Er hatte zu den Getreuen des Führers gehört. War er aufgestanden gegen seinen Herrn und Meister?
Auch als Marion wieder auf der Bühne erschien, wollte das Reden und Flüstern noch nicht gleich verstummen. Sie stand vor den Draperien des Hintergrundes, sehr schmal und aufrecht in ihrem langen schwarzen Kleid, und wartete, bis die erregten Stimmen schwiegen. Da sie spürte, daß die Aufmerksamkeit ihr noch nicht völlig gehörte, begann sie den Vortrag mit besonderer Vehemenz. Sie sprach eine Hymne von Walt Whitman an die Demokratie. »Oh Demokratie, ma femme!« Dabei breitete sie enthusiastisch die Arme, und aus ihren Augen leuchtete es stärker denn je. Der Zauber ihrer Stimme wirkte wieder; er beruhigte und erschütterte. Besänftigt zugleich und auf schönere Art erregt, lauschten die Menschen, die eben noch besessen gewesen waren von den wirren Neuigkeiten des Tages. Eine Stunde lang vergaßen sie den General von Schleicher, den Hauptmann Röhm und jenen Hitler, der die beiden anderen vielleicht schon hatte umbringen lassen. Sogar der Präsident von Hindenburg sollte ermordet sein, wie manche besonders Eingeweihte wissen wollten – und die Reichswehr stand in offener Rebellion. All dies war beispiellos sensationell; nur schien es plötzlich weniger bedeutsam, da die Klagen und Weisheiten der längst Verstorbenen so nahe herangebracht wurden und eine so schön beredte Sprache führten, durch das Medium von Marions Stimme, die aufrührerisch oder zärtlich war, tödlich betrübt oder überschwenglich heiter, gellend oder zart.
Nach dem Vortrag war der Beifall heftig, aber dauerte nicht sehr lang. Während in den vorderen Parkettreihen noch ein paar Dutzend Menschen standen und leidenschaftlich in die Hände klatschten, wurden hinten schon wieder die Blätter mit den wilden, ungenauen Neuigkeiten herumgereicht und gierig diskutiert. Der General von Schleicher – lautete die Nachricht – marschierte an der Spitze der empörerischen Armee gegen Berlin. Es war zu schön und zu sensationell, um die Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Doch wollten alle es sehr gerne glauben. Niemand erkundigte sich, woher die Gerüchte kamen. Sie schienen durch die Luft heranzuschwirren, noch unkontrollierbar, noch unbeweisbar, verwirrend, Hoffnung und Entsetzen erweckend …
Eine schwerhörige alte Dame, die sich im Gefolge der Proskauer bewegte und lange nicht verstand, wovon die Rede war, wurde ganz ausgelassen, als sie endlich begriff. »Aber das ist ja großartig!« rief sie mit einer Stimme, die vor Munterkeit krähte. »Dann ist ja der ganze Spuk vorüber, und wir können alle nach Berlin zurück!«
Ein paar Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Jeder starrte auf die alte Dame, die es gewagt hatte, dies auszusprechen. Dann lachten einige – als wollten sie bekunden: Uns kann man nicht bluffen! Wir bleiben skeptisch! Aber in den Augen glitzerte es.
Das war am 30. Juni 1934.
Martin schrieb. Von dem großen Roman, den er plante und von dem er sich soviel versprach, war noch nicht viel mehr da als ein paar Notizen. Nun aber wollte er das Vorwort machen.
Es war still im Zimmer. Kikjou schlief. Nach den langen Gesprächen und den Liebkosungen ohne Ende waren ihm endlich doch die Augen zugefallen. Schon lichtete sich die Dunkelheit hinter dem großen Atelierfenster. Die Dunkelheit erbleichte, wurde fahl, hellgraue Töne mischten sich in die Schatten; der neue Tag kam wohl bald. Wenn er heraufgezogen ist, wird Martin sich niederlegen, um ihn fast ganz zu verschlafen. Am besten sind die Stunden der Dämmerung.
Während Martin sich die Papiere zurechtlegte, lächelte er bei dem Gedanken, daß ihm früher einmal schlecht geworden war, wenn er nach dem Genuß der Droge aufrecht am Tisch saß. Jetzt mußte er schon eine ungewöhnlich große Dosis konsumieren, damit Übelkeit sich einstellte. – ›Es wird mir wohl vom Gifte, nicht schlecht.‹
Er hörte Kikjou atmen. Er sah das lichte Grau der Dämmerung sich rosig verfärben. Er schrieb:
»Es ist eine große Unruhe in der Welt. Nicht nur die, welche ihr Vaterland haben verlassen müssen, irren wie Heimatlose umher.
Mit einer Dringlichkeit und einer Angst, mit einer Verzweiflung und einer Hoffnung, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, stellt der Mensch sich die Frage nach seiner Bestimmung, seinem Schicksal, seiner Zukunft auf diesem Stern. Zu einem Gott, dessen Antlitz sich uns verhüllt, steigt zu jeder Stunde eines jeden Tages hunderttausendmal der Schrei: Herr, wohin führst du uns? Was hast du vor mit uns, Herr? Welches ist der Weg, den wir gehen sollen? Siehe: wir sind im Begriffe, uns sehr schlimm zu verirren!
Das Herz eines jeden Menschen in dieser Zeit ist berührt und ergriffen von der großen Unruhe. Mein eigenes Herz ist berührt und ergriffen; es schlägt angstvoll in meiner Brust.
Deshalb will ich von den Ruhelosen und Heimatlosen erzählen. Mein Ehrgeiz ist es, der Chronist zu sein ihrer Abenteuer und Niederlagen, ihrer Aufschwünge und Zusammenbrüche, ihrer Trostlosigkeit und ihrer Zuversicht. Ich wiederhole die ewige Frage: Herr, wohin führst du uns? Welches ist unser Weg, und wo kommen wir an? Nicht nur die Verbannten, nicht nur die Heimatlosen fragen so; aber bei ihnen – von denen jede Bindung, jede Sicherheit gefallen ist – hat die Frage den dringlichsten Ernst, die meiste Inständigkeit.
Mir ist es aufgetragen, die tausend Formen und Gebärden, in denen diese Frage sich ausdrückt, die Aufschreie und das Gespräch, die Gelächter und das Gebet, das Stöhnen und noch das trostlose Verstummen aufzuzeichnen und festzuhalten.
Für wen schreibe ich diese Chronik der vielen Wanderungen und Verirrungen? Wer wird mir zuhören? Wer wird Anteil nehmen? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte … Unser Ruf geht ins Ungewisse – oder stürzt er gar ins Leere? Bleibt ein Echo aus? Irgend etwas wie ein Echo erwarten wir doch – und sei es auch nur ein undeutliches, weit entferntes. Ganz stumm darf es nicht bleiben, wo so heftig gerufen wurde.
Und wenn auch noch nicht die Gemeinschaft da ist, von der wir uns verstanden wüßten – einzelne sollte es doch geben, hier und dort Verstreute, die helfen – nicht, indem sie auf die Frage Antwort wüßten; aber dadurch, daß sie die Frage hören und mit uns auf die Antwort warten.
Dringt unsere Stimme zu ihnen? Erreicht sie der Ruf – dieser Angst-und-Not-Schrei, den wir ins Ungewisse, vielleicht ins Leere senden?
Für wen schreibe ich? – Immer haben Dichter sorgenvoll darüber nachgedacht. Und wenn sie es gar nicht wußten, dann haben sie wohl – hochmütig und resigniert, stolz und verzweifelt – behauptet: Für die Kommenden! Nicht euch, den Zeitgenossen, gehört unser Wort; es gehört der Zukunft, den noch ungeborenen Geschlechtern.
Ach, was weiß man aber von den Kommenden? Welches werden ihre Spiele, was ihre Sorgen sein? Wie fremd sind sie uns! Wir wissen nicht, was sie lieben oder was sie hassen werden. Trotzdem sind sie es, an die wir uns wenden müssen.
Die Horizonte unseres Daseins sind verfinstert. Die drohend geballten Wolken künden schon lange das Gewitter an. Es könnte ein Gewitter ohnegleichen werden. Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Die Himmel, die wir heute so tief verschattet sehen, erhellen sich wieder. Werden wir, die wir jetzt kämpfen und leiden, von diesem neuen Licht noch beschienen werden?
Es sind andere unterwegs: jüngere Kameraden, jüngere Brüder – wir hören schon ihren leichten Schritt. Denken wir an diese, wenn wir müde werden wollen! Lieben wir die noch Namenlosen! Ihre Stirnen sind noch blank von einer Unschuld, die wir längst verloren. Unsere jungen Brüder sollen nicht schuldig werden, wie unsere Väter und wie wir es gewesen sind. Sie sollen eine bessere Welt kennenlernen als wir. Sie sollen sich freier entwickeln, besser und schöner, kühner und frommer, klüger und sanfter werden dürfen, als es uns gestattet war.
Das Lächeln einer flüchtigen, zerstreuten Dankbarkeit, mit der die jüngeren Kameraden unserer vielleicht gedenken werden, muß des Lohnes genug für uns sein. Irgendwo werden sie – von denen wir uns so gerne vorstellen, daß sie glücklicher sind als wir – auf Spuren stoßen, die von unseren Leiden und Kämpfen zeugen – diesen Kämpfen, die uns heute ganz in Anspruch nehmen, von deren Gewicht und Bitterkeit jenen Knaben aber wahrscheinlich die Vorstellung fehlen wird. Dann werden sie, für eine ganz kurze Weile, innehalten in ihren Spielen und in ihrem Werk. Ein paar gerührte Sekunden lang beschattet Nachdenklichkeit ihre Stirne, einer Wolke gleich, die schnell vorüber ist. Sie blättern, nicht ohne Mitleid und vielleicht nicht ganz ohne Achtung, in dieser Chronik von den vielen Wanderungen und den vielen Fragen. Dann kommt