Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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»Ich bin so lange unterwegs gewesen …«

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      Im Februar und März 1938 durfte manch deutscher Emigrant, wehmütig und stolz, sich besinnen: Fünf Jahre Exil – das wäre also geschafft. Ist es wirklich schon fünf ganze Jahre her, seit wir in einer deutschen Stadt unseren Koffer packten? Es scheint gestern gewesen zu sein … Damals meinten wir: Es ist wohl nur für eine kleine Weile, in ein paar Monaten kehren wir zurück … Ist es wirklich erst fünf Jahre her? Was haben wir inzwischen alles mitgemacht! Enttäuschungen, Hoffnungen, noch einmal Enttäuschungen, ohne Ende … Das Gedächtnis hat eine seltsam launenhafte Manier, mit der Zeit – dieser nur scheinbaren, nur vorgestellten Realität – spielerisch umzuspringen. Wir erinnern uns – und fünf Jahre sind wie ein Tag; sind aber auch wie die Ewigkeit.

      Sonderbare fünf Jahre – ob sie euch lang geworden sind oder kurz – sie haben euer Leben verändert; sie sind ein Teil eures Lebens, auch wenn ihr anfangs den neuen Zustand nur für provisorisch, abenteuerlich und unverbindlich halten wolltet. Das Abenteuer hat sich stabilisiert, das Provisorium wird zum Alltag – so sehr zum Alltag, daß viele schon darauf verzichtet haben, sich des abenteuerlichen Anfangs noch zu erinnern oder seinem Ende entgegenzuträumen. Irgendwo, in der geheimen Gegend des Herzens, bleibt freilich die Hoffnung wach: Dies alles wird eines Tages überstanden sein und vorüber – plötzlich, wie es begonnen hat. Das Exil war nur Episode, der Tag der Heimkehr wird kommen – ein gereinigtes, erholtes, wieder schön gewordenes Vaterland empfängt uns; wir werden zu Hause sein, und die Fremde versinkt, ganz ähnlich, wie jetzt die Heimat für uns versunken ist …

      Die Hoffnung bleibt wach – aber nur im geheimen, in der tiefen, verborgenen Schicht. Immer seltener gestatten sich die Verbannten, sich das heimlich-innig Gewünschte bewußt zu machen. In ihren Gesprächen kommt das Wort »Heimkehr« kaum noch vor, und selbst in Gedanken vermeiden sie die süße und gefährliche Vokabel. Auf die Dauer ist kein Mensch geneigt, alles, was er tut oder läßt, auf eine Zukunft zu beziehen, von der niemand Genaues weiß – weder was den Termin ihres Kommens noch was irgendwelche andere Details betrifft. Der Alltag versteht keinen Spaß und duldet nicht, daß du ihm mit vagen Wunschträumen ausweichst. Geduldig und wachsam tue deinen Dienst – deinen Lebensdienst! Er ist überall gleich streng, gleich ermüdend, gleich beglückend, in der Fremde oder in der Gegend, die du Heimat nanntest.

      Reale Freuden und Sorgen bringt auch das Exil. Ein Transitvisum durch Belgien wird zum großen Problem, ein Affidavit für die Vereinigten Staaten zum erregenden Thema, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zur ersehnten Gabe des Himmels. Berliner Geschäftsleute fassen den Plan, eine gewisse Sorte von Manschettenknöpfen in Mexiko zu lancieren, Frankfurter Rechtsanwälte lassen sich in Australien nieder, Schriftsteller aus Wien versuchen, Artikel in holländischen oder dänischen Publikationen unterzubringen. »Die Forderung des Tages – deine Pflicht!« Deutsche Ärzte bemühen sich um Assistentenstellungen in kalifornischen oder türkischen Hospitälern; deutsche Schauspieler bieten sich in Hollywood an; die Gattinnen vertriebener deutscher Professoren wollen Wiener Cafés in Argentinien eröffnen. Wird es ein Erfolg oder ein Fiasko? Langt das Geld und wer könnte noch etwas zur Verfügung stellen? Bekomme ich die Aufenthaltserlaubnis? – Dies sind lebendige Fragen, Lebensfragen, dies ist Alltag, für Wunschträume und geheime Hoffnungen bleibt wenig Zeit.

      Gar zu viele und zu lang ertragene Sorgen können den Charakter verderben: mancher nimmt Schaden an seiner Seele, wenn er schier ununterbrochen über Transitvisen und Geldbeschaffung grübeln muß. Auch das intellektuelle Niveau senkt sich – gesetzt den Fall, daß es jemals eine Höhe hatte, von der sich hinabgleiten ließ – das Interesse für alles Feinere, alles Schwierig-Zarte hört auf, auch das Mitgefühl wird erstickt von der permanenten Angst um die eigene Zukunft, und schließlich bleibt nur noch ein Egoismus übrig, der stumpfsinnig und völlig lieblos werden läßt.

      Ach – nicht alle, nicht die meisten unter den Exilierten zeigten sich leidenschaftlich, widerstandsfähig, stark genug, um sich einen offenen Sinn und ein fühlendes Herz zu bewahren! Sie bekamen manches von der weiten Welt zu sehen während dieser fünf Wanderjahre. Aber waren ihnen die Augen nicht schon blind geworden für Schönheit und Jammer der bewohnten Erde? Hatten sie Anteil genommen? Hatte man sie Anteil nehmen lassen?

      Überall blieben sie am Rand der Gesellschaft. Es war Gnade, wenn sie irgendwo verweilen durften – bis auf Widerruf und bis neue, strengere Gesetze gegen sie, die Fremden, erfunden waren. Sie vereinsamten, wurden asozial, weil sie an nichts denken, über nichts reden konnten, was nicht das eigene Elend betraf. Die Monotonie ihrer Gespräche ward lähmend – »Wird Mussolini Ausnahmegesetze gegen die Juden machen? Werden die Handelsbeziehungen zwischen Mexiko und dem Reich sich gegen uns Emigranten auswirken?«

      Anderen freilich war die harte, angespannte Existenzform gut bekommen. Die Fremde hatte sie kühner, klüger und besser gemacht. Ihre mitleidende Phantasie, ihr prüfender Verstand, ihr Glaube und ihr Zweifel hatten sich entwickelt. Früher waren sie vielleicht weichlich und faul, unwissend und sentimental gewesen. Das Exil – die harte Schule, durch die sie gingen – hatte sie zu Menschen geformt. Ihre veränderten, geprüften Herzen waren sowohl empfindlicher als auch entschlossener geworden.

      Helmut Kündinger – um nur irgendeinen zu nennen – wäre in Deutschland ein pedantischer Schwärmer, ein provinzieller Schöngeist geblieben. Zur Emigration zwang ihn niemand – nur der Schmerz um seinen Göttinger Freund. Als wir ihn kennenlernten – Frühling 1933, auf der Terrasse des »Café Select« – wußte der arme Junge noch nichts von den Härten und den großen Möglichkeiten dessen, was ihm bevorstand. Er war schüchtern und ahnungslos – das Gesicht durch Pickel entstellt; den Kopf voller Stefan-George-Zitate. Jetzt sendet er aus China exzellente Berichte an sein Pariser Blatt. Alles, was er schreibt, ist sachlich, präzis, dabei mit journalistischem Schwung formuliert. Kündingers französischer Stil ist klarer und eleganter, als sein deutscher es in Göttingen je geworden wäre. Bei all dem ist ihm nichts von bleichem Ehrgeiz anzumerken. Die Kollegen mögen ihn: er ist ein guter Zechkumpan, anspruchsloser Causeur, liebenswürdiger Zuhörer. In Shanghai trinkt er Whisky und Soda mit den Jungens von der amerikanischen Presse. Wer aber ist der soignierte Weißhaarige, der sich, mit der Miene des Hausherren und Gastgebers, zu ihnen gesellt? Mit Vergnügen erkennen wir ihn: Bobby Sedelmayer, den charmanten Unverwüstlichen!

      Es ist nicht Bobbys Art, zu klagen oder zu renommieren; eher möchte er den Eindruck des stets Leichtsinnigen machen, dem kein Schicksalsschlag etwas anhaben kann. Er erzählt nicht, oder nur ungern, von der ersten schweren Zeit in Shanghai. Hat er wieder Geschirr waschen müssen, wie auch früher schon? Man erfährt kaum etwas darüber. Doch läßt sich nicht verheimlichen, daß eben jenes Hotel, in dem sein Nachtlokal dann florierte, mit schweren japanischen Bomben belegt ward. Wie durch ein Wunder ist Bobby mit dem Leben davongekommen; die Kellner seines Etablissements wurden erschlagen, auch das Mobiliar war hin. Da hieß es wieder und noch einmal: Von vorne anfangen … Bobby blickte nur einige Tage lang fahl – zuviel des Entsetzlichen hatte er mit anschauen müssen! – dann zwang er sich zum rosig-adretten Aussehen wie zu einer Pflicht. Den Tapferen belohnt das Schicksal: die neue Bar war bald ebensogut besucht wie die alte, über der Trümmer lagen. Ungeheures veränderte sich in der Stadt Shanghai, durch China ergoß sich ein Strom von Blut. Die Konsequenz der Ereignisse war riesenhaft, unabsehbar. Bobby wußte es; er war nicht dumm und erfuhr übrigens manches, was der Öffentlichkeit unbekannt blieb: eingeweihte Gäste trugen es ihm zu. Ihm lag es fern, die Wichtigkeit des eigenen Loses zu überschätzen. Er dachte aber – unpathetisch und von charmanter Zähigkeit, wie er war: ›Wem wäre damit gedient, wenn ich in panischer Verzweiflung mich selber aufgäbe? Das Gräßliche macht man nicht dadurch besser, daß man sich unter die Heulenden, Verzagten mischt. Es hat sich herausgestellt und bewiesen, daß ein Nachtlokal unter meiner Leitung große Chancen hat. Niemand kann mir verdenken, daß ich leben will. Wenn die Leute Cocktails und Jazzmusik nicht entbehren wollen, auch während die Erdoberfläche sich unter Katastrophen verändert: bitte sehr! Bobby Sedelmayer ist Spezialist im Vergnügungsgewerbe! Er wird lächeln und adrett aussehen – bis ihn selber eine Bombe trifft …‹

      Sedelmayer und Kündinger tranken sich zu. »Auf was wollen wir anstoßen?« fragte einer den anderen. Der Ältere von ihnen entschied: »Na – daß es noch eine Weile