Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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Alternden wird Marion überzeugen, überwältigen, gewinnen. Ist sie schon fast gewonnen? – Marion reiste nicht ab.

      Die amerikanischen Freunde zeigten sich erfreut und leicht verwundert: Fräulein von Kammer blieb in der kleinen Universitätsstadt. Sie erklärte: »Es ist ruhig und hübsch hier. Ich habe jetzt Ferien, erst Mitte Januar fängt meine Tournee wieder an … Nach New York zieht mich beinah nichts.«

      Mrs. Piggins führte die interessante junge Deutsche in den Damenklub ein; Professor Schneider zeigte ihr seine Kollektion süddeutscher Trinkgefäße und ließ sich gern dazu überreden, auf dem Klavier die lieben alten Walzer vorzutragen. Jonny Clark hoffte zunächst: Sie bleibt meinetwegen … Indessen war er nicht schwer von Begriff – ein heller Kopf, und übrigens ein anständiger Kerl. Er verzichtete auf jeden Flirt mit Marion, als er verstanden hatte, was Kollege Abel empfand und sich erhoffte. Keine Handküsse und flotten Komplimente mehr von seiten des Braungebrannten. Er redete nur noch von Politik, erwog die Chancen des Spanischen Bürgerkriegs, der sozialen Entwicklung in Frankreich und des italienischen Imperialismus. Er war ein gescheiter und gebildeter Junge; jetzt erst stellte es sich so richtig heraus.

      »Es sind Typen von seiner Art, die mich hoffnungsvoll für Amerika machen«, erklärte Benjamin. Er war sehr erleichtert, weil der hübsche Jonny nicht mehr mit Marion kokettierte. »Ein prachtvoller Kerl!« stellte er fest – und konnte es sogar ertragen, daß Marion ihm ausnahmsweise recht gab. »Junge Leute von seiner Sorte kommen in Europa selten vor. In diesem Lande trifft man sie ziemlich oft. Sie haben einen gut entwickelten, gut trainierten Verstand und sind dabei einfach geblieben, frisch, herzlich, naiv. Sie gefallen mir sehr. Sie sind weder verkrampft noch dogmatisch noch größenwahnsinnig noch manisch depressiv wie die meisten unserer europäischen Intellektuellen. In Europa gibt es eine Jugend, die am Geist leidet wie an einer Krankheit – und eine andere, die alles Geistige verachtet und bekämpft. Die jungen Leute bei uns fallen auf den ideologischen Schwindel des Faschismus herein, weil sie entweder gar nicht denken, oder weil ihre Gedanken starr und überspitzt geworden sind. Die hysterischen Intellektuellen und die Blöden sind das Menschenmaterial, aus dem der Faschismus seine aggressive Armee rekrutiert. In den Vereinigten Staaten habe ich junge Intellektuelle gefunden, die nicht hysterisch sind und weder physisch noch moralisch verkrüppelt. Es ist doch erfreulich, einen Jungen wie diesen Jonny Clark anzusehen!« Benjamin fühlte sich schon so sicher, daß er sogar diese Bemerkung riskierte. »Ein hübscher, sportlicher Kerl – appetitlich vom Scheitel bis zu den Zehen – und dabei Hirn im Kopf! So was Angenehmes, Nettes! Dieser Typus hat Zukunft – und eine Zukunft, die von diesem Typus repräsentiert wird, möchte ich wohl noch erleben!«

      Marion mußte ein bißchen lachen. »Sie sind ja ganz verliebt in den Burschen …« Er versetzte ernst: »Weil Sie nicht mehr in ihn verliebt sind, Marion!«

      Hierauf ging sie nicht ein. Er ward gleich verlegen – er errötete, wie sie mit Rührung bemerkte – und erging sich wieder in eifrigen Betrachtungen, eine Menschheitszukunft betreffend, die vom Typus des braungebrannten und gescheiten Jonny beherrscht sein sollte. Der philosophische Liebhaber unterhielt seine Dame, die lächelnd lauschte. »Was ist unser letzter, definitiver Einwand gegen den Faschismus in all seinen finsteren Variationen? Daß er die Entwürdigung des Menschen bedeutet! Eine Horde dekadenter Barbaren sollte uns, mittels einiger infamer Tricks, stehlen dürfen, was wir uns erworben haben, in einer Geschichte von Jahrtausenden? – Hoho!« rief der Professor – seinerseits grimmig munter und aggressiv. »So geschwind geht das nicht! Unsere Kraftreserven sind bei weitem noch nicht verbraucht. Die besseren Menschen scheinen eine Weile gelähmt; umso heftiger wird plötzlich ihr Widerstand. Der Humanismus wird aggressiv auf der ganzen Linie werden – wartet es nur ab!« Benjamin prophezeite es mit zornigem Behagen. »Der Sozialismus ist nur ein Teil seines Programms – welches umfassend sein muß. Ziel und schöne Perspektive ist die totale Wiederherstellung, die totale Erneuerung, die Steigerung und Erhöhung der Menschenwürde – vom Ökonomischen bis zum Religiösen. Mit neuem Stolz wird der Mensch sich der Schönheit seines Leibes, der Gaben seines Geistes bewußt. Er organisiert die Erde, deren Herr er ist – dank seiner schönen, stolzen Eigenschaften. Endlich siegt die Vernunft. Überwunden sind Haß und Angst, samt dem nationalen Vorurteil – Pest und Betrug unserer Epoche. Auch der Dünkel der weißen Rasse ist dahin: in der Weltrepublik hat gleiche Würde und gleiches Recht, wer das schöne, stolze Menschenantlitz trägt. Das Leben wird leichter und bequemer; die Technik nimmt uns die niedrige Arbeit ab. Die Epoche der wirklichen, der fundamentalen Probleme bricht an. Der Mensch – entlastet von den ökonomischen und politischen Sorgen – findet Zeit und Kraft für das Wesentliche, Große; es sind endlich seine Angelegenheiten, denen er sich zuwendet. – Ich sehe ein Jahrtausend der enormen inneren Abenteuer!« Der Professor dämpfte die bewegte Stimme. Die utopische Vision, die er im Herzen trug und mit Worten andeutete – weil er wünschte, seine Dame zu unterhalten und sich zu gewinnen – hatte die Kraft, ihn beinah bis zu Tränen zu erschüttern. Sein zärtlich-dringlicher Blick war feucht. Er sagte leise: »Alles dieses ist vorstellbar – und also wird es geschehen. Der Mensch ist zäh; er verwirklicht, was er sich vorstellen kann. Geschichte ist erfüllte Utopie. Die technischen Vorbedingungen zu einem Zeitalter, das fast das Goldene wäre, sind durchaus gegeben. Es fehlen noch die moralischen. Die werden sich entwickeln – ich bin voll Vertrauen. Inmitten des sittlichen Absturzes, dessen Zeugen wir sein müssen, bereitet der sittliche Aufschwung sich vor. Die Menschheit ist jung, sie tritt gerade erst ins Mannesalter ein. Ihre Pubertätskrankheiten sind besorgniserregend, wir konstatieren garstige Symptome. Das soll uns nicht mutlos machen.«

      Er war voll Vertrauen, weil sein Herz voll Liebe war. Er liebte diese Frau – ihre mageren Glieder, die schrägen Augen, die lockige Mähne des Haares – er wollte mit ihr leben, seine inständige Absicht war: glücklich zu sein – daher die Begeisterung und der gewagte Flug seiner Gedanken. Eine Konversation, die mit anerkennenden Bemerkungen über das appetitliche Äußere und die intellektuelle Zuverlässigkeit eines jungen Kollegen begonnen hatte, hob sich und vertiefte sich, ward sehr ernst und sehr spielerisch, bekam verzückte Akzente.

      Der alternde Freier begriff: ›Anmut und Charme der Jugend habe ich längst nicht mehr – bin übrigens auch als Zwanzigjähriger kein Adonis gewesen. So muß ich mit anderen Mitteln werben und imponieren. Sie freut sich an meinen Einfällen, und meine Erwägungen lassen sie nachdenklich werden. Sie lächelt mir schon zu, sie drückt meine Hand, wenn ich komme oder Abschied nehme. Sie wird mich lieben, sie ist klug und gut. Ich gewinne ihr Herz. Sie liebt mich schon. Ach – hätte ich schon gewonnen?‹

      Sorgenvoll stimmte ihn, daß sie gerade am Weihnachtsabend allein sein wollte. Warum weigerte sie sich, mit ihm, Benjamin, in aller Stille eine Flasche Champagner zu trinken? – Sie schloß sich in ihr Hotelzimmer ein, und ebendort war es doch am wenigsten gemütlich. Die enge Stube war entweder überheizt oder eisig kalt. Telefonbuch und kleine Bibel, die den Nachttisch zierten, ließen sie kaum wohnlicher werden.

      Ein fremdes Bett, ein fremder Stuhl, eine fremde Wand … Marion dachte: ›Viel anders kann das Zimmer nicht gewesen sein, in dem Tilly ihren Todestee schlürfte. Auch ihr deklassierter Schupomann war auf und davon – und sie spürte das Kind im Leibe. – Arme kleine Schwester, dir hat keiner helfen können. Gibt es Hilfe für mich …? Ach, ich hätte große, große Lust, mir eine Portion Tee zu bestellen. Veronaltabletten wären auch zur Hand; das Todessüppchen ist schnell bereitet. Es darf aber nicht sein. Ich muß das Kind bekommen.‹

      Denn nun wußte sie, warum ihr schwindlig geworden war auf dem Podium, und woher die jähen Übelkeiten kamen. In Tullios Armen hatte sie es empfangen, als er den zornigen Schlachtgesang der Liebe hören ließ. Sein Samen – der Samen des Vagabunden – war fruchtbar geworden in ihrem Leib. Sie hatte in seinem Antlitz nur die Augen gesehen, kindlich und tragisch geöffnet unter den kühnen Bogen der Brauen. ›Ich bin deine Witwe, Marcel! In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Als ich lag und empfing, haben deine Augen mich angeschaut – oh, wie sternenhaft! Oh, wie lieblich, wie streng! Du wolltest nicht, daß ich den Tod empfange. Ich soll den Sohn tragen, es ist deiner. Ich muß das Kind bekommen. Was tue ich nur? Ich kann gar kein Kind gebrauchen, ich bin eine Emigrantin, eine Vagabundin, eine Kämpferin; ich bin keine Mutter. Übrigens ist es einfach peinlich, ein Kind ohne Vater zu haben; es schickt sich nicht, man wird es mir übelnehmen.