Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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      »Überstehen ist siegen!« Er erklärte es ihr mit der zärtlichen Exaktheit eines Lehrers, der für die Schülerin ein zartes Faible hat. »Wer Geduld hat, wer aushält – der siegt. Alles geht langsam, alles dauert lang. Wir überschätzen die Ereignisse des Tages, der Stunde; wir stilisieren sie apokalyptisch, geben ihnen gewaltige Namen: Historische Wende oder Weltuntergang. Das ist Irrtum und Eitelkeit. Soll unsere Epoche alles verändern und unterbrechen – nur weil es gerade unsere Epoche ist? Der Prozeß geht weiter – zäh und langsam, sehr langsam … Es gibt Störungen, Rückschläge: dergleichen erleben wir jetzt. Lassen wir uns doch nicht gar zu sehr erschüttern und verwirren! Lasse dich doch nicht wirr und kopflos machen, liebes Herz, durch die Störungen und die Rückschläge! Vertraue doch: es geht weiter! Glaube mir doch: in den großen Zusammenhängen rechnet dies alles so wenig und wird einst ruhiger und kälter beurteilt werden, als wir’s heute vermuten.«

      Sie blieb eigensinnig mit ihren Worten – wenngleich Blick und Lächeln verrieten, daß sie beinah überzeugt und fast besänftigt war. »Wir leben aber heute – jetzt und hier. Unsere Leben werden vernichtet, durch die Rückschläge und die Störungen; die Leben unserer Freunde und Kameraden, selbst die ungeborenen Kinder sind gefährdet. – Die großen Zusammenhänge – können sie uns trösten? Und wer beweist denn, daß es gute, vernünftige Zusammenhänge sind? – Ich weiß nur, daß jetzt gelitten wird, von Millionen. Ich schäme mich, in mein kleines, privates Glück zu fliehen, während Ströme von Blut und Tränen sich ergießen.«

      »Es ist kein kleines, privates Glück!« Er hob tadelnd den Zeigefinger. »Ein schwieriges, tiefes Glück, nach vielen Leiden gewonnen. Haben wir’s uns nicht verdient, liebe Marion? – Nun müssen wir’s tragen und fruchtbar machen. Auch dazu gehört Tapferkeit – oder gerade dazu. Stürzen, sich fallen lassen, sterben – auch heroisch sterben – das ist leicht. Leben ist schwerer und ernster. Glücklich sein – das ist am schwersten und am ernstesten für uns, die wir weder ruhig sind noch kalt. Die überlegene Haltung überlassen wir den Künftigen, die über uns urteilen mögen. Was uns betrifft, wir bleiben beteiligt, ergriffen, immer wieder angefochten, erschüttert, immer in Gefahr. Aber geduldig! Aber tapfer! Dem Gesetz dieses Lebens gehorsam. Geduldig und gehorsam sollen wir sein. Dann kommt auch das Glück – und sich seiner zu schämen wäre Feigheit und Schwäche. Stolz empfangen wir es.«

      Da sagte sie nichts mehr. Auch die Lieder und Gelächter der jungen Amerikaner draußen waren verstummt. Es war in ihrem Zimmer sehr still geworden. Der Atem der milden Nacht kam sehr still herein.

      Benjamin wiederholte – summend, wie den Refrain des Liedes, mit welchem man ein Kind zur Ruhe bringt: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!« – Seht, sie schläft schon fast!

      15

      Die Zimmer, in denen die Armen wohnen, sind sich ähnlich, überall auf der Welt. Wo befindet sich dieses? Am Rande irgendeiner großen Stadt – läßt sich vermuten. Genaueres ist kaum festzustellen. Die Landschaft, auf die das Fenster den Blick gewährt, ist kahl und fast völlig trostlos. Auf den öden Feldern liegt Nebel. Im grauen Dunst stehen ein paar frierende Bäume neben Telegraphenstangen. Im Zimmer drinnen sieht es nicht heiterer aus.

      Ist sie uns nicht vertraut, diese mönchische Zelle? Das Kruzifix an der grauen Wand, das schmale Bett, und auf dem Tisch die unberührten Speisen – zu solcher Kargheit zwingt sich Kikjou, den wir einstmals als den kleinen Abenteurer kannten, als den sündhaft Reizbegnadeten, den von Lastern und Visionen Verzückten, das suspekte Lieblingskind Gottes. Noch einmal begegnen wir ihm – hat er sich sehr verändert? Das perlmutterfarbene Affengesichtchen mit den vielfarbigen Augen ist ein wenig gealtert; härter, magerer und strenger geworden. Doch bleibt ihm noch der infantile Charme, der sinnliche Zauber des Blicks.

      Wo hast du dich denn herumgetrieben, all die Zeit, petit frère de Marcel, Bruder des toten Helden? Magst du uns nichts verraten? – Du verrätst uns nichts. Du schweigst über die Arbeiten und Abenteuer, die Vergnügungen und Traurigkeiten, die Erfahrungen bitterer oder süßer Art, die hinter dir liegen. Du hast dich unter die Menschen gemischt, hast Anteil genommen, Leiden mitangesehen und selber Leiden getragen – soviel merkt man dir an. Wo du auch gewesen sein magst – du bist dem Leben nicht ausgewichen; du hast dem Befehl gehorcht, den das sinkende Haupt, das dornengeschmückte, mit trocken-rissigen Lippen dir zurief.

      Zuweilen legst du Rechenschaft ab vor deinem Erlöser, der geduldig lauscht – unfaßbar milde und unfaßbar streng. Er will die detaillierte Konfession, die exakte Beichte. Er ist anspruchsvoll. Ausflüchte, pathetische Verallgemeinerungen läßt er nicht gelten: das weißt du nun schon und hast dich daran gewöhnt. Deine Gebete werden beinah trocken. Du berichtest deinem Erlöser: Ich habe eine kleine Aktion vor, lieber Herr. Hältst du meinen Plan für gescheit und dem Zwecke dienlich? – Des Menschen Sohn interessiert sich für die Affären der Menschen, so melancholisch und konfus sie auch meistens sind.

      Heute ist ein wichtiges Datum in Kikjous Leben. Morgen soll er eine große Reise antreten – die Fahrt nach Hause, nach Südamerika, zu seinen Schwestern nach Rio. Sein Papa ist gestorben: keine verdrossenen Briefe, keine gereizten Mahnungen sind von ihm mehr zu gewärtigen. Er ist tot, es war ein Magenkrebs, die Schwestern haben es Kikjou telegraphiert, und hinzugefügt: »Komme bitte sofort! Brauchen dich zur Abwicklung der Geschäfte, da sonst ohne männlichen Schutz.« Unverhoffte, etwas peinliche Ehre für den kleinen Kikjou: plötzlich soll er Familienoberhaupt sein. Seine Schwestern rechnen auf ihn, ohne ihn wären sie ganz verloren – ernste junge Mädchen, leider sind sie nicht hübsch, deshalb finden sie keinen Bräutigam. Bruder Kikjou soll die Geschäfte ordnen; soll mit Anwälten – wahrscheinlich üblen Schwindlern – um grünbespannte Tische sitzen; wird vielleicht etwas Geld haben, vielleicht auch nicht: sehr wohl möglich, daß Papa nur Schulden hinterlassen hat, man muß auf dergleichen gefaßt sein. In diesem Falle säße Kikjou da, mit den unversorgten Jungfern – wie kann er sie alle ernähren?

      Es hat mancherlei zu besprechen und zu beraten gegeben mit dem strengen, milden Herrn, der geduldig lauscht. Zu allen übrigen Sorgen kam das Paßproblem: Kikjou, kleiner Kamerad der Heimatlosen, war nun seinerseits expatriiert. Solches geschah ihm zur Strafe, weil er in Spanien bei den Loyalisten gewesen war und sich so lange ferngehalten hatte von der Heimat. Sein Paß wurde nicht verlängert: Kikjou argwöhnte, daß sein eigener Vater die brasilianischen Konsulate in solchem Sinne beeinflußt hatte. Der grausame alte Herr – heftig deprimiert durch den Magenkrebs und die Ahnungen des nahen Endes – wollte den verlorenen Sohn durch so erpresserischen Trick zur Heimkehr zwingen. Nun mußte er wirklich nach Hause und fand sich in lästigen Komplikationen. ›Soll ich den gefälschten Paß benutzen? Es ist ja ein echter – nur ein paar kleine Ziffern hat man korrigiert … Was rätst du mir, lieber Herr?‹ – Die Emigrantenprobleme, die Sorgen der Vagabunden: Kikjou, der Wahlemigrant, der Vagabund aus Instinkt, erfuhr sie am eigenen Leibe.

      ›Nach Hause!‹ dachte er, ziemlich bitter. ›Nach Hause – wie seltsam es klingt! Was geht Rio de Janeiro mich an? Eine fremde Stadt. Was bedeuten mir meine Schwestern? Unbekannte Damen. Ich habe kein Zuhause. Zu lange habe ich mit denen gelebt, die heimatlos sind – ich gehöre zu ihnen, meine Brüder sind sie. Marcel, mon grand frère – hatte er eine Heimat? Il était sans patrie, ist unter fremden Himmeln gestorben. Martin, den ich geliebt habe, und seine Freunde und all die anderen, denen ich ein bißchen zu helfen versuchte – ach, mit was für matten, unzureichenden Kräften! – lauter Heimatlose … Was soll ich in Rio, bei den dummen Schwestern und den schlauen Anwälten? Aber es ist wohl meine Pflicht, ihnen zur Verfügung zu sein … Wie lange werde ich bleiben? Und was für Wanderschaften kommen dann?

      In welchen Sprachen werde ich noch beten lernen? – Vorhin, als ich vor meinem Erlöser lag, habe ich ihn mit französischen, deutschen, englischen, spanischen und portugiesischen Vokabeln angerufen. Er hat sie alle verstanden. Des Menschen Sohn kennt die Sprachen der Menschen. Er ist kein Nationalist. Er hat keine Muttersprache, nur die Sprache des Vaters – die sich aus sehr mannigfachen Idiomen zusammensetzt. Unser internationales Kauderwelsch wird gnädig aufgenommen. Mein Gestammel könnte ein Gegenstand des Anstoßes und Skandals im Himmel sein; indessen herrscht dort größte Toleranz, was die Worte und Akzente betrifft. Die Taten und Gedanken aber werden streng gewogen.