wird er auch zunächst nicht mehr finden. Er liebt dich sehr, er begehrt dich mit starker Gier, er ist dir dankbar, daß du ihm dies gewährst; aus der Dankbarkeit könnte Zärtlichkeit werden. – Halte stille, sogar wenn es schon ein wenig wehe tut! Dieses ist deine schöne Stunde, die Nacht des Trostes und der Entschädigung. Unsere Welt aber ist so eingerichtet, daß selbst Trost und Entschädigung nicht ganz schmerzlos bleiben, etwas Schmerz ist in alles gemischt – halte still, arme Tilly. Du weißt es ja, dein Freund hat keine Aufenthaltserlaubnis in diesem Lande, morgen kann er schon ausgewiesen sein, vielleicht siehst du ihn nie mehr. Noch ist er bei dir, halte still! Für den Augenblick ruht er aus – sieh, sein mageres, etwas fleckiges und etwas ramponiertes Gesicht auf dem Kissen! Aber gleich wird er dich wieder packen, die Nacht ist lang – ungewiß, was der Morgen bringt; wir leben in wirren Verhältnissen, allerlei mißliche Überraschungen sind an der Tagesordnung, hübsche arme Tilly!
Ernst atmete tiefer. Schlief er schon? Tilly liebkoste ihn mit den Augen, weil die Hände müde waren. – ›Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht weg! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt! Nicht nach dir eigentlich, sondern nach dem Konni oder nach seinem Freund H.S. Die sind nicht gekommen, aber du bist hier, und du bist beiden verwandt, bist der Bruder von beiden – ich umarme den verlorenen Konni und den anderen, fremden, den ich nie gesehen habe, da ich dich umarme. Du weißt ja nicht, wie schlimm und arg alles gewesen ist, ehe du kamst. Du kannst es dir gar nicht vorstellen.‹
›Warum soll ich es mir denn nicht vorstellen können?‹ antwortete er stumm. ›Ich habe es doch keineswegs besser gehabt. Glaubst du vielleicht, es ist ein Vergnügen, ohne Paß durch die Länder zu ziehen, immer in Angst vor der Polizei, wie ein Verbrecher? – Und ich habe eigentlich nichts besonders Schlimmes getan, außer dem bißchen Schwarzarbeit in Prag. In Berlin war ich ein Schupo, sehr respektabel in der schönen grünen Uniform. Ich gehörte zum Staat, ich war ein Teil seiner Macht, einer seiner vielen Repräsentanten, und alle sahen mich achtungsvoll an. Meine ganze Schuld war, daß ich diesen Staat verteidigen wollte, und daß ich mich nicht abgefunden habe mit dem Neuen … Warum sollte ich mir nicht vorstellen können, wie dreckig es dir ergangen ist? Da müßte ich aber beschämend wenig Phantasie haben!‹
Und sie darauf: ›Keiner weiß doch, was der andere auszustehen hat. Das kann niemand ermessen, es bleibt das Geheimnis, welches jeder mitnimmt. Immerhin gibt es manchmal die Stunden des Trostes und der Entschädigung.‹
Da war er wieder bei Kräften und zog sie an sich heran.
Erst gegen Morgen schliefen sie ein. Sie blieben im gleichen Bett, obwohl es viel zu schmal für sie beide war. Sie schliefen aneinandergeschmiegt, als es an die Tür klopfte. Da mochte es halb sechs Uhr morgens sein. Beim ersten Klopfen erwachte keiner von beiden. Tilly fabrizierte sich aus dem klopfenden Geräusch an der Türe ganz schnell einen Traum. So leicht werden ja große Träume aus kleinen Geräuschen: nur ein Klopfen ist da, aber im Traum vollzieht sich blitzschnell eine lange Geschichte, in die das Klopfen paßt, zu der es gehört. Eine Mauer wird gebaut, das verursacht Lärm. Tilly träumte, daß eine hohe rote Mauer gebaut wurde – vielleicht war es die Mauer zu dem Gefängnis, in das man Ernst sperren würde, zur Strafe, weil er ohne Paß in der Schweiz war und weil er hier mit ihr geschlafen hatte. Die Mauer wuchs, das Geräusch steigerte sich tobend. Tilly fuhr auf; es hatte stärker geklopft.
Auch Ernst war inzwischen erwacht. »Es hat geklopft«, sagte Tilly, mit den Handrücken vor ihren verschlafenen Augen. – »Das merke ich«, versetzte Ernst ziemlich unfreundlich. Während es noch immer klopfte, sagte er, mit einer vor Müdigkeit ganz heiseren Stimme: »Man muß wohl aufmachen.« Sein Gesicht sah alt und verfallen aus – fahl, mit hängenden Zügen – und er hatte einen angewiderten Zug um den Mund, während er das Bett verließ und langsam durchs Zimmer ging. »Ich komme schon«, sagte er zu dem Unbekannten, der sich draußen immer heftiger bemerkbar machte. Aber Ernst sprach so leise, daß die Person vor der Türe ihn keinesfalls verstehen konnte.
»Du solltest dir etwas überziehen«, mahnte Tilly, denn er stand nackt da – nackt und ein wenig zitternd vor dieser verschlossenen Türe, die zu öffnen er noch ein paar Sekunden lang zögerte. »Du wirst dich erkälten«, sagte das Mädchen im Bett. So verschlafen sie war – daß er zitterte, bemerkte sie doch, und sie sah auch die Gänsehaut auf seinen Armen und auf seinem Rücken. Aber da hatte er die Türe schon aufgemacht.
Vor ihm stand ein Herr in dunklem Überzieher, mit steifem, schwarzem Hut, einem hohen, blendend weißen Kragen und schwarzen, blankgewichsten Stiefeln, die unter hellen Beinkleidern sichtbar wurden. Er trug eine gelbe Aktentasche unter dem Arm und sah aus wie ein übelgelaunter Geschäftsreisender.
Der Herr musterte, mit einem kalten, feindlichen Blick durch den Zwicker, den nackten jungen Menschen, der ihm gegenüberstand. Die korrekte Figur des Herrn drückte von den Stiefelspitzen bis zum Scheitel Mißbilligung aus. Er stand einige Sekunden lang unbeweglich, und auch Ernst, der Zitternde, rührte sich nicht. Der Herr betrachtete, ausführlich und unbarmherzig, diese frierende Nacktheit. Er schien die Rippen zählen zu wollen, die sich abzeichneten unter der gespannten Haut. Er mißbilligte das zerzauste Haar und das verstörte Gesicht des jungen Menschen; er nahm Anstoß an den gar zu sichtbaren Rippen, dem totalen Mangel an Bauch – Menschen, die in einer anständigen Beziehung zur bürgerlichen Weltordnung leben, müssen einen etwas gepolsterten Bauch zeigen – und er empfand Ekel sowohl als Entrüstung angesichts der provokanten Entblößung des Geschlechts.
»Fremdenpolizei«, stellte er sich unheilverkündend vor. »Ziehen Sie sich bitte sofort etwas an!« Während Ernst stumm zu seinen Sachen ging, sprach der Mann mit der Aktentasche – wobei sein ungnädiger Blick an dem benutzten und dem unbenutzten Bett vorbei zum Fenster ging: »Zeigen Sie Ihre Pässe!«
Tilly erschrak so sehr, daß sie einen stechenden Schmerz in der Magengegend empfand und meinte, ihr Herz müßte aussetzen zu schlagen. Sie spürte, daß ihr der Atem sekundenlang wegblieb. Ein Asthmaanfall bereitete sich wohl vor … Trotzdem war ihr klar, daß sie sich nun äußern und in Aktion treten müsse, um Ernst zu retten – oder doch, um die Katastrophe, die ihn bedrohte, aufzuschieben. Sie ließ eine kokette Piepsstimme hören, die sie immer dann verwendete, wenn sie Herren von der Polizei oder Ladenbesitzer, bei denen sie Schulden hatte, rühren und versöhnen wollte. »Ach, wie dumm!« machte sie, töricht lächelnd. »Ich habe meinen Paß nicht bei mir!«
Der Herr von der Fremdenpolizei vermied es, sie genau anzusehen. Er hatte schon festgestellt, daß sie hübsch war, und er wollte sich keineswegs durch ihre Reize bestechen lassen. »Wo wohnen Sie?« fragte er barsch.
»In Rüschlikon«, plapperte sie, eifrig wie ein Schulmädchen. Und sie redete weiter: »Meine Mama, Frau von Kammer, hat eine kleine Wohnung dort. Ja, ich bin polizeilich gemeldet …« Der Herr unterbrach sie: »Sind Sie mit diesem Mann hier verheiratet?«
Tilly ließ nicht von ihren traurigen kleinen Versuchen, mit dem Beamten zu kokettieren. »Gewiß«, sagte sie, wobei sie die Schultern hochzog und sich zu allerlei niedlichen Grimassen zwang, die ihrem Gesicht weh taten. »Das heißt: beinah verheiratet – so gut wie verehelicht … Er ist ein Vetter von mir … Ein Jugendfreund außerdem … Wir sind schon seit langem verlobt …«
»Also nicht verheiratet«, stellte unerbittlich der Beamte fest, und er machte sich Notizen in ein dickes schwarzes Wachstuchheft, welches er aus seiner Aktentasche geholt hatte. »Haben Sie keinerlei Ausweispapiere bei sich?«
»Oh doch«, schwatzte sie. »Es wird sich schon etwas finden – dies und das, eine Visitenkarte oder so. Wenn Sie nur so freundlich wären, mir dieses Täschchen herüberzureichen …«
Der Beamte gab ihr stumm die Tasche, auf die sie gedeutet hatte. Tilly kramte aufgeregt; ließ eine alte kleine Puderdose auf den Fußboden fallen – der Beamte überlegte sich eine Sekunde, ob er sich bücken solle, um sie aufzuheben, unterließ es dann aber. Tilly mußte schließlich betrübt konstatieren: »Nicht einmal eine Visitenkarte ist da! – Aber hier!« rief sie mit kläglicher Munterkeit, »hier – eine kleine Tischkarte! Sie stammt von einem Diner bei Herrn und Frau Ottinger. Entschuldigen Sie, es ist kein recht seriöses Ausweispapier; aber immerhin, Sie sehen doch meinen Namen …«
Der Beamte betrachtete mit ungerührter Miene die