Kikjou wertvolle politische Dienste geleistet habe. »Er ist tapfer und geschickt, außerdem kommen ihm seine Sprachkenntnisse und seine gesellschaftlichen Verbindungen zugute. Wir konnten ihn unlängst in einer besonders heiklen Mission ins Reich schicken. Die Aufgabe war schwierig und ist gut von ihm gelöst worden.«
Hierüber freute sich Marion; war übrigens kaum überrascht. Aus dem kleinen Kikjou war ein Mann geworden: sie hatte es in dem Pariser Versammlungssaal, und besonders bei der flüchtigen Begegnung im Treppenhaus konstatieren können – damals nicht ohne Erstaunen. Nun bewährte er sich: mit Befriedigung nahm es Marion zur Kenntnis, als hätte ein Sohn oder ein Bruder etwas Braves geleistet.
Die Schwalbe war nach Spanien abgereist – wußte Hummler noch. Ihr Pariser Lokal hatte sie für eine Weile geschlossen und sich, mit Dr. Mathes und Meisje zusammen, dem Sanitätsdienst der loyalistischen Armee zur Verfügung gestellt. Zur Zeit befanden sich alle drei – Mathes, sein Meisje und die Schwalben-Mutter – mit ihrer Ambulanz an einem Frontabschnitt bei Valencia. »Von unserem kleinen Kreis hier ist also nicht mehr viel übrig«, vermerkte Hummler – und Marion empfand: ›Wie einsam er geworden sein muß!‹ – »Helmut Kündinger ist in China, eine große Pariser Zeitung hat ihn als Korrespondenten geschickt. Der Junge hat sich prachtvoll entwickelt, ist ein prima Journalist geworden, auch für unsere Zwecke oft sehr gut zu verwenden.« – Immer wieder kam er auf »unsere Zwecke« zurück: auf den zäh und unermüdlich geführten Kampf. Das Private war Nebensache. Trotzdem gestand er zum Schluß: »Ich wünsche oft, Du wärst hier, Marion! Du warst doch die Beste. Ich muß viel an Dich denken. Du fehlst mir.«
›Ich fehle ihm also …‹ Marion wußte selber nicht, warum es sie bewegte und etwas traurig machte. ›Mir fehlt auch dies und das. Jedem fehlt dies und das … Jetzt muß ich mich aber schleunigst zurechtmachen: Mrs. Piggins wird ja gleich hier sein. Die Dame, die mich abzuholen kommt, heißt doch wohl Mrs. Piggins? Oder war das der Name des Klubvorstandes in der vorigen Stadt? Wäre peinlich, wenn ich’s durcheinanderbrächte … Wo spreche ich eigentlich heute? In der Universität …?‹
Der Vortrag »Germany Yesterday – Germany Tomorrow« fand in der Aula des kleinen »College« statt und wurde mit interessiertem Beifall aufgenommen. Ein Publikum, das zur Mehrzahl aus jungen Leuten bestand, war Marion stets das liebste: Zwanzigjährige sind die besten Zuhörer – wenn sie nicht durch Schlagworte verdorben und stumpfsinnig gemacht worden sind. – Nach der »lecture« gab es eine »Diskussion«; aus dem Publikum wurden Fragen gestellt, und Marion – eine fragile Pythia auf dem Podium – mußte orakelhaft die Antwort improvisieren. »Wer wird in Deutschland nach Hitlers Sturz regieren?« – »Was halten Sie von den United States of Europe?« – »Wird der Führer die Tschechoslowakei angreifen?« – Das Orakel mußte Bescheid über alles wissen – auch über die Frage: »Wie alt wird Herr Hitler werden?«
Ein junger Mann meldete sich zum Wort. Er war von angenehmem Äußeren: das blonde Haar akkurat gescheitelt, darunter ein rosiges Gesicht mit langer Nase. Seine Stimme freilich enttäuschte: sie klang scharf und sprach das Englische mit einem harten, fremden Akzent. Marion wußte gleich: Der führte Böses im Schilde; er wollte sie hereinlegen, aufs Glatteis locken. Zunächst blieb er äußerst höflich. »Fräulein von Kammer ist eine Künstlerin«, stellte er artig fest. »Sie kennt und liebt die große deutsche Kultur – ich habe ihren Vortrag sehr genossen. Eine Patriotin – und sicherlich ist Fräulein von Kammers vaterländisches Empfinden stark und ehrlich – kann nicht die Absicht haben, Propaganda gegen ihr eigenes Land zu machen.« Mit einem überlegenen Lächeln fuhr er fort: »Wenn ich die Rednerin recht verstanden habe, so verdammt sie das Dritte Reich vor allem aus humanitären und kulturellen Gründen. Sie stellt die Behauptung auf: Deutschlands beste Geister – die man nach ihrer Ansicht nicht mehr fragen kann, da die betreffenden Herren längst nicht mehr unter den Lebenden weilen – würden heute gegen Hitlers Staat sein, weil sie sich über gewisse Härten der totalitären Regierungsführung und über die Einschränkung der Pressefreiheit empören müßten.« Er machte eine Pause; sein Lächeln drückte Skepsis und Mitleid aus. Dann aber wurde es lauernd. Den Oberkörper vorgeneigt, das Gesicht stärker gerötet, bemerkte er:
»Nur eines erstaunt mich bei den Fanatikern des Antifaschismus – bei unserer begabten Rednerin wie bei vielen anderen. Warum finden sie Vorgänge und Institutionen in Sowjetrußland verzeihlich, die ihnen im Deutschen Reich so sehr mißfallen? Nehmen wir sogar an, in Deutschland seien Grausamkeiten begangen worden, wie in jedem jungen, revolutionären Staat – ich will sie gewiß nicht entschuldigen. Aber ich muß doch fragen: Hat die bolschewistische Diktatur sich nicht unvergleichlich mehr, nicht sehr viel Schlimmeres zuschulden kommen lassen? – ›Diktatur‹: da haben wir ja das Wort. Immer wieder müssen wir uns die Greuelberichte über die Schandtaten der nationalen, aufbauenden, erhaltenden Diktaturen anhören; für die Exzesse des absolutistischen Bolschewismus scheinen unsere Antifaschisten sich viel weniger zu interessieren. Gibt es in Sowjetrußland eine Pressefreiheit – ja oder nein? Ist in Sowjetrußland gemordet worden? Wird dort weiter gemordet? Ja – oder nein?« Er brüllte, seine Miene war purpurn, den Oberkörper hielt er immer noch vorgereckt. »Ich bin gewiß kein Faschist« – dabei schnaufte er heftig – »meine Freunde hier wissen das. Aber ich finde, wir sollten nicht unfair sein. Beschönigen oder verschweigen, wenn es sich um Rußland handelt; übertreiben und hetzen, wenn Deutschland zur Diskussion steht – das geht nicht! Das ist gegen die guten Sitten!«
Seine Rede hatte einen gewissen Eindruck gemacht. Der junge Mann hatte fließend, dabei temperamentvoll gesprochen. Erst zum Schluß war er etwas aus der Form geraten. Durch seine Unhöflichkeit gegen Marion hatte er Sympathien verloren. – Mrs. Piggins, die Diskussionsleiterin, war nervös geworden. Sie flüsterte Marion zu: »Furchtbar unangenehm! Herr Fröhlich ist ein deutscher Austauschstudent – ein begabter Junge, recht beliebt im College. Er hat niemals Sympathien für die Nazis offen zugegeben; war immer sehr zurückhaltend, durchaus objektiv. Was ist nur in ihn gefahren? Wie peinlich! Ich hätte ihn nicht sprechen lassen sollen! Nun müssen Sie ihm erwidern, Fräulein von Kammer!«
Marion war im Begriff, sich ihre Antwort zurechtzulegen. Diesen Burschen mußte man abfahren lassen! Welch gemeiner Demagogentrick: in die Diskussion ein Thema zu zerren, das abseits lag und nur Verwirrung stiften konnte! – Sie öffnete schon den Mund, um ihre Replik zu beginnen; da wurde ihr schwindlig, sie taumelte, griff hinter sich, ihr Gesicht war weiß. Sie spürte: ›Gleich werde ich stürzen … Was ist mit mir? Ist es dieser aggressive Deutsche, der mich so aufgeregt hat? Was sonst kann es sein? Um Gottes willen; was sonst kann es sein …?‹ Mühsam hielt sie sich aufrecht.
Erlösende Überraschung! Von unten, aus dem Publikum, hörte sie eine tiefe, beruhigende Stimme. Ein Mann sprach; Mrs. Piggins mußte ihm das Wort erteilt haben, ohne daß Marion es bemerkt hatte.
Der Mann sagte: »Mir scheint, zuerst und vor allem ist es meine Pflicht, Fräulein von Kammer im Namen unseres Colleges um Entschuldigung zu bitten.« Auch er hatte den unverkennbar deutschen Akzent. Er redete langsam, mit einer seltsam gepreßten, zurückgehaltenen Intensität. Er schaute Marion an, während er redete. Vor ihren Augen war es eben noch beinah schwarz gewesen. Nun konnte sie wieder sehen. Die Gestalt des Mannes, der sich als ihr Ritter und Verteidiger vom Platz erhoben hatte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. – Marion bemerkte, daß alle Gesichter im Saal ihm vertrauensvoll zugewendet waren. Kein Zweifel: er genoß die respektvolle Sympathie der Versammlung. Man war erleichtert, daß er den wortgewandten Angreifer zurechtweisen und widerlegen wollte; man atmete auf, Mrs. Piggins strahlte.
Der Mann, auf den alle Aufmerksamkeit sich nun konzentrierte, schien indessen seinerseits kaum noch zu wissen, daß er inmitten der erwartungsvollen Menge stand. Es war nur noch Marion, die seine grüblerischen und gefühlvollen Augen sahen. Sie spürte seinen Blick auf der Haut wie etwas Körperliches.
»Leider ist festzustellen«, sagte er langsam, »daß mein Vorredner unritterlich gegen eine Dame war – unritterlich in der Form wie durch die Argumente, die er gegen sie benutzte. Sicherlich wird Fräulein von Kammer selbst die beste Antwort für