Zeit hinwegkommen, während deren sie ihre Kenntnisse im Englischen perfektionierte und auf den Bescheid ihres Agenten aus Hollywood wartete? – Einmal war sie in London gewesen; dort hatte man, im Auftrag einer amerikanischen Gesellschaft, Probeaufnahmen von ihr gemacht. Nun hatte die Entscheidung in Kalifornien zu fallen. Aber die maßgebenden Herren schienen kaum Eile zu haben …
Am Ende konnte es Frau von Kammer nur recht sein, daß die Freundschaft zwischen Tilly und Tilla nicht so intim geworden war, wie die Ältere dies wohl beabsichtigt hatte. »Ich bin doch eigentlich so etwas wie deine Patentante«, hatte die Tibori gescherzt und nichts unversucht gelassen, um das junge Mädchen für sich zu gewinnen und einzunehmen. Tilly aber blieb spröde. Wenn die Actrice sich Mühe gab, in ihre kleinen Geheimnisse einzudringen, schwieg sie störrisch. Sie war degoutiert von der Lebensführung ihrer »Patentante«. – »Eine nicht mehr junge Frau, die sich von einem dicken Kapitalistenschwein aushalten läßt!« sagte sie streng. Der Patentante konnte es nicht entgehen, daß sie etwas verächtlich behandelt ward. Wahrscheinlich ahnte sie auch die Gründe. »Diese junge Generation ist moralisch«, meinte sie sinnend. »Man erregt heute leichter Anstoß bei einer Zwanzigjährigen als bei einem Pfarrer oder einer alten Jungfer. Vielleicht hat das gute Gründe. Wir haben uns aus den moralischen Gesetzen, mit denen es unsere Eltern noch so ernst nahmen, nicht mehr viel gemacht und sind mächtig stolz auf unsere ›Freiheit‹ und ›Unabhängigkeit‹ gewesen. Nun kommen andere: unsere Kinder – oder solche, die unsere Kinder sein könnten – und sie müssen sich neue Gesetze erfinden, ganz für sich allein – weil das Leben sonst langweilig und ohne Spannung wäre.«
Frau von Kammer dachte, etwas verbittert: ›Wie anspruchsvoll sie daherredet! Und was ist das für eine gewagte Behauptung: wir hätten die Moralgesetze überwunden? Es gibt doch wohl Unterschiede, auch innerhalb einer Generation …‹ – Sie sagte: »Ich verstehe nicht ganz, was du meinst. Leider muß ich fürchten, daß die Kreise, in denen meine Tilly verkehrt, es nicht sonderlich genau mit den moralischen Prinzipien nehmen – weniger genau jedenfalls, als manche von uns es taten, als wir jung waren.« – »Doch«, beharrte Tilla Tibori, »auf ihre neue Art sind sie sehr moralisch und verurteilen jeden, der etwas laxere Begriffe hat und sich mal ein bißchen gehen läßt. Es fehlt ihnen der Sinn fürs Frivole. Sie sind alle politisch, lauter kleine Fanatiker – und das macht sie mindestens ebenso unerbittlich, wie wenn sie religiös wären. Wir haben wohl für all das nicht mehr ganz das richtige Verständnis, meine liebe Marie-Luise …«
Frau von Kammer, die den Umgang mit verdächtigen Emigranten immer noch mied und von den feinen Leuten ihrerseits gemieden wurde, blieb recht allein. Aus Deutschland schrieb ihr fast niemand mehr, auch kam wenig Besuch. Ihre beste – oder vielmehr: ihre einzige Freundin in Zürich war eine alternde Schauspielerin, die sich von einem Kommerzienrat aushalten ließ … Trotz alledem war Marie-Luise nicht eigentlich unglücklich. Das Bewußtsein, daß sie sich Entwürdigungen entzogen hatte, denen ihre alten Bekannten in Berlin ausgesetzt waren, gab ihr den Halt.
Marion war zu Weihnachten ein paar Tage in Zürich gewesen. Sie sprach viel und eifrig von ihren Plänen; denn nun waren sie schon so weit gediehen, daß kein Aberglaube mehr daran hindern konnte, von ihnen zu reden. Es lief darauf hinaus, daß Marion als Rezitatorin Abende veranstalten und durch die Länder reisen wollte. Das Programm, das sie vorbereitete – Verse und Prosa von klassischen sowohl als auch von modernen Autoren – war unter einem antifaschistischen Gesichtspunkt zusammengestellt. »Freilich sollen nicht alle Stücke, die ich sprechen will, einen direkt politischen Inhalt haben«, erklärte sie. »Aber irgendwie muß man sie in Beziehung bringen können zu unseren Kämpfen und Problemen. Ich habe schon die wunderbarsten, aufregendsten Dinge gefunden, bei Goethe oder Lessing, bei Heine, Hölderlin oder Nietzsche, oder bei den Neuen. Die deutsche Literatur ist ja so reich, jetzt erst merke ich, wie herrlich reich sie ist. Alles, was uns auf den Nägeln brennt, ist eigentlich schon gesagt und ausgedrückt worden – mit welcher Macht, welcher Schönheit! – Wer zwingt mich übrigens, mich nur auf die deutsche Literatur zu beschränken?« fügte sie noch hinzu, fast übermütig vor lauter Unternehmungslust.
Tilly war gleich begeistert von Marions Plan. Die Mutter verhielt sich mißtrauisch. »Ob man sich wirklich sein Brot verdienen kann durch Gedichteaufsagen?« zweifelte sie. Marion lachte. »Wir werden ja sehen … Und übrigens riskiere ich nicht viel – nur all die Arbeit, die ich mir jetzt mache. Wenn es kein Erfolg wird, versuche ich etwas anderes.«
So war Marion: immer aktiv, voller Einfälle und nicht ohne Munterkeit – wenngleich sie nun häufig recht angestrengte Züge zwischen den Brauen auf der Stirn zeigte. Sie reiste bald wieder ab, weil sie in Paris kolossal viel zu tun hatte, teils mit der Sorge um all ihre Freunde, teils mit der Vorbereitung ihres literarischen Programms. Die drei Zimmer in Rüschlikon wurden so still, wie sie es gewesen waren vor diesem turbulenten, angeregten Besuch. – Tilly war selten zu Hause. Frau von Kammer beschäftigte sich mit großen Handarbeiten, oder sie schüttelte den Kopf über der Lektüre der Zeitung; oft saß sie auch nur einfach da und grübelte, oder sie schrieb auf Zetteln lange Zahlenkolonnen untereinander, um sich auszurechnen, ob sie mit ihrem Monatsgeld auskommen konnte. Es schien fast nicht möglich; aber es mußte sein. Wenn nur das Schulgeld für die kleine Susanne nicht so teuer gewesen wäre. Die schrieb weiter ihre korrekten, ziemlich inhaltslosen Briefe aus dem Internat. Auf ihre trockene Art teilte sie mit, daß sie über nichts zu klagen habe. Sie war ehrgeizig, besonders was den Sport betraf. Stolz berichtete sie von ihrem Sieg auf einem Tennisturnier oder bei einer Schwimmkonkurrenz. Mit den anderen jungen Mädchen vertrug sie sich gut. Vor allem lag ihr daran, nicht aufzufallen; eine unter vielen, ein »Durchschnittsmädel« zu sein. Frau von Kammer mußte ihr nette Kleider und feine Wäsche schicken: das war nötig aus Prestigegründen. Es sollte dem Kind nicht zu Bewußtsein kommen, daß sie ärmer war als alle, mit denen sie in der Klasse saß. Um keinen Preis hätte Susanne es sich selber oder anderen zugegeben, daß sie in dem Zirkel von jungen Mädchen solide-wohlhabender Herkunft ein Ausnahmefall und ein »fremdartiges Element« bleiben mußte – ihre Familie lebte unter gar zu anderen Umständen und Verhältnissen als die Angehörigen der übrigen Schülerinnen. Einmal hatte sie empört an die Mutter geschrieben: »Die Berta Baudessin aus Hannover ist sehr frech zu mir gewesen und hat gesagt: ›Ihr seid ja nur Emigranten.‹ Das ist doch eine Gemeinheit und auch gar nicht wahr. Du hast mir gesagt, es ist nur wegen Deiner Gesundheit, daß Du in der Schweiz leben mußt, statt in Berlin. So ist es doch, Mama?« – Solche Zeilen las Marie-Luise nicht ohne Sorge. »Das Kind gibt sich falschen Vorstellungen hin«, sprach sie kopfschüttelnd.
Tilly aber ärgerte sich. »Eine dumme Gans!« rief sie böse. Die Mutter meinte versöhnlich: »Aber sie ist doch noch so jung! Wie soll sie eine Ahnung haben von dem, was in Deutschland geschieht? Ihr kommt es doch nur darauf an, daß sie nicht aus dem Rahmen fällt und nicht anders ist als ihre kleinen Kolleginnen.« Darauf Tilly: »Das ist ja gerade das Schlimme – wenn man bedenkt, was für eingebildete, kapitalistische Fratzen diese ›kleinen Kolleginnen‹ sein müssen!«
Es war einfach unpassend – fand Tilly – daß Susanne in einer so teuren Schule blieb. »Das ist etwas für die Kinder von reichen Leuten! Susanne sollte nicht vergessen, daß ihre Schwestern sich schon plagen müssen, um leben zu können!«
Sie übertrieb etwas; mit der Plage war es in ihrem Fall noch nicht arg. Sie hatte Stenographieren und das Bedienen einer Schreibmaschine perfekt gelernt, und durch die Vermittlung von Freunden hatte sie auch eine Art von Stellung gefunden. Jeden Tag war sie von morgens neun Uhr bis zum Mittagessen bei einem alten Herrn, der eine stattliche Villa am See bewohnte. Herr Ottinger beschäftigte sich mit der Abfassung seiner Memoiren, die er unter dem Titel »Lebensbeichte eines Eidgenossen« zu veröffentlichen dachte. Dieses gewichtige Manuskript war es, aus dem er Tilly diktierte. Er erlaubte sich einen kleinen Verstoß gegen das Gesetz seines Landes, indem er die Fremde arbeiten ließ. Sicherlich war es die erste illegale Tat in seinem langen korrekten Leben. Herr Ottinger erwies sich als ein freundlicher und liberal gesinnter Mann, mit weißem Vollbart und kurzsichtigen, guten blauen Augen hinter den Brillengläsern. Sein Reichtum galt für solide; bedeutende Teile seiner Revenuen verwendete er für wohltätige Zwecke. Mancher in Stadt und Land und wohl auch auswärts hatte Anlaß, dem Ehepaar Ottinger herzlich dankbar zu sein; denn auch Madame war sehr gut. Sie hatte eine Menge seltsamer grauer Löckchen auf dem Kopf und ein Gesicht