Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes


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oder süßes Gebäck, auch Pasteten und anderes hatte die Bäckerei im Angebot. Annie lauschte dem Geplauder der Kunden, die über das Wetter oder das bevorstehende Bolster-Festival sprachen und sich mit Kuchen sowie Lamm-Minze-Wurstrollen eindeckten. Als sie an der Reihe war, kaufte sie einen Laib Brot, vier Butterbrötchen und nahm sich trotz gähnender Leere in ihrer Geldbörse ein Caramel-Shortbread mit. Etwas Nervennahrung konnte nicht schaden.

      Als sie wieder ins Freie trat, schob sie die Einkäufe in ihre Tasche und biss vom Shortbread. Ohne irgendein Ziel ging sie weiter. St. Agnes war schon belebter gewesen, doch in spätestens einem Monat würden wieder Touristen über den Ort herfallen. Im Augenblick war es ihr nur recht, dass sie kaum jemandem begegnete – nicht einmal Einheimischen – weil sie weder Lust zum Grüßen noch zum Reden hatte.

      Sehnsüchtig warf Annie einen Blick zum Beauty-Salon auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Noch nie hatte sie das Geschäft von innen gesehen und konnte sich lebhaft vorstellen, wie gut eine Auszeit im Salon tun würde. Auch das erlesene Antiquitäten-Geschäft vom alten Harold nahe dem Gemeindezentrum hatte sie bisher nur aufgesucht, weil er zur Clique gehörte, denn bei seinen Preisen vibrierten ihre Ohren.

      Minnie war da um einiges günstiger mit ihrem Souvenirgeschäft. Ihr Mann Duncan war vor kurzem pensioniert worden und froh darüber, seinen langweiligen Job als Elektriker an den Nagel hängen zu können. Zeit seines Lebens hatte er ohnehin von einer Musikkarriere geträumt. Nun trat er manchmal mit seiner Gitarre in der Aloha-Bar auf. Früher war Annie mit Josie und später mit Roger oft dort gewesen wie auch im Taphouse, einer Après-Sea-Bar. Sie liebte die Atmosphäre und die Live-Bands, die dort spielten. Aber seitdem Josie weggezogen und es mit Roger aus war, hatte sie die Lokale nur sporadisch besucht. Es hingen zu viele Erinnerungen daran. Auch jetzt versetzte ihr der Gedanke an ihren Ex einen heftigen Stich.

      Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Im Chiverton-Park hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, auf der Trevaunance-Road gestand er ihr seine Liebe, in der Trelawny-Road war er zuhause und … vor dem alten Schulhaus hatte sie ihn knutschend mit dieser Hexe Trish erwischt. Dort endete ihre Liebesgeschichte schließlich, weil Annie an Ort und Stelle mit ihm Schluss gemacht hatte. Seitdem begegnete sie ihm und Trish in der Pizzeria oder vor dem veganen Geschäft, in dem er stets einkaufte, da Roger äußerst gesundheitsbewusst lebte. Auch beim Driftwood war sie vor ihm und Trish nicht sicher gewesen, ebenso vor dem St. Agnes Hotel, beim Barber-Shop, dem Cuckoo Café, beim Blumenladen oder wie zuletzt bei Churchtown Arts … das war kurz vor Weihnachten gewesen. Sie hatte für ihren Vater nach einem Geschenk gesucht – Roger wollte eins für Trish kaufen, was er ihr natürlich brühwarm erzählen musste! Doch das Schlimmste war, dass Annie die beiden am Silvestertag im Chiverton-Park gesehen hatte. Hand in Hand waren sie völlig versunken an ihr vorbeispaziert. Der Schmerz war kaum auszuhalten gewesen.

      „Annie, Kleines, huhu!“ Minnie stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihrem Souvenir-Geschäft und winkte ihr fröhlich zu. Wie üblich trug sie einen altmodischen Faltenrock mit Schottenmuster und einen ihrer legendären Rollkragenpullover, in die sie sich vermutlich täglich hineinschoss, so eng saßen die Teile. Das brachte ihre ohnehin große Oberweite noch mehr zur Geltung, von den üppigen Rundungen ganz zu schweigen. Abgesehen von ihrem etwas eigenartigen Modegeschmack und der Tatsache, dass sie sich bei jedem Verkauf verrechnete – natürlich zu ihrem Vorteil – war Minnie eine warmherzige und liebenswürdige Frau.

      „Hallo, Minnie“, grüßte Annie über die Straße hinweg und beschleunigte ihre Schritte. So gern sie Minnie hatte, an ihrer Lustlosigkeit auf ein Gespräch hatte sich in den letzten Minuten nichts geändert.

      „Willst du nicht rüberkommen?“

      „Keine Zeit“, rief Annie zurück.

      „Tatsächlich?“, schmetterte Minnies Stimme über die Straße herüber. „Ich dachte, du bist deinen Job los. Zumindest einen von zwei.“

      Peinlich berührt schaute sich Annie um, bevor sie die Straße überquerte. Dabei wickelte sie ihr angebissenes Shortbread in das Papier. „Geht es noch lauter? Und woher verdammt weißt du davon?“, zischte sie, als sie vor Minnie stand.

      „Die Wege des Herrn sind unergründlich.“

      „Jeremy?“, entsetzte sich Annie und ein Blick in Minnies Gesicht genügte, um Gewissheit zu haben. „Er hat ein Beichtgeheimnis ausgeplaudert!“

      „Warst du denn beichten?“, hakte Minnie spitz nach.

      „Das nicht gerade … oh, diese alte Tratschtante!“

      „Sei ihm nicht böse“, bat Minnie. „Als er mich vorhin anrief und eine neue Schlafmaske bestellte, habe ich sofort gemerkt, dass es ihm nicht gut geht. Du kennst ihn ja. Jeremy trägt das Herz auf der Zunge. Aber er meint es nur gut und macht sich Sorgen um dich, so wie wir alle.“ Prüfend taxierte sie Annie von oben nach unten. „Du solltest übrigens auf süße Leckereien verzichten.“

      Genau das hatte Annie noch gebraucht. Vor allem nicht in Anbetracht dessen, dass Trish eine sportliche Frau war mit einer Figur, auf die jedes Mannequin neidisch gewesen wäre.

      „Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, Mädchen. Du bist hübsch wie eh. Allerdings sieht man dir die Sorgen an. Geht es deinem Vater noch immer nicht besser?“

      Mittlerweile hasste Annie diese Fragen. „Erkundige dich bei Jeremy. Der kann dir sicher eine Antwort darauf geben.“

      „Ich möchte sie aber von dir hören.“ Minnie hob die Hände, wie es Annies Onkel beim Predigen oft tat. „Verflucht, habe ich zu Jeremy gesagt, Joseph braucht eine Aufgabe.“ Sie schüttelte den grau melierten Kopf und strich sich über die hochroten Wangen. Minnie hatte ein grobschlächtiges Gesicht und war in armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine Farm im Hinterland betrieben, allerdings hatte Minnie seit ihrer Hochzeit mit Duncan weder zu ihnen noch zu den Geschwistern Kontakt gehabt. Inzwischen waren die Eltern verstorben, doch das hatte nichts am schlechten Verhältnis zu den Geschwistern geändert. „Duncan und Harold sind übrigens derselben Meinung.“

      „Ich wüsste nicht, was Vater dazu bewegen könnte, sich gebraucht zu fühlen.“

      „Deine Mutter vielleicht?“ In ihrem Blick lag ein seltsamer Ausdruck.

      „Hat dich Jeremy angesteckt?“, machte Annie ihrem Unmut Luft.

      „Ich lasse mich von niemand beeinflussen, so gut solltest du mich kennen. Da ich aber Marys beste Freundin bin, mache ich mir meine eigenen Gedanken. Insofern bitte ich dich inständig, nicht so hart mit ihr ins Gericht zu gehen. Wir machen alle Fehler.“

      „Und schubsen andere damit in den Abgrund?“

      „Dein Vater ist alt genug. Niemand hat ihn gezwungen, zur Flasche zu greifen.“

      „Mag sein, dennoch war es egoistisch von ihr, ihn auf diese Weise zu verlassen. Noch dazu hat sie ihn betrogen!“, wurde Annie lauter, weil sie allmählich das Gefühl hatte, sich ständig verteidigen zu müssen. Davon abgesehen fand sie es ungerecht, dass sich offensichtlich jeder hinter die Mutter stellte. Ganz unrecht hatte ihr Dad demnach nicht gehabt. „Das ist unterste Schublade, gemein, hinterhältig und feige. Verlogen und niederträchtig!“

      „Sprechen wir noch über deine Mutter oder bereits von Roger?“

      Annie fühlte sich ertappt. „Der Typ kann mir gestohlen bleiben. Ebenso wie Mom.“

      „Du musst endlich abschließen. Mit allem.“ Minnie trat einen Schritt näher und beugte sich verschwörerisch zu ihr, nachdem sie sich wie ein Cop umgesehen hatte, der einen Angriff aus dem Hinterhalt befürchtete. „Auch ich musste auf die harte Tour lernen, dass man gewisse Dinge im Leben nicht ändern kann. Rose hat mir sehr dabei geholfen. Geh zu ihr, sie könnte bestimmt dasselbe für dich tun.“

      „Du meinst hoffentlich nicht Hokuspokus-Rose?“

      Eifrig nickte Minnie. „Rose sieht Dinge, dass einem ganz anders wird und bisher ist alles eingetroffen. Probier es aus, danach kannst du immer noch lästern.“

      Annie winkte ab und schaute zur Seitenstraße.