichen Rhythmus, kamen nicht aus dem Takt. Das Lied, mit dem die Männer von Tortosa Abschied von den deutschen Brüdern nahmen, war die »Internationale«. Kikjou lauschte, schon von der Wolke emporgeschaukelt. Der Engel der Heimatlosen, mit tiefer, melodischer Stimme, summte den Refrain:

      »Völker, hört die Signale …«

      Kikjou fror. Für Gletschertouren war er nicht gekleidet, hier wehte ein eisiger Wind. Was suchte der Engel auf so steilem Grat? Schneefelder schimmerten matt und öd unter einem Himmel, der sternenlos war. Weit hinten ragten zackig die Gipfel, bleich leuchtend, wie aus innerem Licht. Ringsumher – alles fahl und starr; aus den Schluchten aber drohte Dunkelheit.

      Wer ging Pfade, die so nah dem Abgrund waren? Ein falsch gesetzter Schritt bedeutete das tödliche Verhängnis. Wer riskierte, zu nächtlicher Stunde, die Exkursion in so furchtbare Landschaft?

      »Man muß die Freiheit sehr lieben, um sie sich durch solche Flucht zu erobern«, raunte der Engel, seinerseits fröstelnd, eng in den zerschlissenen Mantel gehüllt. – »Wer flieht denn?« fragte Kikjou. Der Engel wies mit dem Finger auf eine Gestalt, die sich langsam näherte: »Der da. Er kommt aus Deutschland – daher sein verzweifelter Mut. Sie wollten einen Soldaten aus ihm machen. Dann hätte er auf Kameraden schießen müssen, auf den Spanier Juan oder auf den Deutschen Hans Schütte. Das paßte ihm nicht, der ganze Schwindel paßte ihm längst nicht mehr, er kannte ihn, er hatte ihn gründlich satt. So wurde er Deserteur. Wir sind hier an der Grenze zwischen der Schweiz und Österreich – zwischen der Schweiz und Großdeutschland, um genauer zu sein: die ›Ostmark‹ ist eine Provinz des Dritten Reiches, wie dir bekannt sein dürfte; die schöne Schweiz hingegen bleibt vorläufig frei. Dorthin will dieser Junge. Er heißt Dieter.«

      Der deutsche Deserteur war siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Sein blondes Haar fing an, an den Schläfen etwas dünn zu werden – dies zeigte sich; denn er trug keine Mütze. Auf der Stirn und um den schmal gewordenen Mund gab es Züge, die ihn älter scheinen ließen, als er war: Spuren ausgehaltener Leiden, eines langen Trotzes, standhaft ertragener geistiger Einsamkeit.

      Kikjou bemerkte: »Er sieht überanstrengt aus. Wie schrecklich hart muß dieser Marsch für ihn gewesen sein!« – »Die Erlebnisse, die ihn zu seinem Abenteuer bestimmt haben, waren entschieden noch härter«, versetzte der Engel. »Zu Anfang war er für die Nazis, mit gewissen Vorbehalten. Er schimpfte auf die Emigranten; an Freunde, die das Land verlassen hatten, schrieb er ziemlich kränkende Briefe. Das war 1933. Damals wollte er sich dem neuen Staat zur Verfügung stellen, er war voll guten Willens, sehr unwissend und zu allem bereit. Wie lange hat es gedauert, bis ihm die Augen aufgegangen sind! Welch zäher, komplizierter Prozeß – und wie peinvoll es war! Enttäuschungen ohne Ende; eine Qual, die niemandem anvertraut werden durfte; Ernüchterung,