Klaus Mann

Klaus Mann - Das literarische Werk


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doch wohl niemand sein!«

      Tilly brachte hervor: »Ich hatte natürlich damit gerechnet … Ihnen eine Kleinigkeit zu bezahlen, wenn die Sache erledigt ist …«

      Die Doktorin höhnte wütend: »Eine Kleinigkeit! Wenn die Sache erledigt ist! Das könnte Ihnen so passen, Sie dummes Ding!«

      Tilly, sehr blaß, aber plötzlich etwas höher aufgerichtet, erklärte – fast zu ihrer eigenen Überraschung: »Nun ist es aber genug.«

      Die Schröder war so erstaunt, daß sie ein paar Sekunden lang keine Worte fand. Schließlich lachte sie bitter. »Das hab ich gern! Auch noch frech werden – wie?! Auch noch eine alte Frau, eine verdiente Sozialistin beleidigen!« Würdevoll im Bett sitzend, wiederholte sie grausam und majestätisch ihre Forderung: »Vierhundert Franken auf den Tisch des Hauses, Vierhundert auf der Bank hinterlegt – oder der Fall ist für mich erledigt.«

      »Der Fall ist für mich erledigt«, sagte Tilly, schon in der Nähe der Tür. Frau Doktor rief, atemlos vor Wut: »He! Nicht so schnell! Ich habe eine Stunde meiner kostbaren Zeit für Sie vertan! Ich verlange dreißig Franken Entschädigung – dann will ich Sie nie wieder sehen!« – Daraufhin Tilly, mehr noch fassungslos erstaunt als zornig: »Sie sind ja die gemeinste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist.«

      Albertine Schröder griff sich an den Busen, als könnte ihr Herz Attacken von solcher Infamie und Wucht nicht aushalten. Es gelang ihr aber doch, hervorzubringen: »Das büßen Sie mir! Sie sind die längste Zeit in der Schweiz gewesen! Ich lasse Sie ausweisen – das kann ich, als Schweizerin von Geburt! Ich zeige Sie bei der Fremdenpolizei an und erzähle, was Sie im Schilde führen, von wegen Paßheirat und so!«

      »Sie wären dazu imstande«, sagte Tilly, die Türklinke in der Hand. »Es würde Ihnen aber nicht gut bekommen.«

      »Nicht gut bekommen würde es mir?!« Frau Doktor schüttelte mit rasenden Gebärden die Federbetten von sich und hüpfte, überraschend gewandt, aus dem Bett. »Sie haben mich beleidigt! In meiner eigenen Wohnung! Das sind Verbalinjurien, was Sie da vorgebracht haben!« Bei dem Wort »Verbalinjurien« stampfte sie mit ihren beiden nackten Füßen auf den Teppich. »Sie werden es bereuen, Sie kleine Hochstaplerin!«

      »Was Verbalinjurien betrifft«, sagte Tilly, die sich über die eigene Gefaßtheit wunderte, »so dürften wir uns gegenseitig nichts schuldig geblieben sein.«

      »Schweigen Sie!!« fauchte die Alte; in ihrem langen, grauweißen Nachthemd machte sie drohende Schritte auf Tilly zu. »Ich habe mich in Deutschland für meine Überzeugungen halb totschlagen lassen! Ihnen wollte ich aus Güte bei Ihren schmutzigen Angelegenheiten behilflich sein – und das ist der Dank!« Sie schien noch nicht ganz entschlossen, ob sie in der nächsten Minute weinen oder mit den Fäusten über ihre Besucherin herfallen wollte.

      Tilly sagte: »Pfui!« Dann schmiß sie die Türe hinter sich zu.

      Die Erfahrung mit Frau Dr. Schröder war niederschmetternd. Die Bekannten aus dem Café schienen wenig erstaunt, als Tilly von ihr berichtete. »Ja, ja, eine unangenehme Person«, sagten sie nur. »Das meiste, was sie erzählt, ist wohl Schwindel.« Manche wollten auch wissen, daß sie keineswegs von Geburt Schweizerin war, sondern sich ihrerseits diese Staatszugehörigkeit durch eine suspekte Heirat erworben hatte. Tilly wunderte sich, daß von all dem nicht die Rede gewesen war, als man ihr die Anwältin so herzlich empfahl.

      Aber was sollte werden? Das deutsche Papier – dieses häßlich braun gebundene, abgegriffene Heftchen – würde bald ungültig sein.

      Ein besonders schlauer Bekannter aus dem Café wußte Rat. Er hatte eine Freundin in Budapest – »eine abscheuliche alte Kupplerin«, wie er versicherte, »aber zuverlässig und schlau; im Grunde ein braver Kerl. Die wird schon einen Mann für dich haben …«

      Man schrieb der Dame; die Antwort aus Ungarn kam postwendend: Natürlich, das Fräulein solle nur kommen, ein Gatte sei leicht zu finden, der ganze Spaß solle etwa dreihundert Schweizerfranken kosten. Tilly reiste sofort nach Budapest. Zeit war nicht zu verlieren, sonst galt der Paß nicht mehr.

      Alles ging geschwind wie im Traum, und nur in Träumen sieht man Gesichter, wie die Kupplerin eines hatte. Sie hieß Beatrix Flock, und ihr Haar war gräßlich rot gefärbt. Das Gesicht schien in Verwesung begriffen, zeigte aber den muntersten Ausdruck. Weniger fröhlich war der Kavalier, den Tilly heiraten sollte: ein Major außer Dienst, er nannte Tilly »meine Gnädigste« und küßte ihr während einer Viertelstunde zehnmal die Hand. Sie entschuldigte sich bei ihm, weil sie seinen Namen nicht aussprechen konnte; es war ein ungarischer Name, überreich an Konsonanten und von erstaunlicher Kompliziertheit. »Es wird Ihr Name sein, Gnädigste«, näselte der Major außer Dienst. Er trug weiße Glacéhandschuhe; sein eisgraues Schnurrbärtchen war an den Enden steif aufgezwirbelt. Die Kupplerin kicherte animiert. Tilly fragte: »Wann werde ich den Paß bekommen können?« Die Kupplerin versprach: »Übermorgen. Ich habe famose Verbindungen.« Tilly hatte sich Geld von Ottingers geliehen. Die Zeremonie auf dem Standesamt war rührend. Madame Beatrix Flock und ein Stubenmädchen aus dem Hotel figurierten als Trauzeugen. Der Major sagte nach der Vermählung: »Küß die Hand, Gnädigste! Wir werden glücklich miteinander sein.« Beatrix erklärte: »Übermorgen haben Sie den Paß. Inzwischen können Sie sich Budapest ansehen. Wir haben Diner im Hotel Hungaria, nachher fahren wir auf die Margareten-Insel und besuchen das Nachtlokal, das der Prince of Wales bevorzugt hat.«

      All das mußte Tilly noch bezahlen. Übrigens lohnte sich die Ausgabe. Auf der Margareten-Insel war es reizend, und das Nachtlokal – mit versenkbarem Tanzparkett – hatte sicher in Paris nicht seinesgleichen.

      Tilly – die Gattin des Majors mit dem unaussprechlichen Namen – bewunderte Budapest. Die Stadt zeigte verführerische und tragische Züge. Sie war glanzvoll – und schäbig; elegant – und heruntergekommen; übermütig – und elend; mondän – und trostlos; liebenswürdig – und jammervoll.

      Am übernächsten Tag lieferte Madame Flock – makaber anzusehen und schon halb verwest, aber überraschend zuverlässig – den Paß ab. Tilly konnte reisen. Beatrix und der Major mit dem unaussprechlichen Namen begleiteten sie zum Bahnhof. Die Flock gab ihr einen Kuß auf die Stirn und flüsterte: »Au revoir, mon enfant!« Sie war in Bukarest geboren und hatte lange in Paris gelebt. Beim Abschied bekam sie feuchte Augen. Tilly hatte große Sympathie für sie. Die Alte mußte vor Gerührtheit fast schluchzen, weil Tilly ihr gesagt hatte: »Ihr Hut ist wundervoll, Madame!« Der Major küßte seiner jungen Gattin zum allerletzten Mal die Hand und sprach: »Grüß Sie Gott, Gnädigste, ist mir wirklich ein Vergnügen gewesen.«

      In Zürich gratulierten ihr alle Bekannten. »Du bist fein heraus! Ein guter ungarischer Paß ist mehr wert als ein Haufen Geld.« In einem Atelier wurde ein Fest gegeben, um Tillys Hochzeit zu feiern. Übrigens nannte sie sich im Privatleben weiter Tilly von Kammer. Aber in ihrem Paß stand nun das exotische Wort mit den vielen Konsonanten.

      Sie fand, daß es auf die Dauer nicht anginge, ihrem Freunde Peter Hürlimann das Vorkommnis zu verheimlichen. Er könnte es durch Dritte erfahren; dann würde es noch kränkender für ihn sein. Sie erzählte ihm alles; er nahm es mit Fassung auf. »Ich begreife, daß es sein mußte«, meinte er gutmütig. »Und du kannst dich ja scheiden lassen und mich heiraten, wenn ich genug Geld habe, um dich zu erhalten. Vorher hätte ich dich doch nicht genommen. Nur des Passes wegen – nein, das wäre für mich nichts gewesen!« Aus seiner Antwort sprachen sowohl Selbstbewußtsein als auch zärtliches Verständnis für ihre Situation. – »Aber ob sich dieser Major nicht in dich verliebt hat?« Dies war das einzige, was ihn beunruhigte. Indessen kamen aus Budapest keine Nachrichten. Der Kavalier schien seine junge Gattin geschwind und gründlich vergessen zu haben.

      Marions erster Pariser Abend fand in einem Saal auf dem linken Ufer statt. Meistens wurden hier Avantgardefilme vorgeführt; zuweilen aber vermietete der Besitzer sein Etablissement für literarische und musikalische Darbietungen.

      Der Abend war nur in den Blättern der deutschen Emigration annonciert worden. Marcel und einige andere Freunde hatten indessen dafür gesorgt, daß es auch Franzosen, die ein wenig Deutsch verstanden, im Publikum gab. Madame Rubinstein hatte Russen mitgebracht.