innig bei der Sache war, fand sie es angebracht, etwas Vernünftiges zu erwidern, anstatt nur die Empfindliche zu spielen. Sie sagte: »›Das schöne Menschliche‹ – hübsch und poetisch formuliert! Fraglich scheint nur, ob wir es auch ›das Unvergängliche‹ und ›das Unverlierbare‹ nennen dürfen. Gerade jetzt sieht es doch ziemlich bedroht und gefährdet aus; in Deutschland, zum Beispiel – wo es so besonders zu Hause schien – hat man es zur Zeit ganz verloren. Der Faschismus und ›das schöne Menschliche‹ vertragen sich nicht. – Sie haben es selber betont, Herr Professor! Deshalb bekämpfen wir den Faschismus. Man sollte nicht gar zu wählerisch sein in kriegerischen Zeiten; die Dinge vereinfachen sich. ’s ist Krieg, ’s ist leider Krieg – um noch einen deutschen Dichter zu zitieren, den frommen Matthias Claudius. Hoffentlich finden Sie nicht, daß ich ihn ›demagogisch benutze‹ und ›entwürdige‹ … Entwürdige ich die Großen, wenn ich sie als Zeugen anrufe für unseren Zorn und für unsere Hoffnung? Wenn ich ihre Worte klingen lasse, zur Verteidigung des ›schönen Menschlichen‹?«
Es war ein kompletter Sieg. Mrs. Piggins weinte fast vor Rührung, sogar Mr. Piggins schmunzelte, Professor Schneider hob die feinen alten Hände und rührte sie Beifall klatschend, wobei er, fast zirpend vor Wohlgefallen, »Bravo! Bravo!« rief. Jonny, der Braungebrannte, konnte sich nicht beherrschen, er warf Marion eine Kußhand zu – wodurch Benjamin Abel zu neuem Widerspruch gereizt wurde. Während Marion geredet hatte, war Verklärung auf seinem Antlitz gewesen. Er schien ihre Worte mit halb geöffneten Lippen zu trinken. Er lauschte ihrem Wort, als wäre es eine Liebeserklärung – und sie galt ihm, er empfing sie mit innigem Blick und benommenem Lächeln. Gleich aber wurde er wieder streitsüchtig. Mochte der braune Jonny schwärmerisch sein und sich durch kleine Koketterien beliebt machen! Er – Benjamin – zog es vor, geistvoll zu hadern.
Er insistierte: Die Tendenz zur Vereinfachung ist das Charakteristikum der Barbaren. Uns jedoch sei nicht gestattet, dem Komplizierten aus dem Weg zu gehen durch rhetorische Tricks. Im Gegenteil: gerade die kämpferische Situation verpflichtet uns zu einer Gewissenhaftigkeit – die Leidenschaft keineswegs ausschließt. »Wenn wir uns an Schlagworten berauschen, sind wir nicht besser als der nationalistische Pöbel!« rief drohend Professor Abel. »Die großen Werte bleiben nur lebendig, wenn wir sie immer wieder in Frage stellen, sie immer wieder prüfen, revidieren, mit neuem Leben füllen. Der Wert der Freiheit zum Beispiel – um den es vor allem geht …«
Das Gespräch dauerte lang. Marion blieb bei ihrem militanten Standpunkt: Nicht Analyse unserer moralischen und intellektuellen Begriffe sei das Gebot der Stunde; vielmehr: aktive Verteidigung unserer Position – »womit ich nicht nur die moralische, sondern auch die physische Position meine!« – Benjamin, geistvoll hadernd, bestätigte: Gewiß, um unsere Position gehe es, sie sei vielfach bedroht. Wir verteidigen sie am besten, wenn wir sie befestigen, sie neu unterbauen. Gegen die geistig inhaltslose Aggressivität der Barbarei haben wir als stärkste, edelste und wirkungsvollste Waffe unser konstruktives, substantielles Denken; unsere Leistung, unseren moralischen Ernst, die hohe kulturelle Ambition.
Mrs. Piggins wurde ein wenig schläfrig, während ihr Gatte wach und munter blieb. »The continental troubles« waren nicht seine Sache; aber er zog doch gewisse Schlüsse – ein nachdenklicher Realist. Professor Schneider und der junge Museumsdirektor suchten, sich ins Gespräch zu mischen: Jonny, stets temperamentvoll zu Marions Gunsten; der Gelehrte sanft und vermittelnd, manchmal auch humoristisch. Einige der Gäste hatten sich schon zurückgezogen; es wurde auch kein Whisky mehr angeboten. Schließlich brach Marion auf.
Professor Schneider, natürlich, war etwas enttäuscht, weil man ihm keine Gelegenheit gewährt hatte, Walzer auf dem Pianoforte zu spielen. Indessen war er selbstbeherrscht genug, galant und schalkhaft zu bleiben; er erbot sich, Marion in seinem Wagen zum Hotel zu bringen – »wenn Sie sich nicht davor fürchten, mit mir altem Schwerenöter durch die Nacht zu fahren!« scherzte er, mit etwas müdem Fingerdrohen. Museumsdirektor Jonny – unternehmungslustig, trotz der vorgerückten Stunde – erklärte: nein, es würde ungerecht sein. Kollege Schneider habe Fräulein von Kammer schon einmal befördern dürfen; nun sei er – der Braungebrannte – an der Reihe. Benjamin schwieg verbissen; seine Blicke wurden leidvoll und drohend. Marion bedankte sich bei der total erschöpften Mrs. Piggins für den »most delightful evening« und verschwand in Jonny Clarks kleiner Limousine.
Der gelehrte Skiläufer erzählte lustige Dinge; seine Dame blieb schweigsam, lachte kaum und refüsierte sogar den Drink, den er in der Hotelbar für sie bestellen wollte. Jonny fühlte sich etwas enttäuscht; doch er küßte ihr zum Abschied ausführlich die Hand – einerseits, weil er es für »continental« hielt; andererseits, weil es ihm sehr angenehm war, seine Lippen mit ihrem Fleisch in Berührung zu bringen. – »Darf ich Ihnen morgen das Museum zeigen?« fragte er, das Gesicht über Marions lange, unruhige Finger geneigt. Sie sagte: »Ja … natürlich … es wird mich interessieren …« Sie hatte vergessen, daß es ihre Absicht gewesen war, den nächsten Zug nach New York zu nehmen. Was sollte sie in New York? Tullio war auf und davon, hatte Abschied genommen mit hochtrabenden und konfusen Worten.
»Thank you«, sagte Jonny Clark. »Sleep well. See you tomorrow.«
Marion konnte lang nicht schlafen. Sie dachte an den tückischen jungen Deutschen. ›Er wollte mich aufs Glatteis locken und blamieren. Es ist ihm nicht geglückt. Ein Kavalier war zur Stelle – der hat sich ritterlich meiner angenommen. Später polemisierte er gegen mich, geistvoll hadernd. Welch seltsamer Kavalier! Stämmig und zart von Erscheinung; mit dem behäbigen Gesicht eines Familienvaters, einem frauenhaft kleinen Mund und mit erstaunlichen Augen … Ein höchst kurioser Mann, dieser Benjamin Abel …‹
Sie dachte auch an Jonny, den Braungebrannten; aber nur flüchtig. What a charming boy – very attractive, indeed! Aber es war nicht mehr die Stunde für solche Spiele. ›Ich lasse mich nicht mehr ein‹, beschloß Marion – und dann war es Tullio, der göttliche Fensterputzer, der ihre Gedanken noch einmal beherrschte. Ach, diese Jünglinge, diese Knaben – wie leicht, wie vergänglich sind ihre schnellen Triumphe! Sie treten ins Zimmer, ausgerüstet mit ihrem Charme, mit einem Kübel und diversen Lappen, sie lächeln, sie renommieren, sie siegen, und die erste Umarmung ist fast schon der Abschied: Leb wohl, und vergiß mich nicht! – Wie sollte sie ihn vergessen? Das mehrfach verwundete Herz verhärtet sich nicht; es wird doppelt empfindlich. Übrigens könnte Marion noch sehr realen Anlaß haben, sich an Tullio zu erinnern – mit Schmerz und Glück, Zärtlichkeit und Gram. ›Ich werde seiner gedenken – die Stunde kommt.‹ Sie ahnte es, sie wußte es schon fast. Indessen verdrängte sie noch die Ahnung und gestattete dem Wissen nicht, bewußt zu werden.
Am nächsten Morgen, ziemlich früh, erschien Abel. Er brachte Blumen; er entschuldigte sich. »Ich war dumm, gestern abend. Alles, was ich vorgebracht habe, war schierer Unsinn.« – Marion widersprach – es war nun schon ihre Gewohnheit, ihm nicht recht zu geben: »Doch nicht schierer Unsinn! Zwischen übertriebenen, schiefen Behauptungen ist auch Kluges, Richtiges vorgekommen. Einiges habe ich mir genau überlegt und will es beherzigen.« Er lächelte dankbar.
Während er bei ihr saß, klingelte das Telefon: Jonny Clark erkundigte sich, wann er mit dem Wagen kommen dürfe. Abel erklärte schnell: »Der Wagen ist überflüssig. Ich begleite Sie ins Museum.« Marion, ohne ihn anzuschauen, sprach in den Apparat: »Der Wagen ist überflüssig. Professor Abel wird die Freundlichkeit haben, mich zu begleiten.«
Benjamin Abel warb um Marion von Kammer. Noch hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie liebte. Sie wußte es schon, obwohl er, innig und pedantisch, nur von hohen, schwierigen Dingen sprach. Er liebte sie, sein Herz war ergriffen, noch niemals war es solcherart ergriffen gewesen; er gestand sich, mit einem Schauder von Wonne und von Entsetzen: ›Ich liebe zum ersten Mal. Sonderbar: man ist beinah fünfzig, man wird kahl und fett – da packt es einen wie nie zuvor. Alles, was bis jetzt gewesen ist, war nur Vorbereitung und lange Übung; die brave Annette, das süße Stinchen und die wenigen anderen – ich habe sie ganz vergessen. Ich liebe Marion. Ich will sie heiraten. Sie gehört zu mir. Unsere Leben werden sich verbinden. Verbunden und vereinigt werden sie sinnvoll sein – mein verworrenes Leben und ihres. Das Glück wird kommen, nach so langem Warten.‹ – Welch kühne, einfache Worte – noch nicht ausgesprochen, aber insistent und innig gedacht! Welche Naivität! Wieviel kindliche