Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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Zimmer, aufgeregt wie alle Autoren, wenn von ihren literarischen Projekten die Rede ist. »Sogar wenn heute wenig Interesse da sein sollte – die Nachwelt will doch Dokumente, Rechenschaft. Sie verlangt unsere Beichte …«

      »Eure Beichte!« Der Engel lachte; wurde dann umso ernster. »Die ist an anderer Stelle verwahrt.«

      Nun war Kikjou wirklich sehr verletzt, er schmollte. »Du bist der erste, dem ich von meinem Vorhaben rede – bis jetzt habe ich mir’s ja selber kaum eingestanden. Nicht einmal dem Erlöser, der von mir alles weiß, habe ich Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Dir eröffne ich alles – und du weißt dir nichts Besseres, als mich mutlos zu machen.«

      »Dich mutlos machen?« Der Engel wiederholte es mit sanftem Vorwurf. »Wer hat dir denn den Mut zu deinem Plan gegeben? Seit wann hast du ihn denn?«

      Kikjou mußte gestehen: »In etwas präziserer Form – erst seit einer halben Stunde.«

      »Erst seitdem ich dich geküßt habe«, stellte der Engel fest.

      »So willst du, daß ich das lange Buch schreibe?« Kikjou war wieder froh; wollte aber noch wissen: »Warum tust du dann so skeptische Äußerungen?«

      »Weil du ehrgeizig und eitel bist«, sprach der Engel.

      Der Junge verstummte erschreckt. Dann suchte er sich zu verteidigen. »Aber nein! Glaube das bitte nicht! Ich gebe mir doch alle Mühe, bescheiden zu sein … Ein bißchen eitel ist wohl jeder Mensch. Und wie sollte man ohne Ehrgeiz etwas Großes beginnen …? Meine Stimme soll die Stimme meiner Brüder sein – der lebenden wie der toten – nach Diktat will ich sprechen. Martin und Marcel sind verstummt, unter fremden Himmeln. Sie hätten soviel zu sagen gehabt, alle zwei – du hast sie ja gekannt – aber gerade den Besten verschlägt es heute die Sprache, mit Entsetzen schließen sie den Mund. Manche Ereignisse und Zustände sind von solcher Art, daß die Worte fehlen, um sie zu bezeichnen.« Hier nickte der Engel, der Erfahrung hatte, was die unbenennbaren Ereignisse und Zustände betraf. Kikjou wurde lebhafter, ermutigt durch die freundliche kleine Geste.

      »Die Ereignisse und Zustände sollen verändert werden; darauf kommt alles an.« Er wartete auf ein neues Zeichen der Bestätigung; der Engel lauschte und schwieg. »Wie soll man sie verändern«, fuhr Kikjou fort, »wenn man nicht einmal wagt, sie zu benennen? – Ich wage es!« rief er ungestüm und warf kühne Blicke. »Das Verwirrte übersichtlich zu machen; den Schmerz zu lindern, indem man ihn analysiert – welche Aufgabe! Welches Abenteuer! Viel schwieriger und viel schöner, als einen neuen Apparat zu konstruieren, einen Ozean zu überfliegen, eine Schlacht zu gewinnen!«

      »Du sollst eine Schlacht gewinnen!« Der Engel, der solches verlangte, sah seinerseits kriegerisch aus. Er gönnte sich noch eine Verwandlung – gewissen Monarchen oder hohen Würdenträgern ähnlich, die zu jeder repräsentativen Gelegenheit das passende und pittoreske Kostüm wählen. Diesmal stilisierte er seine Erscheinung ins Militärische. Aus dem runden Hut ward ein Helm, das weite Reisekleid bekam straffe Linien – es glich nicht einer modernen Uniform, eher dem Gewand eines antiken Soldaten; selbst die Flügel sahen jetzt wie Waffen aus, mit feurigen, harten Rändern, die an den Spitzen gefährliche kleine Dolche zu formen schienen. Auch das Antlitz hatte militante Züge, und der Ruf kam knapp und hart wie ein Befehl.

      »Das Wort ist, immer noch, eine gute Waffe! Es muß gar nicht langweilig sein, wenn es trifft und sitzt. Übe dich! Lerne fechten! Wir lieben die guten Fechter!«

      Es war ein Kommando, scharf, aber enthusiastisch. Kikjou versprach begeistert: »Ich werde mir Mühe geben – du kannst dich darauf verlassen! Natürlich darf ich nichts überstürzen; es gibt noch eine Menge vorbereitender Arbeit zu tun. Wieviel Studien sind nötig! Wieviel Notizen, wieviel Material! Ich werde beobachten, sammeln, eins zum anderen legen. Und wenn die Kraft mir ausgeht, werden die toten Brüder mir ein wenig soufflieren: die lieben Toten flüstern mir die Worte zu, die sie verschwiegen haben. Mit unsichtbaren Händen führen sie mir die Feder, wenn meine eigenen Finger ermatten … Ich schreibe den Roman der Heimatlosen!« Er rief es freudig erregt, als hätte er sich erst eben entschlossen.

      »Meine Glückwünsche.« – Es fiel Kikjou auf, wie erschöpft die Stimme seines Gastes klang. Er stand an der Türe, zum Gehen bereit und wieder in der bescheidenen Gestalt, die er zuerst präsentiert hatte. Irdischer Staub lag auf dem dunklen Stoff von Wanderkleid und Kopfbedeckung. Die schräge Haltung der Schultern verriet Müdigkeit; indessen waren Füße und Hände nervös bewegt. So empfiehlt sich einer, der lange Wege hinter sich hat und dem noch erhebliche Strapazen bevorstehen. – »Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten.« Er schwebte ein wenig empor, gleichsam um zu probieren, ob er es nicht verlernt habe. »Der Dienst ruft.« Er lächelte überanstrengt, wobei er träge durch die Luft spazierte.

      Kikjou war neugierig. »Was hast du denn noch zu tun?«

      »Mancherlei …« Der runde Hut drückte sich platt an der Zimmerdecke; der Engel war so weit wie möglich nach oben geschwebt. »Laß einmal sehen … Wir haben heute den 14. September 1938. – Noch mehreres zu erledigen. Das Tagesprogramm ist noch nicht erfüllt.«

      »Du sammelst Material – wie ich?« erkundigte sich Kikjou, mit kollegialer Vertraulichkeit.

      Der Engel, an der Decke, schwieg eine Weile, ehe er, melancholisch und zerstreut, konstatierte: »Wunder kann ich nicht tun. Ich habe meine Instruktionen und Kompetenzen, die keinesfalls zu überschreiten sind.« – »Immerhin bist du mächtig, im Vergleich mit mir«, meinte Kikjou, der das große Buch schreiben wollte. »Ich kann beobachten, kann mit den anderen leiden; helfen kann ich nur in den seltensten Fällen. Du hingegen bringst Trost, schon durch deine Gegenwart – wenn du nicht gerade deinen kleinen Häßlichkeitsanfall hast … Ich beneide dich.«

      Der Engel der Heimatlosen antwortete mit einem Blick voll großer Traurigkeit. Plötzlich aber klapperte er animiert mit den Flügeln: ihm war ein Einfall gekommen. »Du könntest mich auf meiner Tour begleiten!« schlug er munter vor.

      »Jetzt? Sofort?« – Kikjou war beklommen, weil er an die schauerliche Fahrt durch Schnee und Sturm dachte. Stand schon wieder etwas dieser Art bevor?

      Der Engel – gar nicht drohend, wie sein geschwinder Kollege es gewesen war; vielmehr eher flott, bei aller Erschöpftheit – lachte: »Natürlich! Ich habe keine Zeit zu verlieren!«

      »Wohin denn?« – Kikjou blieb mißtrauisch.

      »Hierhin und dorthin!« erklärte der fröhliche Wanderengel. »Du wirst vielleicht ein paar alte Freunde wiedersehen oder neue Bekanntschaften machen – das ist immer interessant, besonders für einen Schriftsteller.« – »Ich bin doch noch gar keiner!« wandte der Junge ein. Der Engel – fast übermütig – drohte mit dem Finger: »Du wirst auch nie einer werden, wenn du jedem Abenteuer ausweichst!« Sein Entschluß, den Dienstflug nicht allein zu machen, hatte ihm die Laune erheblich verbessert. Er wiegte sich behaglich an der Zimmerdecke. »Wir werden es uns bequem machen.« – Das war ermutigend. Kikjou fragte: »Keine Raserei durch die Nacht? Kein Gebraus und Gesaus, daß einem die Sinne vergehen?« – »Keine Spur!« Wie sanft und singend die Engelsstimme nun klang! Sie wurde magisch einschläfernd, als sie wiederholte: »Keine Spur …«

      Dabei hob er die Hand. Er winkte, er gab das Zeichen – da füllte sich der Raum mit silbergrauem Nebel. »Wir machen es uns bequem … Sind ja zwei alte Reisende. Beide etwas ausgepumpt, von den vielen Fahrten …« – Er ruhte im Silbernebel wie auf weichem Kissen. Auch Kikjou fühlte sich sehr angenehm gebettet.

      Die weiche Wolke trug ihn sanft empor. Welch komfortables Wunder! Der Engel der Heimatlosen zog den jungen Menschen an sich. »Wie gut«, hauchte er noch, »einmal nicht alleine unterwegs zu sein …«

      Die Wolke, dunkler geworden, schaukelte leicht. Kikjou sah nichts mehr – nur noch die milden Strahlenaugen seines Begleiters. War die zauberische Reise kurz oder war sie lang? – Weder kurz noch lang. Die Dimension der Zeit galt nicht mehr, da die Dimension des Raumes überwunden war. Sind Engel gebunden an die Vorstellungsformen plumper menschlicher Hirne? Ach – in der silbrig-dunklen Wolke, die sie uns entführt, haben die Kategorien unseres Denkens keine Gültigkeit. Auch der kleine Sterbliche ist von ihnen befreit