Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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verbrauchter wirkt. Es wäre ganz trostlos – wenn nicht auch noch andere Typen vorkämen. Mein väterliches Malerauge entdeckt sie gleich, prüft sie mit Wohlgefallen und freut sich ihrer. Zuweilen erscheint ein Antlitz in der Menge – hier, oder sonst irgendwo – es ist stolz und rein; es hat den Schimmer der Unschuld, samt der Würde, die nur das überstandene Leiden verleiht. Ich sehe es und finde mich neu entflammt, neu verliebt – unersättlicher alter Liebhaber des Menschenantlitzes, der ich bin.

      So wäre noch nicht alles verloren? Sind neue Kräfte im Anrücken? Formiert sich eine neue Elite? Ist eine neue Schönheit im Entstehen begriffen?

      »Zu jeder Zeit gab es eine verwesende und eine werdende Welt.« – Wo habe ich das neulich gelesen? Bei Nietzsche.

      Ich will mich ans Fenster setzen und das letzte Licht dieses Tages zur Lektüre nutzen. Aber es ist nicht die Zeitung, die mich lockt; nicht das politische Magazin. – In Nietzsches Nachlaß finde ich die Stelle:

      »Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich der Masse als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten …«‹

      Der alte Mann am Fenster blieb unbeweglich, die erfahrene Stirn über die Seiten des Buches geneigt. Indessen las er nicht weiter. Die Augen träumten, und um den blassen, sinnlichen Mund lag ein Lächeln – sehr trauervoll und nicht ohne Hochmut.

      ›Wir sind Emigranten … Wie recht hat der kranke Weise! Und wie weise ist er gewesen, solche Erkenntnis für sich zu behalten, solange er lebte: erst im »Nachlaß« wurde sie publik. Hat man ihn ganz verstanden? Fühlt man Stolz und Schmerz seiner Klage? Denn es ist eine Klage, sie enthält auch Heimweh, die Isoliertheit tut weh, es ist kein leichtes Los: sich von der Gemeinschaft zu distanzieren – und sei es selbst von einer schäbigen, erbarmungswürdigen Gemeinschaft. Dies gesteht der kranke Weise, indem er das Wort »Emigranten« wählt, um seinen Zustand, Hochgefühl und Pein seiner seelischen Situation zu beschreiben. »Wir sind Emigranten …« Es liegt Resignation in der Formulierung, neben dem Schmerz und dem Stolz. Siegesgewissere Bezeichnungen wären leicht zu finden gewesen – gar zu leicht, wie dem anspruchsvollen Weisen scheinen wollte. Er bevorzugte die genaue, realistische, nicht sehr dramatische Definition: wodurch er sich nicht nur als Stilist äußersten Ranges, sondern auch als Prophet erwies – wie schon bei anderen Gelegenheiten. Wußte er denn voraus, was bevorstand? Kannte er unser Schicksal? Er erschauerte vor Katastrophen, deren Opfer wir erst werden sollten. Den Philosophen der »Macht« konnte nichts überraschen: er hatte die Abgründe in sich, vor denen er warnte; er selbst war Teil des Unheils, gegen das er seherisch sich empörte. Er wußte Bescheid – selbst über den vulgären Mißbrauch, den man treiben würde: mit seiner Lehre und mit seinem Martyrium. Er hat sich zu uns bekannt – ja, zu uns! Zu den Emigranten!‹

      Der alte Mann dachte: ›Keine komfortable Existenzform, zu der sich der Weise entschloß! Irdisches Glück erschien ihm kaum sehr erstrebenswert, nicht einmal an irdischer Würde war ihm gelegen; er hätte es entschieden besser, glänzender haben können, bei seinen Talenten. Mit den Emigranten ist nicht viel Staat zu machen. Um die Wahrheit zu sagen: die meisten von ihnen sehen recht erbärmlich aus. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel meinen Freund Siegfried Bernheim – eine äußerst repräsentative Figur. Was treibt er denn eben jetzt? Spielt er Bridge mit dem Bundeskanzler von Österreich?‹

      Professor Samuel hatte lange keine Zeitungen gelesen und keine Menschen gesehen, außer einer kleinen Araberin mit süßen Augen und Lippen. Sonst hätte ihm sehr wohl bekannt sein müssen, daß der Bundeskanzler von Österreich durchaus nicht in der Stimmung und nicht einmal in der Lage war, mondänen Vergnügungen nachzugehen – die ihn übrigens niemals gelockt hatten.

      Was den Bankier Siegfried Bernheim betraf, so war er, zu seinem Kummer, dem Herrn Bundeskanzler niemals vorgestellt worden. Freilich hatten zu seinem intimeren Umgang verschiedene Herren gehört, die ihrerseits Seiner Exzellenz nahestanden. Vor allem die beinah freundschaftliche Beziehung zu hohen klerikalen Würdenträgern hatte dem Bankier recht herzlich wohlgetan. Stolze, wohlige Gefühle bewegten ihm die Brust, wenn er sich mit legitimen Grafen, klugen und gewandten Priestern abends traulich unterhalten durfte. Jeden, der pessimistisch war, was die Zukunft Österreichs betraf, wies er würdig zurecht. Felsenfest war Bernheims Überzeugung: ›Diesmal habe ich aufs richtige Pferd gesetzt. Über uns hält der Vatikan seine schützende Hand – und außerdem gibt es noch Mussolini. Auf die Unabhängigkeit Österreichs kann er nie verzichten: wenn Deutschland den Angriff wagte, der Duce ließe am Brenner mobilisieren, wie auch früher schon. Meine trüben Abenteuer von Mallorca werden sich keinesfalls wiederholen.‹

      So zuversichtlich war der Bankier, dessen intellektuelle Kräfte sich von dem Mallorquiner Schock niemals ganz erholt hatten. Er spielte eine Rolle in der guten Wiener Gesellschaft. Seine Villa, außerhalb der Stadt, war ein Treffpunkt einflußreicher Leute. Man fand die Küche vorzüglich; die Bilderkollektion beachtenswert. Niemand zweifelte die Echtheit des Greco an, und man war liberal genug, sich an dem sinnlichen Reiz des Renoir zu entzücken.

      Bernheim blieb optimistisch, bis zum bitteren Ende. Der Bundeskanzler tat die schauerliche Fahrt nach Berchtesgaden; das Plebiszit, das die Nazis erledigen sollte, ward kühn beschlossen – und abgesagt. Bernheim sagte: »Es gibt immer noch Mussolini!«

      Indessen bekam er Anlaß zu schmerzlichster Verwunderung. Nur die deutsche Armee marschierte, während die italienische sich durchaus still verhielt. Österreich wehrte sich nicht, Frankreich hatte Kabinettskrise, Europa beobachtete mit ehrfurchtsvoller Spannung die historischen Vorgänge, der Führer und der Duce wechselten fröhliche Telegramme. Bernheims einflußreiche Freunde wurden verhaftet oder waren schon abgereist, mehrere von ihnen erschlug man, alle galten jetzt als Vaterlandsverräter, weil sie ihrem Vaterland nach bestem Wissen und Gewissen gedient hatten. Bernheim – guter Katholik und österreichischer Patriot – erkannte endlich mit Grauen: ›Ich habe mich wieder verrechnet, es geht noch einmal schief. – Gibt es denn keine stabilen Werte mehr in dieser zerrütteten Welt?‹ – grübelte der fassungslose Bankier. ›Hält sich nicht einmal Mussolini …? Dem Himmel sei gedankt, daß ich Geld in England habe! Ich reise nach London, lieber heute als morgen …‹

      Er klingelte dem Kammerdiener, damit er ihm die Handkoffer packe. Der Bursche war in die Stadt gegangen, ohne erst Erlaubnis einzuholen. Bernheim mußte sich seine Sachen selbst zusammensuchen. Ein paar kostbare Kleinigkeiten – schwere Manschettenknöpfe; Krawattennadel mit großem Diamanten – steckte er sich in die Tasche – für alle Fälle. ›Die Möbel und Bilder werde ich mir hoffentlich nachkommen lassen können.‹ Er hatte Tränen in den Augen, als er Abschied von dem Greco nahm, den Professor Samuel für eine Fälschung hielt. – ›Das französische Transitvisum werde ich wohl kriegen‹, meinte er. ›Der Generalkonsul ist einer meiner guten Freunde … Nur ein Glück, daß meine Steuerangelegenheiten in Ordnung sind! Es gibt keinen Vorwand, mich zurückzuhalten …‹

      Er ließ den Wagen vorfahren und wunderte sich beinah, daß der Chauffeur zur Stelle war, in seiner adretten, kleidsamen Uniform. Übrigens sah der junge Mann verdrossen aus. »Wir fahren zum französischen Konsulat«, bestimmte Bernheim, mit einer Stimme, die immer noch kräftig und salbungsvoll klang.

      Wie schauerlich hatte Wien sich verändert: über Nacht, ganz ohne Übergang und Vorbereitung, hatte es ein fremdes und bedrohliches Gesicht bekommen. Überall wehten die Hakenkreuzfahnen, und Figuren machten sich breit, die sonst höchstens im Halbdunkel sichtbar geworden waren. Die meisten trugen Uniformen, breite Armbinden und farbige Hemden. Sie blickten angriffslustig und tückisch. Ihr Grinsen war triumphierend, gleichzeitig aber feige; sie schienen sich der neuen Macht noch nicht ganz sicher zu sein. Echte Triumphatoren tragen die Häupter stolzer und schöner gereckt. Diese duckten die breiten Nacken, als erwarteten sie Schläge von oben. ›Mörder …‹, dachte beklommen Herr Bernheim in seiner Limousine. ›Sie sehen alle wie Mörder aus. Was ist aus meinem schönen, frommen, konservativen Wien geworden?‹ – Sogar die Lieder, die gesungen wurden, klangen grauenvoll. Jubelrufe, dünn und schrill, ließen sich hören. Eine ältere Frauensperson schrie mit zänkischer Stimme in Bernheims Wagen hinein: »Heil Hitler!« Er hob matt den Arm; mit dem anderen zog er den seidenen Vorhang vor das Fenster des Coupés.

      Indessen hielt das Gefährt vor dem Konsulat. Bernheim konnte