ärgste, quälendste war, daß er nicht arbeiten konnte. Er hatte vorgehabt, seine unfreiwillige Freiheit zur Ausführung eines literarischen Planes zu nutzen, der ihn seit langem lockte und ihm reizend erschien. Es handelte sich da um einen entzückend zarten und empfindlichen, schwierigen, geistig komplexen Gegenstand. Er hatte sich darauf vorbereitet und darauf gefreut, ein kleines – aber nicht gar zu kleines – Buch über die Wiener literarische Schule um die Jahrhundertwende zu schreiben. Die Abhandlung sollte den lyrischen Charme einer Liebesgeschichte, gleichzeitig aber das solide Gewicht einer literaturgeschichtlichen Studie haben. Im Zentrum der Betrachtung würden die Figuren Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers stehen: beide waren sie Benjamins Lieblingsautoren seit seiner Gymnasiastenzeit. Was für ein hübsches, anmutiges und interessantes Buch könnte das werden! Aber damit war es nun nichts. Zu einer solchen Arbeit braucht man einen freien Kopf, ein unbeschwertes Herz, einen geschärften Verstand, eine zugleich gespannte und freudig lockere Stimmung der Seele.
Trost kam von keiner Seite. Annette Lehmann zum Beispiel die tüchtige Freundin, die in Köln zurückgeblieben war, hätte wohl die Macht und Möglichkeit gehabt, etwas Trost zu spenden; aber sie dachte gar nicht daran, augenscheinlich hatte sie ganz andere Gedanken im Kopf. Wie lange war nun schon kein Brief mehr von ihr eingetroffen? Im letzten hatte sie mitgeteilt, daß sie zunächst nicht daran denken dürfe, nach Holland zu kommen. Ihr Geschäft nehme sie mehr in Anspruch denn je. Annette Lehmann versicherte ihrem alten Freund, er könne sich keine Vorstellung davon machen, was für ein Auftrieb und freudiger Elan im »neuen Deutschland« spürbar sei. Ja, die liebe alte Annette schrieb wirklich: »im neuen Deutschland …«
In der Tat: dem Professor war ganz und gar nicht danach zumute, sich die Stimmung freudigen Elans in Köln am Rhein und im Antiquitätenladen Annettes auszumalen. Ihm schien das Wort »Deutschland« vergiftet. Er dachte es nie ohne Qual, und da er es häufig dachte, hatte er ein großes Maß an Qualen auszuhalten. Darauf war er kaum gefaßt gewesen: daß er, als nicht mehr ganz junger Mann, noch ein Gefühl, einen zehrend heftigen Affekt würde kennenlernen und gründlich erfahren müssen, der ihm seiner ursprünglichen Anlage, seiner Erziehung und seinem Temperament nach so fern gelegen hatte: den Haß.
Wie lange war es her, daß er keine Zeitungen oder nur die unpolitischen Rubriken in den Blättern gelesen hatte? Nun verfolgte er, mit gierig-leidender Spannung, jede neue Schandtat oder Dummheit, Infamie oder Entgleisung, die das verhaßte Regime dort drüben sich zuschulden kommen ließ. Er las alles, merkte sich alles. Mit tausend Einzelheiten, immer neuen und immer krasseren Details nährte er das quälende und berauschende Gefühl seines Hasses.
Besonders quälend und erst recht berauschend wurde es dadurch, daß er es in so vollkommener Einsamkeit ertrug. Er erwog kaum die Möglichkeit, mit anderen Emigranten – die doch mindestens die Gefühle »Haß und Heimweh« mit ihm gemeinsam haben mußten – den Kontakt zu suchen. Die Idee, Haß und Schmerz fruchtbar zu machen – sich, um ihretwillen, in eine kämpferische Front, in irgendeine aktivistische Gemeinsamkeit einzufügen – kam ihm noch nicht.
Sein stolz und trotzig selbstgewähltes Teil war die Einsamkeit, begleitet von der monotonen Melodie des »Brummers«.
Sein Teil war die Einsamkeit.
Sie ist die treueste Begleiterin auf den unendlichen Spaziergängen in der Stadt Amsterdam.
Wie gut kannte der Professor nun schon diese Stadt: bis zum Überdruß genau, wollte ihm scheinen, war er vertraut mit ihren Straßen, Plätzen, Brücken, Parks und Grachten. Es war sonderbar, dachte er oft, daß man in einer Stadt mit solcher Intimität Bescheid wissen konnte, ohne sich doch in ihr »zu Haus« zu fühlen. Sie blieb die Fremde – obwohl man nun schon bald jede ihrer Straßenecken ebenso genau kannte wie die Straßenecken in den heimatlichen Städten Köln, Worms und Bonn.
Übrigens war es eine liebenswürdige Fremde. Wenn Abel seine vergleichsweise guten Tage, seine nicht gar zu niedergeschlagenen Stunden hatte, dann fand er, und machte es sich ausdrücklich klar, daß Amsterdam eine schöne Stadt war, abwechslungsreich und voll von sehenswerten, liebenswerten Plätzen und Dingen.
Auf seine zurückgezogene, einsiedlerische Art nahm Abel doch ein wenig teil am Leben. Von den Lokalen, den Bierstuben, Bars und Dancings hielt er sich allerdings mehr und mehr fern. Man traf dort überall Deutsche; das störte ihn – nicht nur, weil die Gegenwart der Landsleute ihm lästig und sogar peinigend war; sondern vor allem, weil er zu spüren meinte, daß ihre massenhafte Anwesenheit den Holländern ein Ärgernis bedeutete. Kleine, an sich unbedeutende, aber doch charakteristische Erlebnisse bestätigten ihm dieses Empfinden und waren geeignet, es noch zu verstärken.
In einer Bar am Rembrandt-Plein, im Zentrum der Stadt, wo Benjamin gelegentlich spätnachts noch einen Bols getrunken hatte, saß hinter der Theke ein geschminktes, hochblondes, üppiges, dummes und freundliches deutsches Mädchen. Sie war recht beliebt bei den holländischen Stammgästen. Eines Nachts kam Benjamin dazu, als ein wohlbeleibter, rotgesichtiger, gutgelaunter, ziemlich stark alkoholisierter Amsterdamer Geschäftsmann mit der kessen und gutmütigen Berlinerin scherzte. Den Hut keck im Nacken, den Paletot aufgeknöpft, die dicke Zigarre im Mund, saß der muntere Bürger auf dem hohen Barstuhl und versuchte, einen Berliner Witz zu erzählen. Benjamin nahm neben ihm Platz und wechselte seinerseits ein paar deutsche Worte mit dem Mädchen, das er nicht zum ersten Mal sah. Daraufhin verstummte der Holländer und sah ihn mißtrauisch an. Nach einer etwas bedrohlichen Pause fragte er, die Augen böse zusammengekniffen: »Auch Deutscher?«
Benjamin mußte bejahen. Der Holländer schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln; es war eine ganze Pantomime der Ratlosigkeit und des Bedauerns, die er aufführte. Endlich schrie er, sehr laut, aber mehr verzweifelt als zornig: »Auch ein Deutscher!! Nun möchte ich aber doch wissen: Warum sind alle diese Leute hier?! – Warum?!« rief er immer wieder, empört und jammernd, als wäre ein Heuschreckenschwarm in sein Land eingebrochen und träfe Anstalten, es zu verwüsten. Das Barmädchen lachte herzlich. Sie fühlte sich gar nicht betroffen. Ein so erfreulich vollbusiges, schmuck hergerichtetes und verführerisches Lebewesen wie sie war nicht zunächst Deutsche, sondern Frau. Die platinblonde Berlinerin konnte den erregten Gast nur beruhigen, indem sie ihm einen besonders großen doppelten Bols offerierte.
Eines Tages meldete Stinchen: »Herr Professor, es ist ein Mann unten, der etwas verkaufen will.« Abel, der am Fenster mit Papieren saß, schaute kaum auf. »Er soll gehen, ich brauche nichts.« – Stinchen ließ sich nicht wegschicken. »Es ist aber ein sehr netter Herr«, sagte sie. »Ein Deutscher. Er ist auch so ein Emigrant, hat er mir erzählt.« Abel fand es brav von Stinchen, daß sie sich für Emigranten einsetzte. Er lächelte: »Lassen Sie ihn mal reinkommen.«
Ein paar Minuten später räusperte sich jemand bescheiden an der Türe. Abel drehte sich um. Er erschrak und stand auf. Es war ein alter Schüler von ihm, und er war einer der begabtesten im Seminar gewesen.
»Mensch, Hollmann!«
»Der Herr Professor Abel! Das habe ich nicht gewußt! – Man hat mir nur erzählt, hier wohnt ein Deutscher, der sich mit Büchern beschäftigt … Ein sehr freundlicher Herr, hat mir das kleine Mädchen unten gesagt. Da dachte ich mir: ich versuch es mal …«
Hollmann setzte sich und nahm eine Zigarette. Jetzt erst fiel Abel auf, daß er sich verändert hatte. Er war magerer geworden und sein Haar sehr dünn. Diese nervöse Angewohnheit, sich mit dem Taschentuch die Stirne zu tupfen, war früher auch nicht an ihm aufgefallen.
»Ja, was ist denn mit Ihnen los? Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«
Hollmann lachte traurig. »Ein Webfehler, wie man jetzt sagt. Mit meiner Mutter war nicht alles in Ordnung. Eine geborene Meyer, der Name klingt harmlos, aber ich konnte den ›Ariernachweis‹ nicht erbringen … Na, das wäre an sich noch nicht das Ende gewesen – vorläufig noch nicht. Aber mir hat es überhaupt zu Hause nicht mehr gefallen … Erst habe ich in Paris als Filmstatist gearbeitet. Leider war das auch nicht angenehm; die Gesellschaft war nämlich halb deutsch. Der Star aus Berlin war ein süßer blonder Bursch, der mit der Direktion schöntut und die Statisten anbrüllt wie ein Unteroffizier die Soldaten. Ich habe ihm einmal eine Antwort gegeben, und dann war Schluß … Na, und jetzt bin ich