Betty Hugo

Totensee


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Tor quietschte leise, als sie es zögernd aufdrückte und der Kies knirschte unter ihren Fußsohlen, als sie den Hauptpfad entlang schritt. Gleichzeitig beschleunigte sich abermals ihr Herzschlag und hämmerte wie ein Schmiedehammer in ihrer Brust. Erneut hielt sie inne, schaute sich sichernd nach allen Richtungen um und überblickte dann die einsam und verlassen in der Nachmittagssonne liegenden Grabstätten, die einen trostlosen Eindruck machten. Sie waren von Moosen und Flechten überwuchert. Einige Grabsteine waren im Laufe der Zeit umgefallen, andere halb im Erdreich versunken. Die Schatten in den Mauerecken wurden bereits länger. Aus dem Augenwinkel meinte sie zu sehen, wie eine Gestalt hinter der Mauer abtauchte, aber vielleicht hatten ihre überreizten Nerven sie bloß getäuscht.

      Hierher, in diese gottverlassene Einöde, verirrten sich keine Hotelgäste.

      Die bloße Existenz dieser Gräber war für Lisa immerhin der erste reale Beweis, dass die seltsame Geschichte ihrer Großmutter nicht der Fantasie der alten Frau entsprungen war. Es handelte sich allerdings nicht um eine bloße Gedenkstätte.

      Tatsächlich handelte es sich hier um einen Friedhof. Das fand sie äußerst merkwürdig! Wo sich ein Friedhof befand, waren mit Sicherheit auch Leichen begraben worden. Wie vertrug sich das mit der Erzählung, der angeblich verschwundenen Opfer des Totensees? Mit noch immer klopfendem Herzen und abwesendem Blick stromerte sie einmal quer durch die Gräberreihen und erhaschte hier und da eine verwitterte Grabinschrift. Nach und nach beruhigte sie sich und ihr gesunder Menschenverstand gewann wieder die Oberhand. Sie beschloss, die Suche nach der Grabstätte ihrer verstorbenen Großtante systematischer anzugehen.

      Lisa versuchte mit ihren Augen die Größe des Friedhofs abzuschätzen. Dabei bemerkte sie, dass die Sonne schon tief im Westen stand und die Bäume lange, dunkle Schatten warfen. Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und brachte sie zum Frösteln.

      Zum allerersten Mal beschlich Lisa an diesem Nachmittag das dumpfe Gefühl, dass der Totensee dunkle Geheimnisse verbarg, die besser nicht ans Tageslicht kommen sollten. Hier war sie weit, weit weg vom modernen Wellness Betrieb der Hotelanlage. Und auch sehr einsam. Sie schaute sich um, keine Menschenseele war zu entdecken.

      Lisa machte sich daran, alle Gräberreihen systematisch abzuschreiten und die Gräber zu zählen. Außerdem wollte sie dabei Ausschau nach dem Grab halten, welches sie suchte. Aber sie machte sich keine übertriebene Hoffnung, die Stelle schon heute ausfindig zu machen. Langsam brach die Abenddämmerung herein und sie hielt sich in einer besonders schattigen Ecke auf. Außerdem waren viele Gräber mit Moos und anderen Flechten derart überwuchert, dass man kaum die Inschriften entziffern konnte. Womöglich musste sie einige Grabinschriften freilegen, um die Namen zu lesen.

      Mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen, um das Frösteln zu unterdrücken, wanderte Lisa an den Gräbern entlang. Sie kam nur langsam voran. Zufällig hatte sie die älteste Ecke des Gräberfeldes erwischt, was daran zu erkennen war, dass die Grabsteine so verwittert waren, dass die Inschriften nur noch mühsam zu entziffern waren. Ab und zu erhaschte sie eine Jahreszahl.

      Dabei fiel Lisa noch eine Tatsache unangenehm ins Auge, die ihr ihre Großmutter nicht erzählt hatte oder hatte sie nichts davon gewusst?

      Sie verdrängte das aufkeimende Gefühl drohenden Unheils, kramte einen Stift und ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche ihrer Jeans und überschlug die Anzahl der Grabstätten, indem sie ihre eigenen Schritte abzählte.

      Lisa maß auf diese Weise die Breite und Länge der Anlage und einzelner Gräber. Sie kam auf die erschreckende Anzahl von über tausend Gräbern. Allerdings relativierte sich diese Zahl, weil sich der Zeitraum der Begräbnisse auf über achthundert Jahre erstreckte. Das machte ein bis zwei unerklärliche Todesfälle pro Jahr aus. Inzwischen war sie bei den Feldern aus dem zwanzigsten Jahrhundert angelangt.

      Plötzlich meinte sie, einen bekannten Namen erkannt zu haben und ging in die Hocke, um die Inschrift genauer zu betrachten. Sie streckte gerade die Hand aus, um die moosbedeckten Buchstaben eines Namens, der mit einem „M“ begann, freizulegen.

      „Na, wie war ich?“, hörte sie, wie aus dem Nichts, eine fröhliche Stimme hinter sich und erlitt vor Schreck fast einen Herzinfarkt. Mit heftig zitternden Knien sank sie ins hohe Gras und fiel mit ihren Oberkörper gegen den Grabstein.

      Als Lisa das Gesicht hob, erkannte sie Jonas, der über sie gebeugt da stand und sie frech angrinste. Allerdings wechselte sein Ausdruck zu ehrlicher Sorge, als er bemerkte, wie stark er sie erschreckt hatte.

      „Oh, entschuldige, das wollte ich nicht. Tut mir leid. Ich wollte die alten Leutchen nur ablenken, damit du den Mönch ausfragen konntest. Dir liegt was auf der Seele, das merke ich dir an,“ sagte er mit besorgter Stimme und hockte sich zu ihr ins hohe Gras.

      Lisa brachte nur ein kraftloses Nicken zustande und meinte müde:

      „Für heute reicht es mir. Ich bin erschöpft und will in mein Zimmer. Vielleicht erzähle ich dir die Geschichte mal, aber nicht mehr heute.“

      Sie streckte ihm ihre Hand hin, damit er ihr aufhalf und war immer noch so angeschlagen, dass sie sich bei ihm einhaken musste. Gemächlich wanderten sie ins Hotel zurück.

      Zusammen mit der Gruppe der Neuankömmlinge nahm Lisa ein frühes Abendessen ein, bei dem sie sich geduldig die Geschichten der alten Herren über ihre sportlichen Erfolge anhörte. Sie fühlte sich fast wie bei ihrer Arbeitsstelle im Seniorenheim. Lisa beobachtete, wie Jonas mit der selbsternannten Kräuterhexe und Bruder Ansgar über seltene Kräuter fachsimpelte und tauschte mit ihm einen amüsierten Blick aus. Anschließend suchte sie ihr Hotelzimmer auf. Sie schaffte es gerade noch, sich die Zähne zu putzen, bevor sie erschöpft in ihr Bett fiel und auf der Stelle einschlief.

      Überschrift 1

      11. Kapitel

      In den frühen Morgenstunden verfiel Lisa in einen unruhigen Schlaf. Sie wachte davon auf, dass ein blaues Blinklicht durch das offene Fenster sein grelles, rotierendes Licht bis auf ihre Bettdecke schickte. Sie meinte, auch das schwache Geräusch eines Martinshorns in der Ferne zu vernehmen.

      Wie von Furien gejagt sprang Lisa aus dem Bett und stolperte schlaftrunken ans Fenster. Die kühle Nachtluft belebte schlagartig ihre Sinne. Waghalsig beugte sie sich hinaus über die Brüstung und forschte in der Dämmerung nach der Ursache des Blaulichts.

      Der bläuliche Schein kam aus der Richtung, in der sie den See vermutete. Seine riesige, schwarze Fläche wirkte im bleichen Mondlicht tatsächlich wie der Höllenschlund und strahlte etwas Unheilverkündendes aus. Es waren in der Tat mehrere Blaulichter, die eine gespenstische Szenerie beleuchteten.

      Ganz schwach meinte sie in der langsam aufkommenden Morgendämmerung mehrere Fahrzeuge als kleine Punkte am Seeufer zu erkennen. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen. Polizeifahrzeuge? Feuerwehr?

      Unwillkürlich überkam Lisa ein nie gekannter Adrenalinschub. Jetzt gab es kein Halten mehr. Nichts und Niemand würde sie davon abhalten, den Dingen hier auf den Grund zu gehen.

      Flüchtig tauchte in ihrem Kopf noch der Gedanke auf, ihren neuen Bekannten Jonas, dessen Zimmer sich nur einige Meter entfernt auf dem Flur befand, zu fragen, ob er mitkommen wollte. Lisa verwarf diesen Gedanken jedoch in der gleichen Sekunde, in der er sie streifte. Nein, das war allein ihre Angelegenheit. Sie würde keinen anderen Menschen da mit hineinziehen.

      In Windeseile fuhr Lisa in ihre Jeans und streifte ein T-Shirt über. Dann raffte sie ihre Treckingschuhe zusammen und rannte mit fliegenden Haaren und bloßen Füßen, um kein lautes Getrampel zu verursachen, durch die menschenleere Hotelhalle in den Innenhof des Klosters.

      Lisa drückte die Klinke des Haupttores.

      „So ein Mist auch“, entfuhr es ihr. Es war verschlossen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut um einige Takte. „War das hier nachts etwa ein Gefängnis?“

      Mit fliegenden Händen hangelte sie sich an der Mauer entlang. Nach einigen Metern ertastete sie eine kleine Seiteneingangstür, die mit einem altmodischen