Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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deren er sich feierlich-innig bewußt war, schenkte ihm freilich die Würde des Hochbetagten. »Wenn ich jünger wäre«, sagte er noch, und über das verfallene Buddha-Gesicht lief ein Schatten alter Ironien – »wer weiß: vielleicht folgte ich Ihnen nach …«

      Dies kam wenig überzeugend heraus. David vermied es denn auch, darauf einzugehen. Er konstatierte nur noch – weniger erregt; gleichsam abschließend: »Man wird mutig unter dem Druck der Verhältnisse – womit ich auch die finanziellen Verhältnisse meine. Ich hatte ein bißchen Geld; es ist aufgebraucht. Den Comités mag ich nicht zur Last fallen. Es ist also nicht der Augenblick, wählerisch und delikat zu sein … Außerdem sehne ich mich unaussprechlich nach Ruhe.« Sein erschöpfter Blick und das überanstrengte Lächeln bestätigten, wie stark sein Ruhebedürfnis war. »Irgendwo muß es doch still sein …« Es klang mehr fragend als überzeugt. »Irgendwo, in einer wilden, reinen Landschaft – in einer Luft, die noch nicht vergiftet ist vom Lärm der Propaganda, von den Lügen der Politik. Ich träume von Urwäldern oder grenzenlosen Prärien, von Steppen oder Gebirgen … Die Gegend, die mir Heimat werden soll, mag öde sein; aber ich verlange Unschuld von ihr, wie von einer Frau. Die große Gabe, die ich von ihr erflehe, heißt: Stille …«

      ›Hoffnungslos‹, dachte Nathan-Morelli. ›Ein gescheiter Kerl, und so hoffnungslos romantisch … Ach, diese Deutschen! Ach, diese Juden! Ach, diese deutschen Juden …‹ – Der Kranke hatte ein Lächeln, in dem Spott und Mitleid sich mischten – ein sehr verächtliches, sehr mildes Lächeln. Schließlich sagte er, mit schwachem Achselzucken: »Ich fürchte, mein Lieber, Sie haben übertriebene Vorstellungen von der grenzenlosen Weite unseres Planeten. Er ist klein geworden. Die Zivilisation umspannt ihn, und mit ihren schätzenswerten Bequemlichkeiten sind überall ihre Probleme da. – Muß ich das Ihnen erklären, lieber Herr Doktor Deutsch?« Seine Stimme wurde strenger; bekam aber gleich wieder den wehmütig gedämpften Klang. »Sie glauben, anspruchslos geworden zu sein, verlangen aber in Wahrheit das Schwierigste, Kostbarste, Seltenste. Unschuld und Stille … wo finden wir die? – Doch nicht hier!« entschied mit spöttisch-mitleidsvollem Lächeln der Kranke. »Lieber, armer Freund – doch nicht hier …«

      Nicht hier, doch nicht hier … Die paradiesisch unberührte Landschaft; das idyllisch-wackere Leben – karg und heiter zugleich – wie weit müssen wir reisen, wohin sollen wir fliehen, um ihm noch zu begegnen? – Glaubt David Deutsch an die Erfüllbarkeit seiner Träume? Er kann glauben, weil er glauben muß – die Not des Herzens, des verwirrten Geistes, wie auch seine ökonomische Situation zwingen ihn zum Letzten, Äußersten. Er wendet sich – mit höflich-schiefen Bücklingen, aber doch entschieden – von dieser Zivilisation; denn auf ihr liegt ein Fluch. Das ist die Erkenntnis, zu der lange, angestrengte Studien ihn schließlich gebracht haben.

      Die Zivilisation – im Stich gelassen, aufgegeben von ihren klügsten, aufmerksamsten Söhnen – scheint nach dem eigenen Untergang zu lechzen. Lange genug hat sie sich üppig entfaltet, jetzt aber will sie heim, zurück, in den Urwald – mit ihren eigenen Mitteln, mit dem Raffinement ihrer triumphierenden Technik hebt sie sich selber auf. Noch einmal entfaltet sie sich aufs eindrucksvollste, ihre Apokalypse ist pittoresk – großes Schauspiel, glänzend inszeniert – in schaurig-imposanten Bildern führt sie sich zu Ende. »Der totale Krieg«: blutrünstige Intellektuelle, späte Erben des abendländischen Geistes – hysterisch entartet, völlig ruchlos geworden – haben ihn eifrig genug propagiert, seine stählern vernichtende Schönheit in schrillen Tönen besungen. Paßt auf: er wird das Überraschendste zu bieten haben, dieser vielgerühmte »totale Krieg«! Feuerwerk ohne Beispiel, infernalische Ausstattungsrevue grandiosen Stils wird er sein! In fulminantem Tempo wird unsere Zivilisation zugrunde gehen – dies ist ihre letzte Ambition. Schnelligkeitsrekord der Vernichtung; Organisation der Katastrophe; Virtuosität des Massenmordes: das ist es, wozu die Patrioten sich fiebrig rüsten.

      Die Vorbereitung des totalen Krieges muß notwendig eine totale, umfassende sein. Nicht nur ökonomisch, politisch, militärisch organisiert man die Katastrophe; auch moralisch und psychologisch soll die Menschheit reif gemacht werden zum großen Rückfall ins Barbarische, zur schauerlichen Heimkehr in Nacht und Tod. Alte Vorurteile könnten störend wirken, die Tradition der menschlichen Gesittung wird zum hemmenden Ballast, »Freiheit« und »Barmherzigkeit« sind skandalöse Vokabeln, sowohl lächerlich als auch kriminell – weg damit! Endlich zum Teufel mit ihnen! Wir sind die Teufel, sind der Antichrist – empfinden die regierenden Mörder. Von dem Höllenlärm, den wir verbreiten, werden die zarteren Stimmen verschlungen, jede Warnung muß untergehen, und ungehört verhallt jede Klage. – ›Machen wir euch die Erde zur Hölle?‹ fragen mit lustiger Neugier die Teufel. ›Nur Geduld, Kinderchen! Wir sind erst am Anfang. Es soll noch unvergleichlich toller kommen!‹

      Es soll noch toller kommen, ist aber schon toll genug. Das Training zur Katastrophe hat seinerseits schon katastrophalen Charakter. Die Menschen gewöhnen sich an die eigene Entwürdigung, an den Verlust der Freiheit, die Ungewißheit und permanente Gefährdung des Lebens. Das Menschenleben wird zur Bagatelle; ehe man es noch vernichtet, beraubt man es seines Wertes – wer nichts mehr zu verlieren hat, fürchtet nichts; der Sklave freut sich auf den Weltuntergang …

      ›Treiben wir dem Pack zunächst die Menschenwürde aus!‹ beschließen die regierenden Mörder. Mit Folterinstrumenten alter und neuester Konstruktion, mit Konzentrationslagern, Propagandageheul und straffer Zucht wird sie schnell erledigt. Auch Bombenflugzeuge werden gelegentlich schon verwendet – um des Trainings willen, und um den Widerspenstigen zu beweisen, über welch famosen Apparat wir verfügen.

      Nicht nur Bobby Sedelmayer, der unverwüstliche Bonvivant, hörte die Explosivstoffe krachen. Dem gleichen Lärm lauschten Mutter Schwalbe, das Meisje und Dr. Mathes: das geschah in Barcelona, März des Jahres 1938. Zahlreiche Bomben fielen, es war eine Generalprobe, die fast schon der Monstre-Gala-Aufführung glich. »Verdammt noch mal!« murmelte Mathes. Die zwei Frauen schwiegen; das verwitterte Kapitänsgesicht der Schwalbe war fahl, man hatte es noch nie so gesehen: unter dem borstigen weißen Haar glich es plötzlich dem Gesicht einer uralten Frau. Die letzten Wochen hatten ihr zugesetzt, es hatte harte Arbeit gegeben, und sie war kein Kind mehr, unsere Schwalben-Mutter. Ihr Blick war zugleich härter und sanfter, strenger und tiefer geworden; die Vertrautheit mit dem Tode hatte ihn verändert. Nun also surrten sie wieder über der schönen, tapferen, viel gequälten Stadt Barcelona – die schwarzen, wendigen Todesvögel; die schrecklichen Maschinen deutscher und italienischer Konstruktion. Die Sirenen heulten – aber zu spät, es hatte schon gekracht, dies war schon der Höllenlärm der Zerstörung, die Leute von Barcelona erreichten die Unterstände nicht mehr, man hatte sie überrascht – welch ein Spaß! Welch geglücktes kleines Experiment! Kinder winden sich in ihrem Blute, man hat sie auf offener Straße erwischt, die roten kleinen Bestien! Noch eine Bombe – solid-preußisches Fabrikat – eine Mietskaserne stürzt zusammen wie ein Kartenhaus. Hier wohnten Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Familien waren hier glücklich oder zankten sich, waren arm oder in leidlich guter Situation – was geht es uns an! Keine Sentimentalitäten! Hin ist hin, nichts ist billiger und leichter zu ersetzen als ein paar Dutzend Menschenleben – lohnt es sich, die Leichen unter den Trümmern hervorzuziehen? Man kann sie nicht mehr erkennen; sie sind verstümmelt, beinah plattgedrückt – da seht ihr, was die Menschenwürde ist! Haben diese komischen Kadaver noch Würde? Lacht doch über sie! Kichert, frohlockt über die komplette Entwürdigung! Wer weint hier? Wer ist altmodisch, ahnungslos genug, noch Tränen zu vergießen angesichts eines so natürlichen, heiteren, durchaus modernen kleinen Zwischenfalles? – Nehmen Sie sich doch zusammen, Fräulein! Sie scheinen zu vergessen, in welcher Zeit Sie leben! Das Gebot der Stunde heißt: Entmenschlichung; Verhärtung des Herzens … Voici le temps des assassins! Sie werden ja zum öffentlichen Gespött, dumme Gans!

      Wir kennen die Weinende, es ist das Meisje, sie irrt mit ihren zwei Kameraden, der Schwalbe und Dr. Mathes, vor den aufgerissenen, zerfetzten, rauchenden, brennenden Häusern. Ganze Straßenzüge sind in Trümmer gelegt, die Häuser stehen schauerlich geöffnet, ihre Vorderwand ist abgefallen, schamlos enthüllen sie ihr Inneres, ihr Eingeweide: man kann in die Stuben sehen wie auf kleine Bühnen. Noch immer stürzen Treppen oder Mauern ein. Das fallende Gestein donnert wie eine Lawine. Die Verwundeten schreien, manche wimmern nur noch, andere schweigen. Die Toten schweigen. Es schweigen auch die Leute von Barcelona