zu essen in der schönen Stadt Barcelona. Sie taumelt, Mathes und Mutter Schwalbe halten die Sinkende.
»Meisje … liebes Meisje …« flüstert Mathes. Er liebt sie, er ist ihr Gatte, sie sind glücklich gewesen. Er streichelt ihre Wangen, ihr zerzaustes Haar. Seine Hand zittert. Wenn er nur eine Zigarette hätte! Er hat seit Tagen keine Zigarette gehabt, die Gier nach dem Nikotin ist viel ärger als Hunger. – »Meisje … aber Meisje!« wiederholt er und zieht sie an sich; sie gleitet beinah willenlos in seine Arme. Dort ruht sie, mit geschlossenen Augen, das blasse schöne Gesicht naß von Tränen.
Was aber ist nun in die Schwalben-Wirtin gefahren? Sie läßt Meisje los – das kann sie riskieren: Mathes stützt und hält seine Frau – sie eilt davon, die würdige Matrone macht große Schritte – es ist halb ein Marschieren, halb ein Hüpfen: überraschende Gangart für eine weißhaarige Alte. Der feldgraue Soldatenmantel, den sie trägt, reicht ihr fast bis zu den schweren, schmutzigen Stiefeln. Der Mantel ist ihr zu weit, er flattert, da sie nun hüpft und stapft. Was haben ihre scharfen Augen – die Kapitänsaugen unter buschigen Brauen – denn entdeckt? Warum eilt sie so? Hier gibt es doch nichts als Trümmer …
Noch hat sie nicht gesehen, nur gehört. Sie läuft dem leisen Weinen eines Kindes nach. Sie lauscht und rennt. Aus dieser Richtung ist das rührende Geräusch, die kleine Klage des Kindes gekommen … Die Schwalben-Mutter sieht sich gezwungen, über eine Leiche zu steigen, wie über einen gefallenen Baum. Der Tote starrt ihr aus aufgerissenen Augen nach, die Schwalben-Mutter erschrickt, sie hat Angst, sie bemerkt nicht, daß sie in eine Blutlache getreten ist: nun gibt es auch noch rote Flecken an ihren Stiefeln, neben den erdigen Krusten.
Gleich aber wird sie das blicklose Starren des Toten vergessen dürfen; denn dort sitzt das Kind – klein, rundlich und wohlerhalten, unter gestürzten Steinen, wie in einer Nische. Ein ganzes Haus ist zusammengestürzt, seine Einwohner sind getötet, wie viele mögen hier begraben sein! Dieses Kind ward verschont. ›Ein Wunder!‹ empfindet die alte Frau. Sie ist niemals fromm gewesen, der Hang zum Mystischen liegt ihr fern, nun aber fühlt sie: ›Gott sei Lob und Dank! Er hat ein Wunder getan!‹
Dieser kleine Mensch sollte gerettet werden, das berstende Gemäuer durfte ihn nicht verletzen, kein Haar auf seinem runden, glatten Köpfchen ward vom Feuer versengt. Der kleine Mensch indessen zeigt keine Dankbarkeit; vielmehr scheint er recht ärgerlich über die Störung. Er schüttelt die Fäustchen und läßt die Unterlippe beleidigt hängen. Wo ist seine Mutter? Sie hatte gerade eine Tasse voll Milch vor ihn hingestellt – für kleine Kinder hat die Stadt Barcelona noch etwas Milch reserviert. Dann gab es diesen abscheulichen Lärm, und der gefüllte Napf verschwand, gleichzeitig mit der Mama, die ihn gehalten hatte.
Das Bübchen beruhigt sich, da es von der Schwalben-Mutter hochgehoben wird. Mit behutsamem, festem Griff hält die weißhaarige Deutsche den kleinen Bürger von Barcelona. Vor seinen großen, runden, goldbraunen Augen steht plötzlich – erstaunlich weitflächig, drollig und vertrauenerweckend – ein Gesicht mit vielen Runzeln und Falten, ein braves altes Gesicht, eine strahlende Miene. Die Augen der Schwalben-Mutter leuchten. Da lacht auch der Kleine. Er kichert, er quietscht vor Vergnügen. Seine weiche, zarte, unversehrte Wange schmiegt er an ihre harte, verwitterte. Seine winzigen, runden Finger zausen ihr borstiges Haar. Es ist lustig, mit dem harten, weißen Haar zu spielen. Das Haar seiner Mutter war schwarz und weich. Wo ist die Mutter? Der kleine Bürger von Barcelona hat sie schon vergessen. Er ist grausam. Er amüsiert sich. Er denkt nicht mehr an die gute Milch, die vergossen wurde, und er weiß nichts von dem vergossenen Blut.
Die Schwalbe, mit ihrem kostbaren Fund, ist zurückgekehrt zu Dr. Mathes und seinem Meisje. – »Dem Kleinen ist nichts geschehen!« Alle drei bestätigen es immer wieder, sie können es gar nicht fassen, ihre Freude ist groß. Das Meisje hatte schon zu weinen aufgehört. Nun aber sind ihr die Augen wieder naß geworden. – »Wie niedlich er ist! Sieh doch – die kleinen Hände! Es ist ihm gar nichts geschehen!«
›Es wird ihr doch nichts geschehen sein?‹ dachte Professor Samuel. Er meinte das arabische kleine Mädchen, mit deren Porträt er beschäftigt war. Um vier Uhr hatte sie zur Sitzung kommen sollen, und jetzt war es beinah sechs. In den Straßen von Jerusalem hatte man heute wieder geschossen; der Krieg zwischen Arabern und Juden hörte nicht auf, die Soldaten Seiner Britischen Majestät mußten eingreifen. Wenn dem hübschen kleinen Mädchen nur nichts passiert war! Sie hat so reizvoll geschnittene Augen, ein so liebes Lachen und oft so kindlich ernste, weise, rührende Blicke – es wäre schade um sie. Übrigens ist das große Porträt, das Samuel vor zwei Monaten begonnen hat, noch lange nicht fertig. Der Meister läßt sich Zeit; er arbeitet gemächlich und mit Genuß – immer verliebter ins Detail; tiefer bezaubert denn je vom Reiz der Farben. Zuweilen denkt er: ›Die »Junge Araberin mit weißen Blumen« wird vielleicht mein letztes Bild sein. Jedenfalls ist es mein schönstes. Ich bin auf der Höhe – was wohl bedeutet, daß ich nah dem Ende bin. Nach einer Übung von fünfzig Jahren, nach dem Training eines langen Künstlerlebens, fange ich endlich an, zu begreifen, was Farben sind … Wenn man’s begriffen hat, malt man das schönste Bild; ist aber innerlich schon darauf vorbereitet, den Pinsel nächstens wegzulegen.
Heute wird die Kleine also nicht mehr kommen; wahrscheinlich hat sie mich einfach versetzt; ist mit einer Freundin ins Kino gegangen oder mit einem Freund. Übrigens könnte ich jetzt doch nicht mehr arbeiten; das Licht ist schwach geworden – welch ein blasses Licht, in welch fahlem Glanz stehen die Dinge!
Jerusalem ist schön zu dieser Stunde; die Heilige Stadt hat viel feierlich-traurige Schönheit, zu Anfang war ich glücklich hier – beinah glücklich; mir gefielen die jungen Leute; ich dachte: etwas ganz Neues entwickelt sich hier, die Wiedergeburt, die vielversprechende Renaissance einer Rasse; die jungen Juden – dachte ich erfreut – haben keinen scheuen Blick, keinen gebückten Gang mehr; sie schauen mutig um sich, tragen den Kopf hoch, ein neues Selbstbewußtsein gibt ihnen neue Würde. Und wie sie arbeiten können! Ich beobachtete sie auf den Feldern, an den Neubauten, an den Maschinen; ich sah ihnen auf den Sportplätzen zu. Ich zeichnete sie in den schönen Posen der Arbeit und des Vergnügens. Ich war stolz auf sie. Ich fühlte: Es ist gut, einer von ihnen zu sein. Ich gab mir Mühe, etwas Hebräisch zu lernen. Man ließ mich ein Fresko für eines ihrer neuen Gebäude entwerfen. Ich wollte ein guter Bürger unseres alten, neuen Landes sein.
Das war zu Anfang, in den ersten Wochen. Seitdem habe ich viel gesehen – zu viel, und nicht alles war gut. – Bin ich enttäuscht? Es wäre eine Schande, dies zuzugeben. Das Leben ist überall interessant, es hat überall Farbe, es kann nie enttäuschen. Langweilig und schlimm sind nur die kleinen – oder großen – Probleme, mit denen die Leute sich ihr Leben vergällen: lauter erfundene Sorgen, abstrakte Komplikationen – sowohl stumpfsinnig als auch gefährlich; beunruhigend und öde zugleich. Oh, über diesen Dünkel der Klassen, Rassen, Religionen! Über all diese Trennungen, Unterscheidungen, Isolierungen! Geschwätz ohne Ende – unfruchtbar, eitel und monoman! Ich bin seiner müde, es ekelt mich an. Jüdische Freunde nehmen mir übel, daß ich das Porträt einer kleinen Araberin male: es scheint ihr nationales Ehrgefühl, ihren »jüdischen Stolz« zu beleidigen. Wie mesquin – und wie dumm! Sind die Lippen und die Augen dieses Kindes weniger lieblich, leuchten die Blüten zwischen ihren Fingern minder stark, weil die Juden und die Araber sich um ein Stück Erde zanken …? Ich gewöhne mich nicht mehr an das Pathos der modernen Unduldsamkeit. Die dogmatische Unerbittlichkeit der jungen Generation langweilt mich bis zu Tränen und tut mir weh, wie eine lange Behandlung beim Zahnarzt. Die Deutschen verachten die Juden, die Juden verachten die Araber, und übrigens polemisieren sie auch untereinander: den Juden aus Frankfurt am Main sind ihre Brüder aus Krakau oder Bukarest nicht gut genug, die Sozialistischen sind gegen die Liberalen, und die orthodox Nationalen sind gegen den ganzen Rest. Warum versuchen sie das ordinäre Pack, das uns aus Deutschland vertrieben hat, an Unduldsamkeit und Roheit zu übertrumpfen …? In Mallorca haben die Faschisten mich an die Wand gestellt – aus purer Schelmerei, nur um sich über die Grimassen zu amüsieren, die ich schneiden würde. Ist dies der Humor des zwanzigsten Jahrhunderts …? Und hier werde ich fast boykottiert, weil ich gute Freundschaft mit den Arabern halte. Es ist betrüblich, die Menschen solcherart herunterkommen zu sehen. Schon verändern sich auch die Gesichter – nicht zum Vorteil, wie sich versteht. Rohe Mienen, ohne Reiz und Geist – mir, dem Maler, fallen sie