Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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ist sie im Steigen begriffen: Du weißt es, Menschensohn; mir liegt aber daran, es Dir wieder einmal recht nachdrücklich ins Gedächtnis zu rufen. Wir sind ziemlich einsam, lieber hoher Herr; in der Fremde weht kalte Luft, Freundschaften von Dauer gibt es kaum für die Unbehausten.

      Einstmals ward ich hohen, sonderbaren Umgangs gewürdigt; das ist lange her. Deine Boten traten flügelrauschend ein. Seither ist es still um mich geworden; auch der Geruch von Mandelblüten und überirdisch feinem Benzin ward mir nicht mehr gegönnt. Ich konstatiere es, ohne mich zu beklagen. Habe ich etwa Anspruch auf den Verkehr mit Engeln? Keineswegs. Um es nur zu gestehen: sie fehlen mir nicht einmal. Die Beziehungen zu sterblichen Menschen sind abwechslungsreich und erregend genug. Auch habe ich ja reichlich zu tun. Als ich noch faul und ohne Pflichten war, eignete ich mich wohl besser zum Spiel- und Reisegefährten für die Himmlischen. Ich lechzte nach dem Wunder, weil ich sonst beinah sorgenlos war. Heute verhält sich das anders. Die Affäre, zum Beispiel, mit meinem Paß und die finanzielle Situation meiner Schwestern …‹

      Auf welche Beschwörungsformel reagieren die Gottesboten? Auf welches Stichwort hin treten sie ein? Kikjou hatte kalte, nüchterne Gedanken gedacht; sein Interesse war aufs Nahe, Irdische konzentriert, und seine Feststellung, daß ihm die Engel kaum fehlten, war nicht schmeichelhaft gewesen für so stolze und empfindliche Kreaturen. ›Der Paß‹, dachte er. ›Das väterliche Erbe …‹

      Da geschah es. Da vollzog es sich noch einmal.

      Kikjou war kaum erschrocken; sogar das Erstaunen verbarg er – wenn er es empfand. Es war doch schon lange her, seit der Stürmisch-Geschwinde ihn heimgesucht und abgeholt hatte. Genügt eine einzige Begegnung mit den Himmlischen, um uns an den hohen, schauerlichen Umgang dergestalt zu gewöhnen, daß wir ihn wie das Selbstverständliche hinnehmen, wenn er sich wiederholt?

      Kein Erschrecken, kein Aufschrei des Sterblichen: Kikjou reagierte so matt, daß es kränkend wirkte. Die Gefiederten sind es gewohnt, Sensation zu machen, wenn sie sichtbar zu werden geruhen. Sie erwarten, sehr mit Recht, den halb entzückten, halb entsetzten Empfang. Maria, die Unberührte, entsetzte und entzückte sich bis zu Tränen und zu krampfhaften Gelächtern über des Engels Besuch. Ihre Erregung überschritt jedes Maß und drohte, in Raserei auszuarten, als die große Meldung ausgerichtet wurde: Du bist auserkoren! Unter allen du! Du hast empfangen, bist gesegnet, und die Frucht wird ohnegleichen sein! – Wie jubelte und tobte, wie wimmerte und frohlockte da die erwählte Magd. – Dieser Knabe indessen – Kikjou, ein Verwöhnter, dem gar nichts mehr imponierte – er hob nur den Kopf, schaute hin, lächelte: Ach, da bist du wieder … als wäre es eine Selbstverständlichkeit. – Freilich: welch ein Lächeln! Wie schüchtern, bei aller Vertrautheit mit dem Phänomen! Wie innig werbend – wenngleich ein wenig blasiert. Bei aller Gefallsucht, aller Lässigkeit – wie erschüttert! Wie dankbar! – Er hatte ja gestanden: Ich bin recht allein. Gleich war die überirdische Visite da, von sanftem Licht umflossen, höchst freundlich.

      Kikjou freute sich sehr; wollte es aber nicht zugeben, sondern erkundigte sich, beinah mißtrauisch: »Bist du der, den ich kenne? Warst du schon bei mir? Hast du mich schon mal entführt?«

      Der Gesandte versetzte: »Ich entführe niemanden. Im Gegenteil: meines Amtes ist es, solche zu begleiten, die sich ohnedies schon rastlos unterwegs befinden. – Ich bin der Engel der Heimatlosen.« Dies erklärte er mit einer gewissen Strenge, als nähme er es Kikjou übel, daß er es nicht gleich erraten hatte.

      »Du siehst aber deinem Bruder, dem Geschwinden, sehr ähnlich.« Kikjou bestand darauf. Er fügte, leicht verächtlich, hinzu: »Nur bist du weniger stattlich. Wahrscheinlich auch weniger schnell.«

      »Schnell genug«, sagte der Engel; aber seine Stimme klang müde. Er sah mitgenommen aus, beinah schäbig. Sein langer schwarzer Mantel war ramponiert und stellenweise zerrissen. Selbst die Flügel – kurze harte Federngewächse, die ihm ziemlich tief am Rücken saßen – wirkten zerzaust. Auf dem Kopfe saß ihm ein bestaubter kleiner Hut, eine sogenannte Melone, wie viele Herren sie zum Straßenanzug tragen. Unter dem Hutrand strahlten überirdisch die Augen.

      Ein unscheinbarer Engel – Kikjou stellte es nicht ohne Enttäuschung fest. Trotzdem war die Ähnlichkeit mit jenem anderen, der ihn vor langer Zeit in Schnee und Sturm gerissen hatte, auf geheimnisvolle Art frappant. Kikjou ward den Verdacht nicht los, daß es sich – wenngleich auf etwas verwirrende Art – um den gleichen Engel handelte. Aus irgendwelchen mysteriösen Gründen leugnete der neue Besucher seine Identität mit dem vorigen. Wer aber kannte sich aus mit den Identitäten der Engel?

      »Der Engel der Heimatlosen – das bin ich!« rief der ramponierte Sohn des Paradieses noch einmal – diesmal stolz, beinah heftig. Die metallisch klirrende Stimme, die königliche Ungeduld des Blickes ließen den ruhenden Knaben denn doch auffahren und eine höflichere Haltung annehmen.

      »Obwohl ich eigentlich nicht ganz zu den Emigranten gehöre, empfinde ich mich doch durchaus als einen aus ihrem Kreise.« Es klang etwas heuchlerisch; die Absicht, sich einzuschmeicheln, war deutlich. Der Engel, ganz entschieden verstimmt, hielt sich starr. Kikjou versöhnte und gewann ihn nicht mit Worten, sondern durch seine hilflosen kleinen Gesten, durch das Lächeln, welches rührend um Verzeihung bat.

      Die Himmelsblicke unter dem bestaubten Hutrand – eben noch furchtbar lodernd – wurden mild. Trost strömte aus ihnen, wie Wasser aus einer Quelle. Auch die Stimme bekam sanfteste Melodie.

      »Du bist einer von ihnen, ich weiß es – deshalb bin ich hier. Auch bei deinen Brüdern bin ich gewesen, zum Beispiel bei Martin, als er den Tod empfing wie eine Krone. Ich war immer dabei. Es hat mich keiner gesehen.«

      Da wagte Kikjou die Frage: »Wenn du so genau Bescheid weißt, soviel Elend kennst und immer neues mitansiehst – warum hilfst du nicht, Engel? Warum hilfst du nicht?«

      Der Von-oben-Gesandte – mit der hochmütigen, sogar etwas unvernünftigen Manier der Himmlischen – blieb die Antwort schuldig, so wie viele Frauen verstummen oder das Thema wechseln, wenn man sie mit lästigen Fragen behelligt. Statt zu antworten, rief er mit herrlich singender Stimme, trostlos und begeistert zugleich:

      »Unter fremden Himmeln werden die Schicksale durchlitten, die ich begleite. Auf vielen Wegen lag der sanfte Schatten meines Kleides.« Er raffte den Mantel mit schöner Geste – siehe, er war nicht mehr abgenutzt, schadhaft und dünn; sein Stoff schien sowohl weicher als auch stärker geworden, und übrigens hatte er die Farbe gewechselt. Nun leuchtete er in köstlich sattem Blau – ein ritterlicher Mantel, ein fürstlich-feines Kostüm; auch der garstige Herrenhut hatte sich zauberisch verschönt. – Mit einem düsteren Frohlocken und tragischem Übermut fuhr der Strahlende fort:

      »Überall – wahrlich, an allen Orten – bin ich gewesen! In engen Hotelzimmern, Schiffskabinen Dritter Klasse, in den Warteräumen der Konsulate, den Vorzimmern der Comités, in billigen möblierten Stuben, in Hospitälern, in den Friedhöfen vieler Städte, in Eisenbahncoupés ohne Zahl, auf Schlachtfeldern, auf Bahnsteigen, in vegetarischen Restaurants, in Redaktionsstuben, billigen Kaffeehäusern, in obskuren Klubs, in Lagern, wo sie leben müssen – zusammengepfercht wie das Vieh – überall mein Blick, mein Lächeln, mein stummer Trost …«

      »Warum hast du nicht geholfen?« – Diesmal war Kikjous Frage mit zuviel Nachdruck gestellt, es gab kein Ausweichen mehr, der Engel mußte gestehen: »Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Und ich wollte nicht. Die Pläne meines Gebieters sind dunkel. – Dunkel – dunkel – dunkel …« wiederholte er schaurig. Sein Gewand war wieder schwarz geworden, auf dem Hute lag wieder Staub. Wie kurz, wie trügerisch war der Glanz dieses Engels gewesen!

      »Soll es noch lange dauern?!« – Kikjou hatte diesen Aufschrei nicht unterdrücken können. Der Engel aber machte Schritte, die sowohl schwebend als auch schleppend waren, auf und ab, durchs Zimmer. Dabei berichtete er, nicht ohne Wohlgefallen:

      »Viele Tränen habe ich fließen sehen – und manche, die ich beobachten mußte, konnten nicht einmal weinen. Ich habe den Gestank der Armut gerochen, und in den Ohren das gellende Gelächter jener gehabt, die in den Wahnsinn fliehen. Das Exil kreiert neue Krankheiten; nicht nur das Herz – auch der Verstand der Heimatlosen ist erheblich gefährdet! – Ich bin der Engel der Entwurzelungsneurose!«