Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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eine Lösung kann sie dir nicht servieren, aber neue Perspektiven.“ Wie ein junges Mädchen eilte Minnie plötzlich zur Tür, zog die Silberkette mit dem Schlüssel unter ihrem Rollkragen hervor und verschloss das Geschäft, wozu sie sich etwas runterbeugen musste. Wie gewohnt hatte man bei solchen Gelegenheiten einen freien Blick auf den Ansatz ihres blanken Hinterteils, da sich der Pulli hochschob und der Rock in die entgegengesetzte Richtung abdriftete. Nicht zum ersten Mal stellte sich Annie die Frage, ob es Minnie mit der Unterwäsche hielt wie die Schotten … ein Gedanke, den sie jedoch sofort vergaß, weil sie energisch an die Hand genommen und in Richtung Seitenstraße gezogen wurde. „Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen.“

      „Bist du verrückt?“ Annie riss sich von Minnie los. „Ich will nicht zu dieser Frau.“

      „Und ob du willst!“ Minnie stemmte die Hände in die Hüften. „Es sei denn, du kannst allein damit fertig werden, dass dein feiner Roger am Tag des Bolster-Festivals heiratet.“

      Annie starrte Minnie an. „Was … was sagst du da?“, stammelte sie den Tränen nahe. Die beiden waren erst seit einigen Monaten zusammen und nun wollte er diese Kuh sogar heiraten?

      „Tut mir leid, dass ich mit der Tür ins Haus falle.“ Minnie wirkte nicht, als würde sie das schlechte Gewissen zerfressen. „Aber du kennst mich. Ich fackle nicht lange herum.“

      „Nein, besonders sanft bist du tatsächlich nicht.“ Das durfte nicht wahr sein! Roger wollte tatsächlich heiraten? Etwas, das sich Annie immer für sich selbst gewünscht hatte. „Woher weißt du das? Von … von Jeremy?“ War er deswegen so hektisch geworden? Weil er Roger und Trish erwartet hatte?

      „Der kleine Hosenscheißer hatte Angst davor, es dir zu erzählen. Allerdings wollten wir, dass du es von uns erfährst. Umso dringender brauchst du jetzt psychologischen Beistand. Wir können unmöglich dabei zusehen, wie du langsam vor die Hunde gehst. Und nun komm. Rose schließt gleich.“

      „Diese Frau ist keine Psychologin, ganz im Gegenteil“, schnaubte Annie. „Wenn du mich fragst, hat Rose selbst eine nötig.“

      „Dich fragt aber keiner! Hat der saubere Roger auch nicht getan, bevor er mit Trish ins Bett gehüpft ist.“ Minnie nahm ihr das Shortbread aus der Hand, bevor sie Annie wieder an die Kandare nahm, die sich diesmal widerstandslos mitziehen ließ, weil alles in ihr erlahmte. Nur ein Gedanke beherrschte sie und raubte ihr beinahe die Sinne: Roger wollte heiraten! Wie konnte er ihr das antun? Als hätte es die gemeinsame Zeit nie gegeben, legte er sie ab wie einen gebrauchten Mantel, den man möglichst schnell mit einem neuen austauschte. Bei Todesfällen nahm man doch auch nicht sofort den Nächstbesten, sondern ließ aus Anstand etwas Zeit verstreichen! Den schien ihr Ex jedoch nicht zu haben. Oder gab es einen triftigen Grund für die schnelle Hochzeit? War Trish womöglich … schwanger?

      ♥

      Kaum hatte Jack vor der Villa geparkt, sprang Leni aus dem Auto und blickte sich um. Natürlich mit dem Handy in der Hand.

      „Das ist der Hammer, Dad. Schau dir bloß die Aussicht an! Ein Traum, oder?“ Ihre großen Ohrringe klimperten wie die vielen Armbänder, die sie neuerdings trug.

      Jack verschloss den Geländewagen, der tatsächlich über allerhand Technik verfügte. Sogar mit einem Navi war er ausgestattet. Leider auch mit einem dieser Duftbäumchen. Der künstliche Geruch hatte sich förmlich in seine Nase gebrannt. Sein armer Laptop auf dem Rücksitz würde vermutlich tagelang danach stinken.

      „Es ist umwerfend“, schwärmte Leni munter weiter, während er an ihre Seite trat.

      Sie hatten einen freien Blick auf St. Agnes und das aufgewühlte Meer. Selbst von hier oben konnte man die Gischt sehen, wenn die Wellen gegen Felsen brandeten. Unten an der Bucht spazierten einige Menschen am Strand entlang. Gelbe Kajaks reihten sich nahe dem Wasser auf, umringt von Leuten in Neoprenanzügen. Zwei von ihnen lösten sich aus der Gruppe und marschierten auf das Beach Café zu, dessen Name Jack entfallen war. Da dieses Grundstück jedoch nicht zum Verkauf stand, konnte er das durchaus verschmerzen. Anders verhielt es sich mit einem alten Zinnwerk und vor allem mit dem Geschäftshaus am Fuße der Küstenstraße, bei dem er kurz angehalten hatte. Wie sich bei der Recherche herausgestellt hatte, gehörte es beinahe der Bank und wirkte in Natura noch baufälliger als auf den Bildern. Ein großer Verlust würde dieser Schandfleck nicht sein. Insofern dürfte es ein Spaziergang werden, die Verantwortlichen auf seine Seite zu ziehen. Notfalls mit Schmiergeldern, die in jeder Branche ein gern gesehenes Zahlungsmittel waren … sogar in Banken. Danach erhöhte diese den Druck auf die Schuldner, denen irgendwann die Luft ausging. So zumindest hatte es ihm der Vater eingebläut.

      Zufrieden atmete Jack tief ein und wischte sich über die feuchte Stirn. Für Ende April war es ziemlich warm. Bedingt durch den Golfstrom herrschte in Cornwall mildes Atlantikklima vor, wodurch die Gegend für britische Verhältnisse vergleichsweise sonnenverwöhnt war. Sogar Keulenlilien und kanarische Dattelpalmen hatte er bei der Herfahrt gesehen, die viele Gärten oder Parkanlagen schmückten. „Nicht übel“, ließ er verlauten und erspähte weiter unten an einer Kurve den Möbelwagen, der ihnen kurz vor der Villa untergekommen war.

      „Nicht übel?“ Leni blickte ihn an, als wäre sie über seine Aussage enttäuscht, bevor sie sich zur Villa umdrehte. Jack tat es ihr nach und ließ den Bau auf sich wirken. Hier an der Küste schienen viele ein Faible für Weiß zu haben, doch da die Villa ohnehin in einigen Wochen nicht mehr stehen würde, tangierte ihn das nicht weiter. Um die verschnörkelten Säulen war es zwar schade, aber wo gehobelt wurde fielen Späne. So würde auch die großzügige Veranda mit der Rattan-Sitzecke weichen müssen, die Jack an einige Südstaaten-Filme erinnerte, die seine Großmutter früher gerne geschaut hatte.

      „Kaufst du das Haus, Dad?“

      „Das habe ich vor, ja.“

      „Darf ich es mir ansehen?“

      „Dazu sind wir hier. Also, lass uns Mister Winter suchen.“

      Knapp vor der grün getünchten Tür eilte ihnen ein älterer Herr entgegen, der von der Rückseite der Villa kam. Er trug eine blaue Cordhose, ausgetretene Filzschuhe, ein kariertes Hemd und einen Strohhut. Nachdem er sich als Mister Winter vorgestellt hatte, vertieften sich er und Jack in das Verkaufsgespräch, wobei ihn der alte Herr mit Leni im Schlepptau durch die einzelnen Räume führte. Dabei tat Jack interessiert, da Mister Winter jede noch so unscheinbare Kleinigkeit in den Mittelpunkt rückte. Das war ein klares Indiz dafür, dass er sich mit dem Verkauf schwertat. Deshalb musste Jack Anerkennung heucheln, worin er einer der Besten war. Gelernt war eben gelernt.

      „Über vierzig Jahre lang habe ich hier mit meiner Frau gelebt“, erzählte Mister Winter, als sie über die breite geschwungene Treppe zum Erdgeschoss hinuntergingen, das mit Schachbrettfliesen ausgelegt war. Möbeltechnisch war das Haus beinahe ausgeräumt. Nur die Küche war vollwertig ausgestattet, in zwei Schlafzimmern standen Betten und im Wohnzimmer ein rotes Sofa. „Aber nach ihrem Tod erinnert mich zu viel an sie.“ Jack fasste nach dem Geländer und dachte an Carol. „Wissen Sie, ich habe Beth sehr geliebt.“

      „Ich bedauere Ihren Verlust, Mister Winter.“

      Der alte Mann blieb unten am Treppenabsatz stehen. Auch Jack und Leni hielten ein.

      „Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Sie ehrlich sind“, sagte Mister Winter.

      „Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.“ Jacks unangenehmes Gefühl verstärkte sich.

      „Doch, die haben Sie.“

      „Tut mir leid, Sie sprechen in Rätseln.“

      „Dagegen sind Sie wie ein offenes Buch für mich. Meine alten Geschichten interessieren Sie nicht die Bohne, habe ich recht?“ Der alte Mann schien die Beobachtungsgabe eines Luchses zu haben. Dabei hatte Jack gedacht, dass er leichtes Spiel hätte. „Nun, junger Mann, soll ich Ihnen alles aus der Nase ziehen? Oder warten wir darauf, dass sie wie bei Pinocchio wächst?“ Als hätte er Jack gerade ein Lob ausgesprochen, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Sein unter dem Hut hervorquellendes Haar glänzte silbern im hereinfallenden