ist miserabel. Ich werde Ihnen was abkaufen …«
Der junge Mann, der vor zwei Jahren eine vorzügliche Doktorarbeit über Goethe und Frankreich geschrieben hatte, blieb noch eine halbe Stunde bei seinem alten Lehrer. Sie hatten viel zu besprechen, sie lachten auch viel, dieser Hollmann war ein lustiger Kerl; doch als sie sich zum Abschied die Hand gaben, waren sie beide ernst. »Es war reizend bei Ihnen, Herr Professor«, sagte der junge Mann. »Danke schön für die halbe Stunde. Jetzt muß ich aber schnell weiter …« Er tupfte sich die Stirn mit dem nicht ganz sauberen Taschentuch und blätterte nervös in seinem Adressenbüchlein. »Noch zehn Häuser heute. Dann ist Feierabend.«
Abel sah ihn von Zeit zu Zeit. Es machte ihm Freude, mit ihm von den alten Zeiten zu reden, und manchmal auch von der Zukunft. Wie lange war es her, daß er kameradschaftliche Gespräche nicht mehr gekannt hatte? Nun begriff er: es war vielleicht doch nicht gut, immer allein zu sein. Das Schwerste wurde leichter zu tragen, wenn man darüber reden durfte. Der Professor empfand für den früheren Schüler echte Sympathie und manchmal etwas wie Dankbarkeit. Er machte sich auch väterliche Sorgen. Einmal fragte er ihn: »Ist es wirklich notwendig, daß Sie Tag für Tag mit Ihrem Lieferwagen herumziehen? Haben Sie denn wirklich gar keine andere Chance?« – »Kommt schon mal wieder anders«, sagte der junge Hollmann. »Man muß froh sein, solange man überhaupt etwas hat.« – Dann summte er ein Liedchen, das ein Freund von ihm für ein Prager Emigrantenkabarett gedichtet hatte:
»Ob wir Zeitungen verkaufen;
Ob wir kleine Hunde führen
Oder neben tauben Tanten laufen
Oder als Statist Isolden küren …
Alles das, alles das macht uns nicht krumm,
Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.
Sollte man von uns begehren,
Frösche kitzeln, Steine zählen,
Wolken schieben oder auch die Moldau kehren
Oder unseren Wanzen Märchen zu erzählen …
Alles das, alles das macht uns nicht krumm,
Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.«
Abel nickte; aber sein Lächeln war etwas trübe.
Einmal besuchte er den jungen Freund. Er wohnte in einem Heim, das eine Arbeiterorganisation den deutschen Refugiés zur Verfügung gestellt hatte. Das Gebäude wirkte, mit seinen langen zementierten Gängen und dem etwas trüben Metall seines Treppengeländers, halb wie eine Kaserne, halb wie ein billiges Hospital. Die vereinzelten Gestalten, denen man begegnete, sahen meist recht heruntergekommen, aber teilweise unternehmungslustig aus. ›Sie haben vergnügtere Gesichter, als ich sie im »Huize Mozart« sehe‹, fand der Professor, der ziemlich mißtrauisch betrachtet wurde.
Hollmann teilte seine Kammer mit einem anderen jungen Menschen, der jetzt nicht zu Hause war. »Er verkauft Zeitungen, da unten an der Brücke, gegenüber vom ›Hôtel Américain‹, Sie wissen doch …« Abel erinnerte sich daran, dem Burschen gelegentlich eine der Pariser Emigrantenzeitungen abgenommen zu haben. »Ja, ja, ich kenne ihn«, sagte er. – »Er kann sehr nett Gitarre spielen«, erklärte Hollmann. »Wenn er nachher kommt, werden wir was zu hören kriegen …«
Auf dem Tisch standen eine Flasche Portwein und Schüsseln mit Obst und Gebäck. Abel tadelte gerührt die Verschwendung. »Aber was fällt Ihnen denn ein, Fritz, sich so in Unkosten zu stürzen!« – Hollmann wurde ein bißchen rot. »Es kommt ja nicht so oft vor, daß ich einen Gast habe.« Er lachte verlegen. »Und außerdem kaufe ich das Zeug zu herabgesetzten Preisen. Vergessen Sie nicht: ich bin von der Branche …«
Es wurde ein netter Abend; Abel fühlte sich so wohl wie schon lange nicht. Auch von den »alten Zeiten« redeten sie wieder; aber Hollmann sorgte dafür, daß die Erinnerungen nicht melancholisch wurden. Er machte die Professoren der Bonner Universität nach; besonders gut konnte er den Geheimrat Besenkolb kopieren. »Die Nation, meine Herren!« rief er mit quäkender Stimme und machte lange Schritte über ein imaginäres Podium. »Die Nation ist der höchste, heiligste Begriff, den die Menschheit kennt! Alle großen geistigen Leistungen kommen aus dem Geist des Nationalen!« – »Genug! Genug!« flehte Abel, der sich zugleich amüsierte und ekelte. Aber der junge Hollmann dozierte unbarmherzig weiter, mit der Stimme und den Gebärden Besenkolbs.
Später wurden sie ernst. »Ich überlege mir oft«, sagte Hollmann, »was aus den Jungens wird, die sich so verlogenen Quatsch jeden Tag anhören müssen und überhaupt nichts anderes mehr kennen dürfen. Unaufhörlich wird ihnen Gift eingeträufelt … Ich denke mir manchmal: gerade in so furchtbaren Mengen verabreicht, verliert es vielleicht seine Wirksamkeit. Es muß den Jungens doch schon zum Kotzen sein – und was man ausbricht, das kann einem nicht mehr den Magen verderben!«
»Möchten Sie recht haben!« sagte Professor Abel.
Dann kam der Bursche, dem Benjamin gelegentlich ein paar Zeitungen abgekauft hatte. Er sah müde und mißmutig aus. »Gar kein Geschäft heute gewesen!« beklagte er sich. »Bis man die paar Fetzen los wird, muß man sich die Füße in den Leib stehen! Eine Scheiße!« Als er aber zwei Gläser Portwein getrunken hatte, wurde er lustiger. Er holte die Gitarre aus dem Schrank. Erst sang er ein paar neue Schlager; dann kamen deutsche Volkslieder. »Die sind doch immer das Schönste«, sagte er. Und Fritz Hollmann fügte trotzig hinzu: »Und wir lassen uns von niemandem die Freude daran verderben.«
Es war schon nach Mitternacht, als Benjamin sich zum Gehen anschickte. »Mein Gott, ist es spät geworden!« rief er aus. »Die Zeit ist so schnell vergangen – ich habe es gar nicht bemerkt.« Er schüttelte den beiden jungen Leuten die Hand. Dabei schien er noch etwas sagen zu wollen; es fielen ihm aber wohl die rechten Worte nicht ein, und was er herausbrachte, war nur: »Vielen Dank. Das war ein sehr guter Abend …«
Warum blieb er eigentlich im »Huize Mozart«? Er hatte sich die Frage schon oft gestellt, und nun, auf dem Heimweg, beschäftigte sie ihn wieder. Warum blieb er! Was hielt ihn fest? War es Stinchen? Aber die sah er immer seltener. Immerhin beobachtete er sie genau genug, um zu bemerken, daß sie sich verändert hatte. Ihr Blick, ihr Lächeln bekamen einen neuen Ausdruck; Haltung und Gang waren zugleich selbstbewußter und weiblich-zarter geworden. Manchmal hatte sie nun eine verfängliche, spöttische und dabei verlockende Art, Benjamin anzuschauen, daß er beinah erschrak. ›Was ist mit dem Mädchen?‹ dachte er. ›Sie verwandelt sich. Unser kleines Stinchen mit dem Bubengesicht wird eine Frau …‹
Wer weiß, wie lange Abel sich nicht weggerührt hätte vom »Huize Mozart«, wenn nicht ein kleiner, aber fataler und aufrüttelnder Zwischenfall ihm den Entschluß aufgezwungen hätte, sein Leben zu ändern, sich in Bewegung zu setzen, zu handeln.
Um die Besitzer des Hauses, in dem er nun schon länger als ein halbes Jahr wohnte, hatte Benjamin sich nie viel gekümmert. Er wußte nur, daß der Hausherr, ein Holländer, in irgendwelchen Geschäften unterwegs war und sich in Amsterdam nur selten sehen ließ. Seine Frau war eine ziemlich hübsche Person, mit rundlichen Formen und einer blonden Dauerwellenfrisur über einem gesunden, rosigen, etwas leeren Gesicht. Benjamin begegnete ihr nicht sehr häufig; zu einer längeren Unterhaltung war es niemals gekommen. Zuweilen hatte er sich Gedanken darüber gemacht, daß die Dame des »Huize Mozart« sich etwas gar zu reserviert ihm gegenüber verhalte. Sie war Deutsche, in Hamburg geboren, wie sie ihm gleich zu Anfang erzählt hatte. Neuerdings wollte ihm manchmal scheinen, daß sie ihn feindlich und mißbilligend betrachtete, wenn sie auf der Treppe oder im Flur an ihm vorüberging. Ihre rund geschnittenen, wasserblauen Augen waren vielleicht ein klein wenig tückisch – wie ihm bei solchen Gelegenheiten vorkommen wollte. Aber dann beruhigte er sich bald wieder: ›Ich bin gar zu mißtrauisch, das grenzt ja schon an Verfolgungswahn. Was soll die brave Frau gegen mich haben? Ich bezahle pünktlich die Miete, bin leise und höflich, einen besseren Klienten kann sie sich gar nicht wünschen.‹
Eines Vormittags stellte Benjamin fest, daß die Stube, die neben seinem Zimmer lag und bis dahin leer gestanden hatte, plötzlich bewohnt war. Durch Stinchen erfuhr er, der Bruder der gnädigen Frau sei eingetroffen: Herr Felix Wollfritz aus Hamburg, er werde mehrere Wochen lang bleiben.
Benjamin