falsche Nasen verteilte. Ein Professor der englischen Literatur – sonst ein stiller, reservierter Herr – machte exzentrische Schritte, wobei er sich mit der flachen Hand abwechselnd auf die Stirn und auf die Knie schlug. Er behauptete, dies sei Schuhplattler, er habe es in Oberammergau so gelernt. Ein ernstes Fräulein, das in der Bibliothek arbeitete, bekam einen Lachkrampf, Jonny mußte ihr den Rücken klopfen – was ihr so angenehm war, daß sie nun erst recht weiter lachte. Mrs. Piggins sollte von Professor Schneider einen Tanz lernen, der »Big Apple« hieß und große körperliche Gewandtheit voraussetzte. Sie tat ungeschickte Sprünge und rief immer wieder: »It’s much too difficult!« Schließlich sank sie in einen Sessel und brachte nur noch hervor: »My Lord – we are having lots of fun!!« – als müßte sie sich und alle Anwesenden an diesen erfreulichen Umstand erinnern.
In einer stilleren Ecke sagte Marion zu Benjamin: »Komisch – jetzt ist es in Zürich sieben Uhr morgens. Mama schläft noch. Aber es ist schon hell.«
Marion und Benjamin hatten nur noch ein paar Tage für ihr Beisammensein und für die vielen Gespräche. »Dann soll ich dich sechs Wochen lang nicht sehen«, sagte er. »Es ist schlimm.«
Wenn er nichts in der Universität zu tun hatte, war er fast immer mit ihr. Sie saßen zusammen, in ihrer Hotelstube oder im Bibliothekszimmer seiner Wohnung oder in einem Lokal. Bei angenehmem Wetter gingen sie spazieren und freuten sich der bescheidenen Reize einer flachen Landschaft. Einmal schlug Marion plötzlich vor, sie wollten Kaffee im Restaurant des Bahnhofes trinken. Abel mochte nicht recht. »Ich hasse Bahnhöfe …« Sie bestand darauf. – »Bahnhöfe sind scheußlich; aber ich bin an sie gewöhnt wie das Kind an die Schule. Ab und zu muß ich einfach Bahnhofsluft riechen …« – Er tadelte sie: »Eine miserable Gewohnheit!« Sie machte ihr trotziges Gesicht: »Kann schon sein …« und jubelte, als sie die vertrauten Träger mit den roten Mützen sah und die Pullman-Wagen und das kümmerliche Buffet, wo die Leute schalen Orangensaft und lauen Milchkaffee schlürften.
Sie behauptete: »Es ist reizend hier!« Er schüttelte mißbilligend das Haupt. Sie erkundigte sich, ob er auch die Neger in den Schlafwagen so sehr liebe. Er antwortete ausweichend; sie sagte: »Es sind lauter herzensgute Menschen! Ich fühle mich bei ihnen geborgen wie in Abrahams Schoß. Sie behandeln mich so väterlich: das ist wohltuend. Wenn ich im Pullman car Zigaretten rauche – was doch eigentlich verboten ist – lächeln sie mir mild und schelmisch zu – ich könnte ihnen um den Hals fallen.«
Später wurde sie ernster. »Ich werde das Reisen nie ganz aufgeben können«, erklärte sie kummervoll, aber entschieden – als setzte sie dem Bräutigam auseinander: Auf mir liegt ein kleiner Fluch, ich bin eine Reisende, es läßt sich leider nicht ändern. »Ich bin auch ehrgeizig«, gab sie zu. »Benjamin – du erwartest doch nicht, daß ich Schluß mit meiner Karriere mache? – Es ist eine so alte Gewohnheit von mir, mich den Leuten für Geld zu zeigen!«
Er versetzte: »Du sollst später entscheiden, ob du weiter auftreten und reisen willst. Zunächst wirst du wohl etwas stiller leben müssen – wegen des Kindes.«
Sie senkte das Gesicht und blieb still, für mehrere Sekunden. Schließlich sagte sie – aus was für Gedankengängen heraus?: »Es gibt noch soviel zu tun.« Benjamin nickte ernst. Sie schaute ihn an: »Für uns beide. Sehr viel zu tun – für dich und für mich …«
Dann wendete sie sich von ihm ab, um einen Träger mit roter Kappe zu beobachten; er verlud Handgepäck auf einen Karren. In einer Viertelstunde ging der Zug nach Chicago.
Marion sagte: »Als der brave alte Schneider uns neulich prophezeite, wir würden nach Deutschland zurückkehren – es kam mir so sonderbar vor. Wollen wir denn zurückkehren?«
»Ich weiß nicht«, sagte Benjamin. »Ich muß oft darüber nachdenken. Natürlich hängt es von tausend Umständen ab, die sich gar nicht voraussehen lassen. Aber alles in allem glaube ich doch eher: ich will nicht zurück …«
Sie schaute sinnend dem Rauch ihrer Zigarette nach. »Ich glaube, alles in allem will ich doch zurück …« Dabei schien sie plötzlich zu frösteln. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. »Es wird schrecklich sein …« sagte sie und lächelte angstvoll.
»Was?« fragte er. Sie erwiderte – die Augen beim Gepäckträger, der seinen Karren zum Perron schob, wo der Chicago-Zug stand: »Die Heimkehr. – Man wird nichts mehr erkennen!« Dies sagte sie hastig, hatte dabei auch wieder die fröstelnde Bewegung der Schultern. »Alles wird total verändert sein – unheimlich fremd geworden … Die Straßen, die Gesichter – alles … Vor allem die Gesichter, natürlich.« Der Gepäckträger war verschwunden. Mehrere Reisende drängten zum Perron. Der Zug nach Chicago mußte bald fahren. »Ich fürchte mich davor, in Deutschland Menschen wiederzusehen, die ich früher gekannt habe«, sagte Marion.
»Ich auch«, sagte Benjamin. »Deshalb möchte ich nicht zurück.«
Sie redete weiter: »Wir sind so sehr abgeschnitten von Deutschland – es beunruhigt mich oft. Natürlich, wir bekommen Berichte; wir haben Freunde, Verbindungsleute, die uns alles erzählen, was drinnen vorgeht. Aber genügt es? – Ich weiß doch nicht, ob es völlig genügt … Vielleicht entgeht uns das Wesentliche. Wir können uns vielleicht die Atmosphäre im Reich gar nicht mehr vorstellen. Unter dem Druck dieser Atmosphäre bilden sich dort vielleicht Charaktere, die wir kaum begreifen; formieren sich Fronten, von denen wir ausgeschlossen bleiben …«
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß wir viel versäumen. Wir kennen doch Menschen, die noch jahrelang im Dritten Reich gelebt haben. Sind sie um eine bedeutende innere Erfahrung reicher als wir? Ich habe die meisten seelisch ausgehöhlt, geschwächt, fast erledigt gefunden. – Das Dritte Reich hat eigentlich keine Realität. Ihm fehlen alle Elemente der Größe – selbst im Negativen. Es ist durch und durch journalistisch. Seine Basis ist das Schlagwort; die Propaganda – die für sein Entstehen die Voraussetzung war. Das Leben verödet, es verliert seine Inhalte, seine Substanz. – Es wird niemals ein großes Epos über Nazideutschland geschrieben werden«, versicherte er mit überraschender Dezidiertheit. »Nicht einmal ein großes Epos der Anklage – wenn alles vorüber ist. Dieser monströse Staat ist hohl wie die Köpfe derer, die ihn dirigieren. Das Hohle haßt oder bewundert man nur, solange es Macht hat. Wenn es gestürzt ist, vergißt man es möglichst schnell, wie einen Alptraum.«
Marion erinnerte sich an ein paar Zeilen, die sie oft rezitiert hatte: »Nicht gedacht soll seiner werden …« Es war eine ihrer wirkungsvollsten Nummern gewesen. Sie begann, fast mechanisch, das schauerliche Fluchgedicht aufzusagen; unterbrach sich aber, und wiederholte eigensinnig: »Wir müssen zurück. – Ungeheure Aufgaben werden sich stellen, wenn der Alptraum ausgeträumt ist. Wer soll sie denn bewältigen – wenn wir uns drücken?! Die alten Gruppierungen und Gegensätze – ›rechts und links‹, ›bürgerlich und proletarisch‹ – werden keine Geltung mehr haben. Die Menschen, die guten Willens sind – die anständigen Menschen finden sich, vereinigen sich, arbeiten miteinander. Wir gehören doch zu ihnen! – Wollen wir uns denn ausschließen?!« Sie packte Abel am Arm. Sie rief ihm zu: »Komm mit mir!« – als führe der Zug dort draußen auf dem Geleise nicht nach Chicago, sondern nach Berlin, und sie müßten sich sputen, um ihn noch zu erreichen.
»Aber ich bin so gerne in Amerika!« sagte er, etwas schläfrig. »Und ich mag Professor Besenkolb nicht wiedersehen.« – »Den lassen wir hinrichten!« entschied Marion. Sie lauschte, schräg gehaltenen Kopfes. Dies war das Geräusch des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte. Der Gepäckträger kehrte mit leerem Karren in die Bahnhofshalle zurück.
Marion sank ein wenig in sich zusammen. Sie wandte Benjamin ihr Gesicht zu – ein erschöpftes Gesicht, mit kleinen Falten um die schrägen Augen und den üppigen Mund. Die Hände hoben sich von ihrem Schoß; bewegten sich matt, mit einer ratlosen Geste, und senkten sich wieder – zu kraftlos jetzt, um auszudrücken, was dies Herz verwirrte. Ihr Haupt glitt ein wenig zur Seite, als wollte es ausruhen auf der Schulter des Mannes.
Sie lächelte zaghaft, um Verzeihung bittend – wegen ihrer Reiselust und wegen ihrer gar zu großen Müdigkeit. Das verschwimmende Lächeln gestand: Mein Bedürfnis nach immer neuen Strapazen ist ebenso stark wie meine Angst vor ihnen. Du hast dir eine