Anno 1753
Aus der Entfernung schaute es aus, als sei eine Marmorstatue vom Himmel gefallen. Der alte Fischer, der an diesem kalten Wintermorgen nach seinem Boot sehen wollte, wunderte sich, was dort am Strand des schwarzen Wassers lag und kam neugierig näher.
Als er endlich vor dem weißen Körper kniete, der auf dem Sandboden lagerte, blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen. Erfüllt von tiefer Furcht, bekreuzigte er sich mehrmals hintereinander und stöhnte unwillkürlich laut auf, was immerhin die Krähen verscheuchte, die sich bereits mit lautem Gezeter an der Leiche zu schaffen machten.
Der Fischer warf einen letzten angstvollen Blick auf den Leichnam und rannte davon, als säße ihm der leibhaftige Satan im Nacken. Der Fluch des schwarzen Sees hatte sich wieder erfüllt.
Das geheimnisvolle dunkle Gewässer versetzte die Bewohner des nahen Dorfes immer wieder in Furcht und Schrecken, so dass es im Volksmund den schaurigen Namen Totensee erhielt.
Der Legende nach, die unter den Dorfbewohnern von einer Generation an die nächste weiter getragen wurde, verkörperte das schwarze Wasser den teuflischen Höllenschlund, der im Laufe der Jahrhunderte stetig seinen blutigen Tribut in Gestalt eines Menschenopfers forderte.
Immer wieder spielten sich merkwürdige Begebenheiten auf dem See ab, die sich keine Menschenseele je erklären konnte. Weder in den alten Zeiten noch in den jüngeren Zeiten. Manche Dorfbewohner flüsterten sich zu, dass das Wetter eine Rolle spiele. Nebelgeister würden urplötzlich über dem Wasser tanzen, so dass kein menschliches Wesen erkennen könne, was dort draußen getrieben wurde und merkwürdige Strudel würden die Boote in den Höllenabgrund ziehen. Andere Einwohner des Dorfes erzählten sich am abendlichen Feuer, dass selbst bei schönstem Wetter Menschen verschwunden seien und keiner könne sich erklären, wie dies zugegangen sei.
Hinter ängstlich vorgehaltener Hand wurde im Dorf viel geredet und getuschelt.
Immer, wenn der See eines seiner Opfer verschlungen hatte und dieses alsbald von den Dorfbewohnern bemerkt wurde, läuteten die mächtigen Glocken der nahen Kirche zum Totengeläut.
Alle Mütter des Dorfes ängstigten sich dann zu Tode. Sie ließen ihr hartes Tagwerk im Stich und rannten mit wehenden Kleidern in ihre Hütten, um die Häupter ihrer Lieben zu zählen und atmeten stets erleichtert auf, wenn diese vollzählig waren.
Auch wenn das Land um den See herum fruchtbar war und die Bewohner des Dorfes und der Umgebung üppig ernährte und ihnen ein gutes Leben verhieß, so war die lauernde Furcht vor dem unergründlichen, schwarzen Wasser stets allgegenwärtig.
Überschrift 1
2. Kapitel
Gegenwart
Ihre Großmutter lag abgemagert bis auf die Knochen im Krankenbett des Hospizes „Zum heiligen Lazarus“.
Das düstere Gemäuer aus der Mitte des 18. Jahrhunderts war gründlich saniert und erst vor wenigen Jahren seiner jetzigen Bestimmung übergeben worden. Überreste der ursprünglichen Architektur, die das Gebäude üppig mit Säulen und Gesimsen ausgeschmückt hatte, verliehen der Anstalt ihre altertümliche Ausstrahlung.
Immer, wenn Lisa auf dem Weg zu den Krankenbesuchen bei ihrer Großmutter, durch die im Zwielicht endlos erscheinenden Säulengänge schritt, stellte sie sich vor, wie in den dunklen, geheimnisvollen Ecken die Geister der vergangenen Jahrhunderte ihr Unwesen trieben und sich die Seelen der erst kürzlich hier Verstorbenen dazu gesellten. Aber die morbide Atmosphäre dieses Ortes, einer ehemaligen Krankenanstalt, befand sich durchaus im Einklang mit seiner heutigen Nutzung als Hospiz.
Als sie an diesem Nachmittag gedankenverloren um die letzte Ecke des Säulengangs spazierte und den Blick hob, erschrak sie fast zu Tode. Ganz am Ende des breiten Flures meinte sie eine geheimnisvolle Gestalt zu erkennen. Sie erinnerte an den Sensenmann auf mittelalterlichen Gemälden, als noch die Pest im Lande wütete. Zögerlich ging sie weiter, aber als sie um die Ecke bog, hatte sich die Erscheinung in Luft aufgelöst. Sah sie jetzt schon Gespenster? Vielleicht löste der nahende Tod ihrer geliebten Großmutter Halluzinationen bei ihr aus? Langsam zweifelte sie an ihrem gesunden Menschenverstand, aber sie stand in letzter Zeit wirklich unter Stress. Entschlossen verdrängte sie dieses seltsame Erlebnis und konzentrierte sich auf den bevorstehenden Krankenbesuch.
Lisa dachte, dass die Leitung des Hospizes sich alle Mühe gab, den unheilbar Kranken eine angenehme Umgebung zu bereiten, als sie vorsichtig die Tür öffnete. Obwohl noch die letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers ins Krankenzimmer schienen, brannte eine Kerze auf dem kleinen Besuchertischchen still vor sich hin. Darüber hing ein Heiligenbild an der Wand. Es zeigte sie Jungfrau Marie mit dem kleinen Jesuskind auf dem Schoß vor einem goldenen Hintergrund und sollte wohl eine tröstliche Atmosphäre verbreiten. Trotzdem war es etwas Anderes als die Umgebung des eigenen Zuhauses, befand Lisa, als sie die Einrichtung des Zimmers musterte.
Zaghaft trat sie an das Krankenbett, um die Hand ihrer Großmutter zu ergreifen und hielt erschrocken inne.
Sie war zu spät gekommen!
Unendliche Traurigkeit durchflutete sie, als sie in das wächserne Gesicht der Toten blickte. Eilig tastete sie nach dem Puls, aber sie erkannte sofort, obwohl der Körper noch warm war, dass der Sensenmann seine Beute geholt hatte. Unwiederbringlich und Endgültig!
Erst in diesem Moment, als sie ihren ersten Schock überwunden hatte und sich näher herunter beugte, bemerkte sie, dass die Verstorbene ihrer Großmutter zwar stark ähnelte, aber dass sie sich offensichtlich im Zimmer geirrt haben musste, da ihr die Tote fremd war .
Hastig floh sie aus dem Raum und informierte eine Pflegerin, die ihr auf dem Gang entgegeneilte. Dann suchte sie nach dem Krankenzimmer in dem ihre Oma untergebracht war und betrat es mit klopfendem Herzen.
Innerlich inzwischen auf alles gefasst, trat sie zum Bett und tastete vorsichtig nach der Hand ihrer Großmutter. Sie spürte das zarte Pochen der Adern und eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Aber als sie die Hand, die sich kraftlos und trocken wie Papier anfühlte, in der ihren hielt, war Lisa sich schmerzhaft bewusst, dass unweigerlich die Zeit des Abschieds gekommen war.
Ihr Blick schweifte zum Fenster. Der Spätsommer lag über dem Land und durch das geöffnete Fenster des Krankenzimmers strömte ein lauer Sommerwind, der schon den Duft des nahenden Frühherbstes in sich trug.
Der Geruch der überreifen Äpfel und Pflaumen, die stetig von den Obstbäumen auf die Wiesen der Umgebung plumpsten, fand seinen Weg bis in das Zimmer ihrer Großmutter. Die laue Brise weckte in Lisa Erinnerungen an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Großmutter zusammen in der Küche am altmodischen Herd gestanden und Apfelmus aus Fallobst eingekocht hatten.
Heimlich haderte Lisa mit dem Schicksal.
Sie liebte ihre Großmutter über alles und wünschte sich sehnsüchtig, dass Gott ihr ein längeres Leben vergönnt hätte. Sechsundsiebzig Jahre war doch heutzutage noch gar nicht so ein hohes Alter.
Lisa kannte sich da bestens aus, schließlich arbeitete sie bereits seit drei Jahren als Altenpflegerin in der Villa "Abendruh", dem besten Seniorenpflegeheim ihrer Heimatstadt. Tagtäglich hatte sie mit viel, viel älteren Bewohnern zu tun. Die meisten Heimbewohner waren achtzig Jahre und älter. Es wohnten sogar drei hundertjährige Patienten auf ihrer Pflegestation.
Sie tröstete sich damit, dass ihre Großmutter ein schönes, erfülltes Leben gelebt hatte und bis zu ihrem schweren Schlaganfall sehr rüstig und munter gewesen war.
Lisa warf einen Blick auf die große Uhr, die über dem Türrahmen angebracht war. Die Zeit verrann unerbittlich. Um 23:00 Uhr musste sie ihren Schichtdienst im Seniorenpflegeheim antreten, bis dahin blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Zärtlich hielt sie die Hand ihrer Großmutter, die sich beängstigend zerbrechlich anfühlte, wie die Knochen eines kleinen Vögelchens.
Die bläuliche Lampe über dem