Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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Verständnis für solche Verzweiflungstat, obwohl sie geeignet war, den Eisenbahnbetrieb empfindlich zu stören. »Aber was bleibt den armen Leuten sonst übrig?« fragten die Beamten – milde, soweit das Dienstreglement es erlaubte.

      Andere waren glücklicher, sie gewannen die Freiheit, freundliche Menschen standen ihnen bei. In Zürich, zum Beispiel, durften viele eine Weile sich aufhalten – ein paar Wochen nur, wenige Monate höchstens; aber es war doch lange genug, um die dringlichsten Affären zu ordnen, sich Visen und Schiffsbillet für die Überseereise zu verschaffen. Denn was sollte man noch in Europa? Für die Wiener hatte Wien Europa bedeutet; allenfalls kamen noch Salzburg, Innsbruck und Paris in Frage. Nun saßen sie mit verstörten Gesichtern herum und erklärten: »Es gibt Europa nicht mehr …«

      So düstere Äußerungen fielen in der Pension »Rast und Ruh«, wo die Damen Tilla und Marie-Luise hilfsbereit tätig waren. Ihr Etablissement war gut besetzt, es war überfüllt, die beiden Frauen hatten alle Hände voll zu tun. Dies bedeutete übrigens keineswegs, daß sie Geld scheffelten: die neuen Gäste zahlten unregelmäßig; viele waren völlig mittellos. Marie-Luise führte die Kontobücher; Frau Tibori kümmerte sich um die Küche. Sie machte Apfelstrudel und Gulasch für die Wiener Freunde – »damit sie sich doch ein bißchen wie zu Haus bei uns fühlen!« – »Ich muß Frau Ottinger besuchen!« Zu diesem Entschluß war Marie-Luise während der letzten Wochen wiederholt gekommen. »Die Gute wird uns noch einmal aus der Patsche helfen.«

      Bei Ottingers logierten vertriebene Wiener Dichter, Kammersänger, monarchistische Offiziere, sozialdemokratische Abgeordnete und eine veritable Prinzessin, mit den Häusern Habsburg und Bourbon verwandt, jedoch in arger finanzieller Lage. Das alte Ehepaar hatte täglich etwa vierundzwanzig Personen zu Tisch – lauter Flüchtlinge. Dabei blieben andere vierundzwanzig unsichtbar, die auf Ottingers Kosten in Pension »Rast und Ruh« oder in den kleinen Restaurants der Altstadt ernährt wurden. Manchmal wurde Herrn Ottinger angst und bange, wenn er seine Ausgaben überdachte. Er sagte zu seiner lieben Frau: »Wir sind ziemlich wohlhabend, aber nicht mehr so reich wie früher. Ich muß es dir gestehen: wir zehren vom Kapital – niemals hätte ich gedacht, es könne dahin kommen. Dein Mütterliches wird angegriffen – hast du etwas dagegen?« Er stellte es mit leichtem Schauder fest; auch Frau Ottinger bekam entsetzte Augen; lächelte dann aber, gütig und resigniert. – »Wie lange leben wir noch?« fragte sie ihren alten Gatten. »Noch ein paar Jahre«, konstatierte sie sanft. »Wir werden nicht hungern müssen. Wenn wir Kinder hätten – dann müßte das Kapital unversehrt bleiben. Aber so … Die Flüchtlinge sind unsere Kinder«, meinte sie abschließend. Sie schwiegen beide, die alten, blassen Gesichter nah beieinander. An was dachten sie, daß sie so zärtlich lächeln mußten? An die kleine Tilly vielleicht mit dem schlampigen Mund: die hatten sie geliebt wie ein Töchterchen. Sie erwähnten sie nicht. Vielmehr sagte Madame: »Den kleinen Braunfeld könnten wir bei Peter Hürlimann unterbringen – er hat noch ein Zimmer frei. Ich fürchte nur, der gute Peter kommt gar nicht mehr zu seiner Musik, weil er sich soviel um die Wiener bekümmert. Hat er sich nicht prachtvoll entwickelt? Wenn Tilly ihn nur sehen könnte, wie tapfer und tüchtig er ist …«

      Nun hatte sie den lieben Namen doch genannt. Herr Ottinger streichelte den Arm seiner alten Gattin – um sie zu trösten, und weil er seinerseits etwas Trost dringend brauchte.

      Europa gibt es nicht mehr: sagten die Fliehenden – womit sie insofern recht hatten, als der kranke Kontinent ihnen, den Emigranten, keinen Lebensraum mehr gewähren wollte. Amerika war die Hoffnung. Um hinzukommen, benötigte man die finanzielle Garantie eines Ansässigen, der seinerseits nachweisen mußte, daß er in der Lage war, für den Eingewanderten zu sorgen, wenn der es selber nicht mehr schaffen konnte. Um solche Garantien, Affidavits genannt, bemühten sich fast alle Gäste der Pension »Rast und Ruh« wie auch des Hauses Ottinger. Ohne Ruh und Rast eilten sie zum amerikanischen Konsulat – wo man sie viele Stunden lang antichambrieren ließ – und zu den Hilfscomités – wo man infolge von Überarbeitung die Nerven verlor. Außerdem schickten die Unglücklichen kostspielige und komplizierte Kabel über den Ozean, an alte Bekannte, die ihrerseits gescheit genug gewesen waren, schon vor den neuesten europäischen Evenements ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten einzureisen. Die telegraphischen SOS-Rufe hatten alle den gleichen Refrain: Hier bin ich verloren! Ich ersticke hier, samt meiner Frau und den lieben Kleinen! In Ihre Hände lege ich vertrauensvoll mein ganzes Schicksal!

      »Man kann sie doch nicht alle zugrunde gehn lassen! Es muß doch etwas geschehen!« – Dies war Marions Stimme, sie klang beinah zornig, als hätte Benjamin ihr widersprochen; der schwieg indessen und schaute seine Gattin nachdenklich an. – »Natürlich«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Ich werde morgen ein paar Freunde um Hilfe bitten … Freilich muß da etwas geschehen. Amerika ist groß und gutgesinnt; es hat Platz für viele …«

      Die Jungvermählten hatten sich in einem der südlichen Staaten niedergelassen, er hieß North Carolina, die Universität war gut, Abel hatte eine angenehme Stellung. Die amerikanischen Kollegen fanden, daß es bei Abels »really cosy« war. Marion galt als charmante Hausfrau – aufmerksam und beweglich, trotz ihrer Schwangerschaft. Die Universitätsdamen freuten sich auf das Baby, sie überschütteten Marion mit guten Ratschlägen.

      Ihr kleines Haus war nah dem Campus der Universität gelegen. Es hatte nur vier Zimmer, aber die waren nett und hell. Unten gab es das Eßzimmer mit dem runden Tisch und die Bibliothek, wo Abel arbeitete. Dieser Aprilabend war schön und mild; durchs offene Fenster kamen Blütengerüche. Junge Leute schlenderten draußen vorbei; manche sangen, andere lachten nur. Welcher Friede! Wie weit entrückt waren Qual und Aufruhr!

      Jedoch lagen auf dem Schreibtisch die Telegramme – die SOS-Rufe mit dem Refrain: »Ihnen vertraue ich mein Schicksal an.« – Eines von ihnen hielt Marion in der Hand. »Sonderbar, daß sich der Mann an mich erinnert; ich kenne ihn nur sehr flüchtig«, erklärte sie, wobei sie ruhelos durchs Zimmer ging. »Er wollte einen Weltstaat gründen – Paneuropa war ihm noch zu provinziell. Nun sitzt er in Basel und darf nicht über die französische Grenze …«

      Benjamin bat zärtlich: »Komm zu mir!« Da stand sie hinter ihm, die mageren Ellenbogen auf die Rückenlehne seines Stuhles gestützt. Er wandte sich um. Lange ließ er den Blick auf ihrer Gestalt ruhen. Wie stark ihr Leib schon hervortrat! Und auch ihr Gesicht war verändert: es schien breiter und weicher geworden. ›Es ist schöner geworden‹, dachte Abel mit großer Rührung. ›Noch schöner geworden. Ich liebe es jetzt noch mehr.‹

      Sie las in seiner Miene, daß er glücklich war; gerade hierüber empörte sie sich. »Ich schäme mich!« schrie sie auf; dabei preßte sie die Hände an die Schläfen, das zerknüllte Telegramm fiel zur Erde. »Wir sitzen hier in Sicherheit, es geht uns gut, wir haben unser Heim – und überall wächst das Unglück! Das Unglück breitet sich aus wie die Pest. Wann ist je soviel gelitten worden?« – »Immer«, sagte der Historiker, liebevoll und pedantisch. »Oder meistens. Meistens ist soviel gelitten worden. Es war selten besser.«

      Dies überhörte sie. Heftig und mit einem Schluchzen in der Stimme sprach sie von den Freunden in Wien. »Sie waren alle so voll Vertrauen! Sie meinten, es müsse ihnen geholfen werden. Niemand hat ihnen geholfen … Was kommt nun an die Reihe?« fragte sie drohend. »Wer wird das nächste Opfer?« Sie reckte das Haupt mit der Purpurmähne – das stolze und leichte Haupt; ihre Augen hatten den Flammenblick – nur leuchtete er jetzt nicht von Zuversicht, war vielmehr von düsterster Ahnung verfinstert. »Prag wird fallen!« – Sie sprach es mit schaurig gedämpfter Stimme, fast war es nur noch ein Murmeln. »Frankreich und England werden die Tschechoslowakei so wenig verteidigen, wie sie das arme Österreich verteidigt haben.«

      Glich sie nicht einer Prophetin, mit dem bewegten Purpurschmuck ihres Haares? Solche Züge, solche Blicke hatte Kassandra – Königstochter und Priesterin – das bestürzte Volk von Troja durfte die fürchterliche Schönheit seiner Seherin erst in allerletzter Stunde kennenlernen. Früher waren Pracht und Grauen dieses Angesichts durch die schwarze Binde schonungsvoll bedeckt gewesen. Nun fiel das Tuch, die Eingeweihte warf es zürnend zur Erde: das war nicht mehr die Stunde der zarten Rücksicht. »Eure Stadt wird brennen!« verhieß Kassandra mit dem enthüllten Gesicht – kalt, beinah höhnisch bei allem Schmerz, als wäre es nicht auch ihre Stadt und Heimat, die zugrunde gehn sollte. »Troja