Mahlzeit am Tag.« Gegen halb zwei Uhr klingelten sie; dann brachte ihnen der Valet de Chambre Chocolade und Brioches. Der Valet hieß Jean und war ein würdiger Mann mit hängendem weißen Schnurrbart. Er empfand eine väterliche Sympathie für die zwei seltsamen Knaben; sein Wohlwollen war nicht frei von Sorge. Die beiden besprachen fast alles mit ihm; er kannte ihre Geldsorgen, begriff, daß es Monsieur Martin so schwerfiel, Artikel für die Zeitung zu schreiben, und all der Ärger, den Monsieur Kikjou mit seiner Familie hatte, war ihm wohl vertraut. »Aber Sie schlafen zu lange!« sagte Jean tadelnd. »Das ist kein Leben! Etwas Sport sollten Sie treiben! Junge Menschen müssen aktiv sein!«
Es war dem Alten auch nicht unbekannt geblieben, welch gefährlichen und ungesunden Angewohnheiten »le jeune Monsieur allemand« nachhing. Eines Tages war dem Valet beim Aufräumen die Spritze in die Hände gefallen, und dann mußte Martin alles gestehen. Übrigens liebte er es, von seinem Laster ausführlich und mit einer gewissen Pedanterie zu sprechen. Er schilderte dramatisch das erste Zusammentreffen mit Pépé und schloß den Bericht, nicht ohne Selbstgefälligkeit: »Das erstaunliche ist, daß ich immer noch nicht eigentlich süchtig bin, weißt du.« (Diese letzten zwei Worte auf die kokette Art zerdehnt und geschleppt.) »Von Morphinismus kann man bei mir gar nicht sprechen. Ich nehme unregelmäßig, in großen Abständen.«
Wirklich besuchte er seinen Freund Pépé – der das Stammlokal längst gewechselt hatte und nun in einem Café nahe der Madeleine »empfing« – zunächst nur jede zweite Woche. Mit einem Heroinpäckchen, das er nun für hundertfünfzig Francs erstand, reichte Martin vierzehn Tage lang. Nur jeden zweiten oder dritten Abend gönnte er sich eine Injektion. Er war schon seit längerem davon abgekommen, das Pulver durch die Nase hochzuziehen, und hatte sich daran gewöhnt, die Substanz in destilliertem Wasser aufzulösen.
Anfangs hatte er seine Beziehung zu Pépé und alles, was mit ihr zusammenhing, vor Kikjou strikt verheimlicht. Auf die Dauer war dies nicht möglich; auch litt Martin sehr darunter, ein solches Geheimnis vor dem Freund zu haben. Kikjous Reaktion auf die Eröffnung war sonderbar. Er schien beinah nicht überrascht. »Ich hatte etwas dieser Art erwartet«, sagte er nur und schaute den anderen, mehr sinnend als streng, lange aus den weit geöffneten, schillernden Augen an. Dann ließ er sich ein paar Stunden lang nicht blicken.
Am nächsten Tage verlangte Kikjou: »Zeige mir la chose infernale!« Martin stellte sich erst, als ob er nicht verstünde, was gemeint war; öffnete aber dann das Päckchen und ließ das kristallisch durchsetzte, hellgraue Pulver sehen. Kikjou betrachtete es, sorgfältig und etwas angewidert, wie man sich ein zugleich attraktives und schauerliches Lebewesen, etwa einen großen, seltsam geformten Käfer, besieht. »Formidable!« brachte er nach langer Pause hervor. »Es sieht ungeheuer giftig aus …« Dazu schüttelte er sanft den Kopf, wie ein nachsichtiger junger Priester beim Anblick der nackten Sünde.
Martin schlug vor: »Magst du es nicht versuchen?« Kikjou verneinte nur mit einem Blick. Martin erklärte: »Du mußt nicht denken, daß ich ein Morphinist bin oder es jemals werden könnte. Ich nehme es nur ganz unregelmäßig, weißt du …« Kikjou winkte ab. Mit einer sehr leisen, zugleich zärtlichen und tückischen Stimme sagte er: »Ich bin neugierig, wie du aussiehst – wenn du es in dir hast …«
Nachts beobachtete er den Freund, wie er sich, nach der Injektion, selig benommen aufs Bett streckte. »Dein Gesicht verändert sich«, konstatierte Kikjou, halb lüstern und halb betrübt. »Wie fremd du mir wirst! Du bist schon ganz weit weg … La chose infernale entführt dich – wohin? – Wohin, Martin?« rief Kikjou ihm zu, mit erhobener Stimme, als gälte es, sich über weite Entfernungen verständlich zu machen. »Ist es schön, wo du bist?« fragte Kikjou, wie über Abgründe weg. Und Martins entrückte Stimme gab Antwort: »Wunderschön.«
Aneinandergeschmiegt sprachen sie die Nächte lang. Kikjou ließ die grausamen, unendlich neugierigen und unendlich zärtlichen Augen nicht von Martins weißer, besänftigter und streng verklärter Miene. Martin hielt die Augen geschlossen, während er redete. Ihm kamen vielerlei Gedanken, die Worte strömten, das Gespräch nahm kein Ende. Alle Probleme, alle Begriffe wurden einbezogen, und alle lösten sich auf in einem Nebel, der schimmernd, aber undurchdringlich war. Martin erzählte auch manches von den Büchern, die er schreiben wollte – große Bücher, wunderbare Geschichten. »O wie traurig – o wie schön werden sie sein! All unsere Schmerzen sollen vorkommen, mitsamt allen Wonnen! Ich spüre, daß mir unvergleichlich Schönes glücken wird …« lallte er aus seiner Euphorie, mit zugleich beschwingter und sehr schwerer Zunge. Kikjou aber schaute ihn an …
Da es Martins Meisterwerke bis jetzt nur in Träumen gab und sie noch nicht auf dem Papier standen, griff er zuweilen nach einem Buch, das er liebte, um dem Freunde draus vorzulesen. Er öffnete den Band Novalis, riß seherisch die Augen auf, in denen die Pupillen sehr klein geworden waren, und verkündete:
»Unerhörte, gewaltige,
Keinen sterblichen Lippen entfallene
Dinge will ich sagen.
Wie die glühende Nachtwandlerin,
Die bacchische Jungfrau
Am Hebrus staunt
Und im thrazischen Schnee
Und in Rhodope, im Lande der Wilden,
So dünkt mir seltsam und fremd
Der Flüsse Gewässer,
Der einsame Wald …«
Tags waren die beiden Knaben still und ermattet. Seitdem die unbarmherzige Hitze über Paris gekommen war, verloren sie vollends die Lust, ihr schönes Atelier zu verlassen. Erst am späten Nachmittag verbrachten sie eine Stunde im Bistro gegenüber, um einen Vermouth zu trinken. Dann gesellte sich wohl David Deutsch zu ihnen, der sich noch intensivere Sorgen um Martin machte als der brave Valet de Chambre. David liebte und bewunderte den jungen Dichter, der sich nun an so bedenkliche Abenteuer verlor. Er nahm Kikjou beiseite, um ihn herzlich zu bitten: »Bringen Sie ihn doch ab von dem abscheulichen Gift! Sie haben Einfluß auf ihn! Machen Sie ihn geltend! Wir verlieren Martin, wenn er es weiter so treibt – was ja bedeuten würde, daß er es bald viel schlimmer treiben wird. Wir dürfen ihn nicht verlieren!« Aber Kikjou – ein junger Priester, der nachsichtig das helle Antlitz zur nackten Sünde neigt – schüttelte nur sanft das Haupt. »La chose infernale ist schon stärker geworden als ich«, sagte er, und es klang kaum bedauernd.
Das Abendessen nahmen sie zu dritt in dem kleinen Restaurant, Ecke Rue des Saints-Pères, wo damals die Amerikanerin ausgespuckt hatte. Und dann kam wieder die Nacht …
Am nächsten Vormittag ließ Marcel auf dem Korridor vor Martins und Kikjous Zimmer den Vogelruf hören, mit dem er sich anzumelden pflegte: »Ohu … Ohu!« Er mußte mehrfach an die Türe klopfen, ehe Martin, sehr verschlafen und in einem nicht ganz sauberen Pyjama, ihm die Türe öffnete. »Les singes!« schimpfte Marcel. Er nannte die beiden niemals anders, was eine Anspielung auf Kikjous zartes und nervöses Affengesichtchen war. »Natürlich! Mitten am Tag noch im Bett!« Martin brachte in seinem langsamen, unbeholfenen Französisch schmollend vor: »So eine Gemeinheit, einen gleich nach Mitternacht zu stören! Komm schon herein, da du nun einmal da bist …«
Übrigens freute Martin sich im Grund darüber, daß Marcel neuerdings häufiger zu ihm kam. Er machte es sich nicht klar oder wollte es sich doch nicht ganz zugeben, daß Poirets Visiten weniger ihm als dem kleinen Kikjou galten. Marcel bewahrte seinem »petit frère« Sympathie und Freundschaft. »Ein sehr anziehendes und interessantes Äffchen«, pflegte er, etwas gönnerhaft, von ihm zu sagen. »Er macht mir Spaß, weil er genau so ist, wie ich in seinem Alter leicht hätte sein können, aber durch verschiedene Zufälle nicht gewesen bin. Wahrscheinlich ist er außerordentlich begabt, und übrigens stark und zäh im Grunde, bei aller Zartheit. Er macht Augen wie ein hysterisches kleines Mädchen; wenn es aber drauf ankommt, weiß er recht genau, was er will. Man könnte noch Überraschungen mit ihm erleben. Er wird manches leisten, und wahrscheinlich überlebt er uns alle.«
»Eine tierisch verkommene Wirtschaft!« Marcel warf mit kühnem Schwung den leichten, hellen Hut auf einen Sessel; er stand da in seinem grauen, etwas fleckigen, aber gut gemachten Flanellanzug, mit breiten braunen Halbschuhen und einem dicken, rot und blau karierten Leinenhemd, zu